Wilhelm Hauff
Mitteilungen aus den Memoiren des Satan
Wilhelm Hauff

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Neunzehntes Kapitel

Geschichte des deutschen Stutzers

»Als mein Großvater, der kaiserlich-königlich –«

»Ich bitte Sie, mein Herr«, unterbrach ihn der Incroyable, »schenken Sie uns den Großpapa, und fangen Sie gleich bei Ihrem Vater an; was war er?«

»Nun ja, wenn es Ihnen so lieber ist, aber ich hätte mich gerne bei dem Glanz unserer Familie länger verweilt; mein Vater lebte in Dresden auf einem ziemlich großen Fuß –«

»Was war er denn, der Herr Papa? Sie verzeihen, wenn ich etwas zu neugierig erscheine, aber zu einer Geschichte gehört Genauigkeit.«

»Mein Vater«, fuhr der Stutzer etwas mißmutig fort, »war Kleiderfabrikant en gros –«

»Wie«, fragte der Lord, »was ist Kleiderfabrikant? Kann man in Deutschland Kleider in Fabriken machen?«

»Hol mich der Teufel, wie er schon getan!« rief der Stutzer unwillig, und stieß das Glas auf den Tisch; »das ist nicht die Art, wie man seine Biographie erzählen kann, wenn man alle Augenblicke von kritischen Untersuchungen unterbrochen wird; mein Vater hatte ein Haus am Alt-Markt, darin hatte er ein Atelier und hielt Arbeiter, welche Kleider für die Leute machten!«

»Mon dieu, also war es, was wir tailleur nennen? ein Schneider?«

»Nun in Gottes Namen! nennen Sie es, wie Sie wollen, kurz, er hatte die Welt gesehen, machte ein Haus, und wenn er auch nicht den Adel und die ersten Bürger in seinen Soirées sah, so war doch ein gewisser guter Ton, ein gewisser Anstand, ein gewisses, ich weiß nicht was, kurz es war ein ganz anständiger Mann, mein Papa.«

Mich selbst erfaßte der Lachkitzel, als ich den garçon tailleur so perorieren hörte, doch faßte ich mich, um den Marqueur nicht aus der Rolle fallen zu lassen. Der Marquis aber hatte sich zurückgelehnt und wollte sich ausschütten vor Lachen, der Engländer sah den Stutzer forschend an, unterdrückte ein Lächeln, das seiner Würde schaden konnte und trank Rum; der deutsche Baron aber fuhr fort:

»Sie hätten mich, meine Herren, auf der Oberwelt in Daumenschrauben pressen können und ich hätte meine Maske nicht vor Ihnen abgenommen. Hier ist es ein ganz anderes Ding; wer kümmert sich an diesem schlechten Ort um den ehemaligen Baron von Garnmacher? Darum verletzt mich auch Ihr Lachen nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht mir Vergnügen, Sie zu unterhalten!«

»Ah! ce noble trait!« rief der Incroyable und wischte sich die Tränen aus dem Auge, »reichen Sie mir die Hand, und lassen Sie uns Freunde bleiben. Was geht es mich an, ob Ihr Vater duc oder tailleur war. Erzählen Sie immer weiter, Sie machen es gar zu hübsch.«

»Ich genoß eine gute Erziehung, denn meine Mutter wollte mich durchaus zum Theologen machen, und weil dieser Stand in meinem Vaterland der eigentlich privilegierte Gelehrtenstand ist, so wurde mir in meinem siebenten Jahre mensa, in meinem achten amo, in meinem zehnten τύπτω, in meinem zwölften pacat eingebleut. Sie können sich denken, daß ich bei dieser ungemeinen Gelehrsamkeit keine gar angenehmen Tage hatte; ich hatte, was man einen harten Kopf nennt; das heißt, ich ging lieber aufs Feld, hörte die Vögel singen, oder sah die Fische den Fluß hinabgleiten; sprang lieber mit meinen Kameraden, als daß ich mich oben in der Dachkammer, die man zum Musensitz des künftigen Pastors eingerichtet hatte, mit meinem Bröder, Buttmann, Schröder, und wie die Schrecklichen alle heißen, die den Knaben mit harten Köpfen wie böse Geister erscheinen, abmarterte.«

