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Bärbel faßt einen Plan

Durch das Gewitter im Harlaer Talkessel wurde es tags darauf kühl. Der Himmel zeigte ein unfreundliches Gesicht. In kurzen Abständen regnete es, und die Wolken, die der Wind während der Nacht in Täler und Schluchten versprengt hatte, schienen aus den Bergen nicht mehr herauszufinden. Ihre grauen Schwaden hingen noch am Nachmittag in den höher gelegenen Teilen der Wälder schwer hernieder.

Bärbel gehörte an diesem Tage zu den unaufmerksamsten Schülerinnen, und wäre es nicht gerade der erste Unterricht nach den großen Ferien gewesen, hätte sich ihr Lehrer noch mehr gewundert. Sie schämte sich selber ein wenig, als sie zwei höchst einfache Antworten schuldig blieb, gab sich immer wieder von neuem Mühe hinzuhören, aber ihre Gedanken wollten nicht gehorchen.

Wie mochte es Gerhard gehen? Ob er von ihr erzählt hatte? Glücklicherweise wußte er nur, daß sie Bärbel hieß. – So bleich hatte er ausgesehen, als ihn die beiden Grenzer ins Haus führten. Vielleicht war es in der Nacht schlimmer geworden mit ihm?

Zunächst wollte sie daheim alles erzählen. Doch der Vater kam erst spät nach Hause. Sie lag schon im Bett, wenn sie sich auch vergeblich mühte einzuschlafen. Wie damals war es, als Likasch sie nach Harla geschickt hatte, genau so träge flossen die Stunden dahin, genau so unruhig wälzte sie sich auf ihrem Lager. Am andern Morgen blieb keine Zeit übrig zum Erzählen. Der Vater und Bärbel brachen zur gleichen Minute auf, nur führte ihn der Weg zur Arbeit in den Wald und sie hinunter nach Lomnau zur Schule.

Auf diesem Gang überlegte sie sich, ob es nicht besser wäre, zu schweigen. Schließlich erfuhr Likasch von dem Jungen des Grenzers und machte den Vater erst zornig. Dann beobachtete er sie vielleicht heimlich, wohin sie ging, der Likasch. Sie traute es ihm zu.

Was sie getan hatte, war recht. Wenn es wieder geschähe, würde sie wieder so handeln, das stand bei ihr fest. Was ging der Likasch sie an mit seinem Haß auf die Grenzer!

Dann dachte Bärbel wieder an den Vater. Was würde er dazu sagen? Sie hatte längst gemerkt, daß er mehr und mehr unter Likaschs Einfluß geriet. Auch er wollte von den Grenzern nichts wissen, und sein Verbot neulich war deutlich genug. Was sollte sie nun tun? Den ganzen Vormittag grübelte sie. Wäre es nicht schön, einfach nach den Zollhäusern zu wandern und zu fragen: »Wie geht es dem Gerhard? Ich heiße Bärbel Elsner und habe ihn gestern hierher gebracht.« Aber so aufs Geratewohl ließ es sich eben nicht bewerkstelligen, obschon sie sich auf alle Fälle Gewißheit verschaffen wollte, wie es Gerhard ging. An jeden einzelnen Augenblick wußte sie sich zu erinnern, an jedes Wort, das er zuerst mühsam, dann allmählich zusammenhängender gesprochen, an jede Stelle, wo er mit ihr ausgeruht hatte. Manchmal überkam sie sekundenlang eine Unruhe, eine Angst; kein Wunder, daß sie mit ihren Rechenbeispielen zurückblieb.

Während der vorletzten Pause sah sie hinter dem Schulhaus jemanden im Garten des Lehrers arbeiten. Es war eine Frau. Sie trug ein helles Kopftuch und stand gebückt vor einem Blumenbeet. Als sie sich kurz darauf umwandte, merkte Bärbel zu ihrer Überraschung, daß es die Lehrersfrau selber war, die ihr zuwinkte.