»Ich hatte überdies noch einen andern Gang, der mir viele Zeit raubte; es war die von früher Jugend an mit mir aufwachsende Neigung zu schönen Mädchen. Sommers war es in meiner Dachkammer so glühend heiß, wie unter den Bleidächern des Palastes Sankt Marco in Venedig; wenn ich dann das kleine Schiebfenster öffnete, um den Kopf ein wenig in die frische Luft zu stecken, so fielen unwillkürlich meine Augen auf den schönen Garten unseres Nachbars, eines reichen Kaufmanns; dort unter den schönen Achazien auf der weichen Moosbank saß Amalie, sein Töchterlein und ihre Gespielinnen und Vertraute. Unwiderstehliche Sehnsucht riß mich hin; ich fuhr schnell in meinen Sonntagsrock, frisierte das Haar mit den Fingern zurecht und war im Flug durch die Zaunlücke bei der Königin meines Herzens.

Denn diese Charge begleitete sie in meinem Herzen im vollsten Sinne des Wortes. Ich hatte in meinem eilften Jahre den größten Teil der Ritter- und Räuberromane meines Vaterlandes gelesen, Werke, von deren Vortrefflichkeit man in andern Ländern keinen Begriff hat, denn die erhabenen Namen Cramer und Spieß sind nie über den Rhein oder gar den Kanal gedrungen. Und doch, wieviel höher stehen diese Bücher alle, als jene Ritter- und Räuberhistorien des Verfassers von »Waverley«, der kein anderes Verdienst hat, als auf Kosten seiner Leser recht breit zu sein. Hat der große Unbekannte solche vortreffliche Stellen wie die, welche mir noch aus den Tagen meiner Kindheit im Ohr liegen: › Mitternacht, dumpfes Grausen der Natur, Rüdengebell, Ritter Urian tritt auf.

Wem pocht nicht das Herz, wem sträubt sich nicht das Haar empor, wenn er nachts auf einer öden, verlassenen Dachkammer dieses liest; wie fühlte ich da das › Grausen der Natur!‹ und wenn der Hofhund sein Rüdengebell heulte, so war die Täuschung so vollkommen, daß sich meine Blicke ängstlich an die schlecht verriegelte Türe hefteten, denn ich glaubte nicht anders, als › Ritter Urian trete auf‹.

Was war natürlicher, als daß bei so lebhafter Einbildungskraft, auch mein Herz Feuer fing? Jede Berta, die ihrem Ritter die Feldbinde umhing, jede Ida, die sich auf den Söller begab, um dem, den Schloßberg hinabdonnernden Liebsten noch einmal mit dem Schleier zuzuwedeln, jede Agnes, Hulda usw. verwandelte sich unwillkürlich in Amalien.

Doch auch sie war diesem Tribut der Sterblichkeit unterworfen. Aus ihrer Sparbüchse nämlich wurden die Romane angeschafft. Wenn einer gelesen war, so empfing ich ihn, las ihn auch, trug ihn dann wieder in die Leihbibliothek, und suchte dort immer die Bücher heraus, welche entweder keinen Rücken mehr hatten, oder vom Lesen so fett geworden waren, daß sie mich ordentlich anglänzten. Das sind so die echten nach unserem Geschmack, dachte ich, und sicher war es ein › Rinaldo Rinaldini‹, ein › Domschütz‹, ein alter › Überall und Nirgends‹, oder sonst einer unserer Lieblinge.

Zu Hause band ich ihn dann in alte lateinische Schriften ein, denn Amalie war sehr reinlich erzogen, und hätte, wenn auch das Innere des Romans nicht immer sehr rein war, doch nie mit bloßen Fingern den fetten Glanz ihrer Lieblinge betastet. Ehrerbietig trug ich ihn dann in den Garten hinüber, und überreichte ihn; und nie empfing ich ihn zurück, ohne daß mir Amalie die schönsten Stellen mit Strickgarn oder einer Stecknadel bezeichnet hätte. So lasen und liebten wir; unsere Liebe richtete sich nach dem Vorbild, das wir gerade lasen; bald war sie zärtlich und verschämt, bald feurig und stürmisch, ja wenn Eifersuchten vorkamen, so gaben wir uns alle mögliche Mühe, einen Gegenstand, eine Ursache für unser namenloses Unglück zu ersinnen.

Mein gewöhnliches Verhältnis zu der reichen Kaufmannstochter war übrigens das eines Edelknaben von dunkler Geburt, der an dem Hof eines großen Grafen oder Fürsten lebt, eine unglückliche Leidenschaft zu der schönen Tochter des Hauses bekommt, und endlich von ihr heimliche, aber innige Gegenliebe empfängt. Und wie lebhaft wußte Amalie ihre Rolle zu geben; wie gütig, wie herablassend war sie gegen mich! wie liebte sie den schönen, ritterlichen Edelknaben, dem kein Hindernis zu schwer war, zu ihr zu gelangen, der den breiten Burggraben (die Entenpfütze in unserm Hof) durchwadet, der die Zinnen des Walles (den Gartenzaun) erstiegen, um in ihr Gartengemach (die Moosbank unter den Achazien) sich zu schleichen. Tausend Dolche (die Nägel auf dem Zaun, die meinen Beinkleidern sehr gefährlich waren) tausend Dolche lauern auf ihn, aber die Liebe führt ihn unbeschädigt zu den Füßen seiner Herrin.

Das einzige Unglück bei unserer Liebe war, daß wir eigentlich gar kein Unglück hatten. Zwar gab es hie und da Grenzstreitigkeiten zwischen dem armen Ritter, meinem Vater, und dem reichen Fürsten (dem Kaufmann), wenn nämlich eines unserer Hühner in seinen Garten hinübergeflogen war, und auf seinen Mistbeeten spazierenging; oder es kam sogar zu wirklicher Fehde, wenn der Fürst einen Herold (seinen Ladendiener) zu uns herüberschickte und um den Tribut mahnen ließ (weil mein Vater eine sehr große Rechnung in dem Kontobuch des Fürsten hatte). Aber dies alles war leider kein nötigendes Unglück für unsere Liebe, und diente nicht dazu, unsere Situationen noch romantischer zu machen.

Die einzige Folge, die aus meinem Lesen und meiner Liebe entstand, war mein hartes Unglück, immer unter den letzten meiner Klasse zu sein, und von dem alten Rektor tüchtig Schläge zu bekommen; doch auch darüber belehrte und tröstete mich meine ›Herrin‹. Sie entdeckte mir nämlich, daß des Herzogs (des Rektors) ältester Prinz um ihre Liebe gebuhlt und sie aus Liebe zu mir den Jüngling abgewiesen habe; er aber habe gewiß unsere Liebe und den Grund seiner Abweisung entdeckt und sie dem alten Vater, dem Rektor, beigebracht, der sich dafür auf eine so unwürdige Art an mir räche. Ich ließ die Gute auf ihrem Glauben, wußte aber wohl, woher die Schläge kamen; der alte Herzog wußte, daß ich die unregelmäßigen, griechischen Verba nicht lernte, und dafür bekam ich Schläge.

So war ich fünfzehn, und meine Dame vierzehn Jahre alt geworden, ungetrübt war bis jetzt der Himmel unserer Liebe gewesen, da ereigneten sich mit einem Mal zwei Unglücksfälle, wovon schon eines für sich hinreichend gewesen wäre, mich aus meinen Höhen herabzuschmettern.

Es war die Zeit, wo nach dem Frieden von Paris die Fouqéschen Romane anfingen, in meinem Vaterlande Mode zu werden . . . .«

»Was ist das, Fouquésche Romane?« fragte der Lord.

»Das sind lichtbraune, fromme Geschichten; doch durch diese Definition werden Sie nicht mehr wissen als vorher. Herr von Fouqué ist ein frommer Rittersmann, der, weil es nicht mehr an der Zeit ist, mit Schwert und Lanze zu turnieren, mit der Feder in die Schranken reitet, und kämpft, wie der gewaltigen Währinger einer. Er hat das ein wenig rohe und gemeine Mittelalter modernisiert, oder vielmehr unsere heutige modische Welt in einigen frommen Mystizismus einbalsamiert, und um fünfhundert Jahre zurückgeschoben. Da schmeckt nun alles ganz süßlich und sieht recht anmutig, lichtdunkel aus; die Ritter, von denen man vorher nichts anders wußte, als sie seien derbe Landjunker gewesen, die sich aus Religion und feiner Sitte so wenig machten, als der Großtürke aus dem sechsten Gebot, treten hier mit einer bezaubernden Courtoisie auf, sprechen in feinen Redensarten, sind hauptsächlich fromm und kreuzgläubig.