»Du hast mich wohl gar nicht erkannt in meiner alten Gartenkluft?« rief ihr Frau Kammler entgegen. Bärbel mußte es zugeben. Ein sonderlicher Gedanke kam ihr dabei. Sie behielt ihn vorläufig für sich, beschäftigte sich jedoch die nächste Stunde – es war eine Turnstunde im Freien draußen – immer mehr mit ihrem Einfall, bis sie sich ein Herz faßte und während der letzten Pause in der Lehrerswohnung, die dem Klassenzimmer gegenüberlag, läutete. Sie tat es aber erst, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Lehrer draußen auf dem Schulhof den großen Jungen zuschaute, wie sie die einzelnen Turngeräte wegschafften. Es sah nämlich aus, als ob der Himmel bald wieder Regen schicken würde. Schon während der Turnstunde waren vereinzelte Tropfen gefallen.

Frau Kammler öffnete. Hinter ihr kam sogleich Ernstelmann angerannt. »Bärbel – Zucker!« rief er, als er merkte, wer draußen stand.

»Was bringst du Schönes?« fragte die junge Frau.

Bärbel trat leise näher. Sie traute sich nicht recht, ihr Anliegen vorzubringen, bis Frau Kammler sie dann doch soweit brachte.

Bild: Rolf Winkler

»Eine Bluse willst du geborgt haben und einen Rock?«

»Ja, das alte Zeug, was Sie vorhin im Garten anhatten.«

»Das ist sehr schmutzig. Du kannst etwas anderes bekommen. Passen wird es wohl, bist ja schon fast so groß wie ich.«

»Ich möchte aber gerade das alte«, beharrte Bärbel.

Da werde einer klug aus dem Mädel. Ein wenig neugierig geworden, fragte die Lehrersfrau, was Bärbel damit anfangen wolle.

»Ich sage es Ihnen später«, entgegnete das Mädchen. »Und den Sachen geschieht nichts, ich sehe mich vor.«

»Um die Kluft ist es nicht schade, Bärbel. Mein Mann schimpft ohnehin, wenn ich sie anziehe, aber für die Gartenarbeit mag sie gut sein. Du darfst das Zeug sogar behalten, wenn du willst.«

»Ich brauche es bloß heute«, erwiderte Bärbel. Gern würde sie der jungen Frau erklärt haben, wozu sie die Sachen benötigte, nur konnte jeden Augenblick der Lehrer hereinkommen, und mit ein paar Worten ließ es sich schlecht darlegen. Überhaupt wäre es ihr leichter geworden, wenn sie hätte Frau Kammler fragen können, wie sie sich eigentlich verhalten sollte. Doch dann hätte sie zuviel vom Likasch und vom Vater erzählen müssen. Nein, nein, um keinen Preis wollte sie es tun. Vielleicht würde Frau Kammler obendrein häßlich von ihrem Vater denken, den sie kürzlich erst grüßen ließ. Bärbel sah es ein, daß ihr niemand helfen konnte. Es wurde ihr weh ums Herz, als sie an die anderen Kinder dachte, die sicher jemanden hatten, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Nur sie war immer allein. Bärbel spürte es deutlicher als je zuvor, daß ihr jemand fehlte, auch wenn sie dem Gedanken nicht weiter nachging.

»Du bist heute so merkwürdig«, meinte Frau Kammler, als sie Bärbel das Päckchen mit dem Rock und der Bluse gab. »Fehlt dir etwas?«

»Nein. – Vielen Dank fürs Borgen!«

»Ich sagte dir doch, daß du's behalten darfst, wenn du magst. Willst du auch das Kopftuch?«

»Ein Kopftuch hab' ich selber, von der Mutter noch, ein gutes sogar.«

»Das wird kaum zu den alten Sachen passen«, meinte Frau Kammler bedenklich.

»Es paßt bestimmt«, erwiderte Bärbel und trug das kleine Paket schleunigst hinüber ins Klassenzimmer, wo sie es unter ihrer Bank verstaute. Es sollte nicht erst jemand danach fragen. Draußen klatschte der Lehrer in die Hände zum Zeichen, daß die Pause zu Ende war. Jungens und Mädels stürmten herein. Die letzte Stunde begann.


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