Die Damen sind moderne Schwärmerinnen, nur keuscher, reiner, mit steifen Kragen angetan, und überhaupt etwas ritterlich aufgeputzt. Selbst die edlen Rosse sind glänzender als heutzutage und haben ordentlich Verstand, wie auch die Wolfshunde und andere solche Getiere.«

»Mon dieu! solchen Unsinn liest man in Deutschland?« rief der Franzose und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen.

»O ja, meine Herren, man liest und bewundert; es gab eine Zeit bei uns, wo wir davon zurückgekommen waren, alles an fremden Nationen zu bewundern; da wir nun, auf unsere eigenen Herrlichkeiten beschränkt, nichts an uns fanden, das wir bewundern konnten, als die tempi passati – so warfen wir uns mit unserem gewöhnlichen Nachahmungseifer auf diese und wurden allesamt altdeutsch.

Mancher hatte aber nicht Phantasie genug, um sich ganz in jene herrliche vergangene Zeiten hineinzudenken, man fühlte allgemein das Bedürfnis von Handbüchern, die, wie Modejournale neuerer Zeit, über Sitten und Gebräuche bei unseren Vorfahren uns belehrt hätten, da trat jener fromme Ritter auf, ein zweiter Orpheus, griff er in die Saiten und es entstand ein neu Geschlecht; die Mädchen, die bei den französischen Garnisonen etwas frivol geworden waren, wurden sittige, keusche, fromme Fräulein, die jungen Herren zogen die modischen Fracks aus, ließen Haar und Bart wachsen, an die Hemder eine halbe Elle Leinwand setzen, und ›Kleider machen Leute‹ sagt ein Sprichwort, probatum est, auch sie waren tugendlich, tapfer und fromm.«

»God damn! Sie haben recht, ich habe solche Figuren gesehen«, unterbrach ihn der Engländer, »vor acht Jahren machte ich die große Tour und kam auch nach der Schweiz. Am Vierwaldstätter See ließ ich mir den Ort zeigen, wo die Schweizer ihre Republiken gestiftet haben. Ich traf auf der Wiese eine Gesellschaft, die wunderlich, halb modern, halb aus den Garderoben früherer Jahrhunderte sich gekleidet zu haben schien. Fünf bis sechs junge Männer saßen und standen auf der Wiese und blickten mit glänzenden Augen über den See hin. Sie hatten wunderbare Mützen auf dem Kopf, die fast anzusehen waren wie Pfannkuchen. Lange wallende Haare fielen in malerischer Unordnung auf den Rücken und die Schultern; den Hals trugen sie frei und hatten breite, zierlich gestickte Kragen, wie heutzutage die Damen tragen, herausgelegt.

Ein Rock, der offenbar von einem heutigen Meister, aber nach antiker Form gemacht war, kleidete sie nicht übel; er schloß sich eng um den Leib und zeigte überall den schönen Wuchs der jungen Männer. In sonderbarem Kontrast damit standen weite Pluderhosen von grober Leinwand. Aus ihren Röcken sahen drohende Dolchgriffe hervor, und in der Hand trugen sie Beilstöcke, ungefähr wie die römischen Liktoren. Gar nicht recht wollte aber zu diesem Kostüm passen, daß sie Brillen auf der Nase hatten und gewaltig Tabak rauchten.

Ich fragte meinen Führer, was das für eine sonderbare Armatur und Uniform wäre, und ob sie vielleicht eine Besatzung der Grütli-Wiese vorstellen sollten? Er aber belehrte mich, daß es fahrende Schüler aus Deutschland wären. Unwillkürlich drängte sich mir der Gedanke an den fahrenden Ritter Don Quijote auf, ich stieg lachend in meinen Kahn und pries mein Glück, auf einem Platz, der durch die erhabenen Erinnerungen, die er erweckt, nur zu leicht zu träumerischen Vergleichungen führt, eine so groteske Erscheinung aus dem Leben gehabt zu haben. Die jungen Deutschen söhnten mich aber wieder mit sich aus, denn als mein Kahn über den See hingleitete, erhoben sie einen vierstimmigen Gesang in so erhabener Melodie, mit so würdigen, ergreifenden Wendungen, daß ich ihnen in Gedanken das Vorurteil abbat, welches ihr Kostüm in mir erweckt hatte.«

»Nun ja, da haben wir's«, fuhr der Baron von Garnmacher fort, »so sah es damals unter alt und jung in Deutschland aus; auch ich hatte Fouquésche Romane gelesen, wurde ein frommer Knab, trug mich wie alle meine Kameraden altdeutsch und war meiner Herrin, der ›wunnigen Maid‹ mit einer keuschen, inniglichen Minne zugetan. Auf Amalien machte übrigens der › Zauberring‹, die › Fahrten Thiodolfs‹ etc. nicht den gewünschten Eindruck; sie verlachte die sittigen, lichtbraunen, blauäugigen Damen, besonders die Bertha von Lichtenrieth, und pries mir Lafontaine und Langbein, schlüpfrige Geschichten, welche ihr eine ihrer Freundinnen zugesteckt hatte.

Ich war zu erfüllt von dem deutschen Wesen, das in mir aufging, als daß ich ihr Gehör gegeben hätte, aber der lüsterne Brennstoff jener Romane brannte fort in dem Mädchen, das sich, weil sie für ihr Alter schon ziemlich groß war, für eine angehende Jungfrau hielt, und kurz – es gab eine Josephsszene zwischen uns; ich hüllte mich in meinen altdeutschen Rock und meine Fouquésche Tugend ein und floh vor den Lockungen der Sirene, wie mein Held Thiodolf vor der herrlichen Zoe.

Die Folge davon war, daß sie mich als einen Unwürdigen verachtete, und dem Prinzen, des Rektors Sohn, ihre Liebe schenkte. Ob er mit ihr Lafontaine und Langbein studierte, weiß ich nicht zu sagen, nur so viel ist mir bekannt, daß ihn der Fürst, Amaliens Vater, einige Wochen nachher eigenhändig aus dem Garten gepeitscht hat.

Ich saß jetzt wieder auf meinem Dachkämmerlein, hatte die hebräische Bibel und die griechischen Unregelmäßigen vor mir liegen und auf ihnen meine Romane. An manchem Abend habe ich dort heiße Tränen geweint und durch die Jalousien in den Garten hinabgeschaut, denn die zuchtlose Jungfrau sollte meinen Jammer nicht erschauen, sie sollte den Kampf zwischen Haß und Liebe nicht auf meinem Antlitz lesen. Ich war fest überzeugt, daß so unglücklich wie ich, kein Mensch mehr sein könne und höchstens der unglückliche Otto von Trautwangen, als er in Frankreich mit seinem vernünftigen lichtbraunen Rößlein eine Höhle bewohnte, konnte vielleicht so kummervoll gewesen sein wie ich.

Aber das Maß meiner Leiden war nicht voll; hören Sie, wie ›aus entwölkter Höhe‹, mich ein zweiter Donner traf.

Der alte Rektor hatte seinen Schülern ein Thema zu einem Aufsatz gegeben, worin wir die Frage beantworten sollten, wen wir für den größten Mann Deutschlands halten? Es sollte sein Wert geschichtlich nachgewiesen, Gründe für und wider angegeben und überhaupt alles recht gelehrt abgemacht werden. Ich hatte, wie ich Ihnen schon bemerkt habe, meine Herren, immer einen harten Kopf, und Aufsätze mit Gründen waren mir von jeher zuwider gewesen, ich hatte also auch immer mittelmäßige oder schlechte Arbeit geliefert. Aber für diese Arbeit war ich ganz begeistert, ich fühlte eine hohe Freude in mir, meine Gedanken über die großen Männer meines Vaterlandes zu sagen und meine Ideale (und wer hat in diesen Jahren nicht solche) in gehöriges Licht setzen zu können.

Geschichtlich sollte das Ding abgefaßt werden? was war leichter für mich als dies; jetzt erst fühlte ich den Nutzen meines eifrigen Lesens; wo war einer, der so viele Geschichten gelesen hatte als ich? Und wer, der irgendeinmal diese Bücher der Geschichten in die Hand nahm, wer konnte in Zweifel sein, wer die größten Männer meines Vaterlandes seien? Zwar war ich noch nicht ganz mit mir selbst im reinen, wem ich die Krone zuerkennen sollte; Hasper a Spada? es ist wahr, es war ein Tapferer, der Schrecken seiner Feinde, die Liebe seiner Freunde; aber, wie die Geschichte sagt, war er sehr stark dem Trinken ergeben und dies war doch schon eine Schlacke in seinem fürtrefflichen Charakter; Adolph der Kühne, Raugraf von Dassel? Er hat schon etwas mehr von einem großen Mann; wie schrecklich züchtigt er die Pfaffen! Wenn er nur nicht in der Historie nach Rom wandeln und Buße tun müßte, aber dies schwächt doch sein majestätisches Bild. Es ist wahr, Otto von Trautwangen glänzt als ein Stern erster Größe in der deutschen Geschichte, dachte ich weiter, aber auch er scheint doch nicht der größte gewesen zu sein, wiewohl seine Frömmigkeit, die sehr in Anschlag zu bringen ist, jeden Zauber überwand.

Island gehörte wohl auch zum deutschen Reich, wahrhaftig unter allen deutschen Helden ist doch keiner, der dem Thiodolf das Wasser reicht. Stark wie Simson, ohne Falsch wie eine Taube, fromm wie ein Lamm, im Zorn ein Berserker, es kann nicht fehlen, er ist der größte Deutsche.

Ich setzte mich hin und schrieb voll Begeisterung diese Rangordnung nieder; wohl zehnmal sprang ich auf, meine Brust war zu voll, ich konnte nicht alles sagen, die Feder, die Worte versagten mir, wohl zehnmal las ich mir mit lauter Stimme die gelungensten Stellen vor; wie erhaben lautete es, wenn ich von der Stärke des Isländers sprach, wie er einen Wolf zähmte, wie er in Konstantinopel ein Pferd nur ein wenig auf die Stirne klopfte, daß es auf der Stelle tot war, wie großmütig verschmäht er alle Belohnung, ja er schlägt einen Kaiserthron aus, um seiner Liebe treu zu bleiben, wie kindlich fromm ist er, obgleich er die christliche Religion nicht recht kannte, wie schön beschrieb ich das alles; ja! es mußte das harte Herz des alten Rektors rühren!

Ich konnte mir denken, wie er meine Arbeit mit steigendem Beifall lesen, wie er morgens in die Klasse kommen würde, um unsere Aufsätze zu zensieren; dann sendet er gewiß einen milden, freundlichen Blick nach dem letzten Platze, wohin er sonst nur wie ein brüllender Löwe schaute, dann liest er meine Arbeit laut vor und spricht: ›Kann man etwas Gelungeneres lesen als dies, und ratet, wer es gemacht hat? Die Letzten sollen die Ersten werden; der Stein, den die Bauleute verworfen haben, soll zum Eckstein werden; tritt hervor, mein Sohn, Garnmachere! Ich habe immer gesagt, du seiest ein bête, konnte ich ahnen, daß du mit so vielem Eifer Geschichten studierst? Nimm hin den Preis, der dir gebührt.‹

So mußte er sagen, er konnte nicht anders, ohne das schreiendste Unrecht zu tun. Eifrig schrieb ich jetzt meinen Aufsatz ins reine, und um zu zeigen, daß ich auch in den neueren Geschichten nicht unbewandert sei, sagte ich am Schluß, daß ich nach Erfindung des Pulvers den deutschen Alcibiades, und nächst ihm Hermann von Nordenschild für die größten Männer halte. Man könne ihnen den Ritter Euros, welcher nachher als Domschütz mit seinen GesellenRomane von Cramer. (Der Herausgeber) so großes Aufsehen gemacht habe, was die Tapferkeit betreffe, vielleicht an die Seite stellen, doch stehen jene beiden auf einem viel höheren Standpunkt.

Ich brachte dem Rektor triumphierend den Aufsatz und mußte ihm beinahe ins Gesicht lachen, als er mürrisch sagte: ›Er wird wieder ein schönes Geschmier haben, Garnmacher!‹

›Lesen Sie, und dann – richten Sie‹, gab ich ihm stolz zur Antwort und verließ ihn.

Wenn in Ihrem Vaterlande, Mylord, eine Preisfrage gestellt würde, über den würdigsten englischen Theologen, und es würden in einer gelehrten, mit Phrasen wohldurchspickten Antwort die Vorzüge des ›Vicar of Wakefield‹ dargetan, wer würde da nicht lachen? Wenn Sie, werter Marquis, nach der würdigsten Dame zu den Zeiten Louis XIV. gefragt würden und Sie priesen die ›Neue Heloise‹, würde man Sie nicht für einen Rasenden halten? Hören Sie, welche Torheit ich begangen hatte!

Der Samstag, an welchem man unsere Arbeiten gewöhnlich zensierte, erschien endlich. Sooft dieser Tag sonst erschienen war, war er mir immer ein Tag des Unglücks gewesen; gewöhnlich schlich ich da mit Herzklopfen zur Schule, denn ich durfte gewiß sein, wegen schlechter Arbeit getadelt, öffentlich geschmäht zu werden. Aber wieviel stolzer trat ich heute auf, ich hatte meinen besten Rock angezogen, den schönsten, feingestickten Hemdkragen angelegt, mein wallendes Haar war zierlich gescheitelt und gelockt, ich sah stattlich aus und gestand mir, ich sei auch im Äußeren des Preises nicht unwürdig, welcher mir heute zuteil werden sollte.

Der Rektor fing an, die Aufsätze zu zensieren; wie ärmliche, obskure Helden hatten sich meine Mitschüler gewählt: Hermann, Karl der Große, Kaiser Heinrich, Luther und dergleichen – er ging viele durch, immer kam er noch nicht an meine Arbeit; ja es war offenbar, meine Helden hatte er auf die Letzt aufgespart – als die besten!

Endlich ruhte er einige Augenblicke, räusperte sich und nahm ein Heft mit rosenfarber Überdecke, das meinige, zur Hand; mein Herz pochte laut vor Freude, ich fühlte, wie sich mein Mund zu einem triumphierenden Lächeln verziehen wollte, aber ich gab mir Mühe, bescheiden bei dem Lob auszusehen; der Rektor begann:

›Und nun komme ich an eine Arbeit, welche ihresgleichen nicht hat auf der Erde (earth) ich will einige Stellen daraus vorlesen:‹ er deklamierte mit ungemeinem Pathos gerade jene Kraftstellen, welche ich mit so großer Begeisterung niedergeschrieben hatte; ein schallendes Gelächter aus mehr als vierzig Kehlen unterbrach jeden Satz, und als er endlich an den Schluß gelangte, wo ich mit einer kühnen Wendung dem furchtbaren Domschützen noch einige Blümchen gestreut hatte, erscholl Bravo! Ancora! und die Tische krachten unter den beifalltrommelnden Fäusten meiner Mitschüler. Der Rektor winkte Stille und fuhr fort: ›Es wäre dies eine gelungene Satire auf die Herren Spieß und Konsorten, wenn nicht der Verfasser selbst eine Satire auf die Menschheit wäre. Es ist unser lieber Garnmacher. Tritt hervor du dedecus naturae, hieher zu mir!‹

Zitternd folgte ich dem fürchterlichen Wink. Das erste war, als ich vor ihm stand, daß er mir das rosenfarbene Heft einmal rechts und einmal links um die Ohren schlug; und jetzt donnerte eine Strafpredigt über mich herab, von der ich nur so viel verstand, daß ich ein bête war, und nicht wußte, was Geschichte sei.

Es begegnet zuweilen, daß man im Traum von einer schönen, blumigen Sonnenhöhe in einen tiefen Abgrund herabfällt; man schwindelt, indem man die unermeßlichen Höhen herabfliegt, man fühlt die unsanfte Erschütterung, wenn man am Boden zu liegen glaubt, man erwacht und sieht sich mit Staunen auf dem alten Boden wieder; die Höhe, von der man herabstürzte, ist mit all ihren Blütengärten verschwunden, ach, sie war ja nur ein Traum!

So war mir damals, als mich der Rektor aus meinem Schlummer aufschüttelte, ein tiefer Seufzer war die einzige Antwort, die ich ihm geben konnte, ich war arm wie jener Krösus, als er vor seinem Sieger Cyrus stand, auch ich hatte ja alle meine Reiche verloren!!

Ich sollte bekennen, woher ich die Romane bekommen, wer mir das Geld dazu gegeben habe; konnte, durfte ich sie, die ich einst liebte, verraten? Ich leugnete, ich hielt den ganzen Sturm des alten Mannes auf, ich stand wie Mucius Scaevola.

Der langen Rede kurzer Sinn war übrigens der, daß ich von meinem Vater ein Attestat darüber bringen müsse, daß ich das Geld zu solchen Allotriis von ihm habe, und überdies habe ich am nächsten Montag vier Tage Karzer anzutreten. Verhöhnt von meinen Mitschülern, die mir Thiodolf, deutscher Alcibiades und dergleichen nachriefen; in dumpfer Verzweiflung ging ich nach Hause. Es war gar kein Zweifel, daß mich mein Vater, wenn er diese Geschichte erfuhr, entweder sogleich totschlagen, oder wenigstens zum Schneidersjungen machen würde. Vor beidem war mir gleich bange; ich besann mich also nicht lange, band etwas Weißzeug und einige seltene Dukaten und andere Münzen, welche mir meine Paten geschenkt hatten, in ein Tuch, warf noch einen Kuß, und den letzten Blick nach des Nachbars Garten, sagte meinem Dachstübchen Lebewohl, und eine Viertelstunde nachher wanderte ich schon auf der Straße nach Berlin, wo mir ein Oheim lebte, an welchen ich mich vors erste zu wenden gedachte.

In meinem Herzen war es öde und leer, als ich so meine Straße zog; meine Ideale waren zerronnen. Sie hatten also nicht gelebt, diese tapferen, frommen, liebevollen, biederen Männer, sie hatten nicht geatmet jene lieblichen Bilder holder Frauen; jene bunte Welt voll Putz und Glanz, alle jene Stimmen, die aus fernen Jahrhunderten zu mir herübertönten, die mutigen Töne der Trompete, Rüdengebell, Waffengeklirr, Sporenklang, süße Akkorde der Laute – alles, alles dahin, alles nichts als eine löschpapierene Geschichte, im Hirn eines Poeten gehegt, in einer schmutzigen Druckpresse zur Welt gebracht!

Ich sah mich noch einmal nach der Gegend um, die ich verlassen hatte; die Sonne war gesunken, die Nebel der Elbe verhüllten das liebe Dresden, nur die Spitzen der Türme ragten vergoldet vom Abendrot über dem Dunstmeer.

So lag auch mein Träumen, mein Hoffen, Vergangenheit und Zukunft in Nebel gehüllt, nur einzelne hohe Gestalten standen hell beleuchtet wie jene Türme vor meiner Seele; wohlan! sprach ich bei mir selbst:

    O fortes, pejoraque passi
Mecum saepe viri, nunc cantu pellite curas
    Cras ingens iterabimus aequor.

Noch einmal breitete ich die Arme nach der Vaterstadt aus, da fühlte ich einen leichten Schlag auf die Schulter und wandte mich um.«

 

Der Herausgeber ist in der größten Verlegenheit; er hat bis auf den Tag, an welchem er dies schreibt, dem Verleger das Manuskript zum ersten Teil versprochen, und doch fehlt noch ein großer Teil des letzten Abschnittes; er ist noch nicht geweiht, die Messe ist schon vorüber und eine eigene über die paar Bogen lesen zu lassen, findet sich weder ein gehöriger Vorwand, noch würde das Werkchen diese bedeutende Ausgabe wert sein. Wir versparen daher die Fortsetzung des Festtages in der Hölle auf den zweiten Teil.


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