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(In zwei Ausgaben: A für Kinder, B für Erwachsene.)
»Das Wort hat der Herr Reichskanzler.«
A: »Meine Herren! Die Vorgänge auf dem Balkan haben auch während der letzten Monate die deutsche auswärtige Politik so stark beschäftigt, daß ich die Verpflichtung fühle, mich gleich zu Anfang der Haushaltsberatung darüber auszusprechen.«
B: »Das Jahr der Balkankriege war für starke Reiche von gesunder Wirtschaft und unangezweifelter Wehrkraft eine Zeit der Hochkonjunktur. So nennt der Geschäftsmann Zeiten, in denen er mit flüssigen Mitteln, unverbrauchter Kreditmöglichkeit und kräftiger Organisation seines Betriebes aus Besitzverschiebung und dadurch entstehendem neuem Bedürfnis Nutzen ziehen kann. Da dieses Jahr, das acht Staaten beträchtlichen Vorteil, sofort eingesäckelten oder, aus Hypotheken und Pfandbriefen, später münzbaren, gebracht hat, für uns ertraglos geblieben ist, muß ich immerhin, trotz aller tröstenden Erfahrung, auf ein nach Tadel schmeckendes Wort aus Ihren Reihen gefaßt sein. Um so mehr, als Sie vor wenigen Tagen, alle, mit Ausnahme einer Schar, deren Abstinenzgründe ich nicht verkenne, mir, dem allein verantwortlichen Geschäftsführer, das Vertrauen gekündigt haben; in so schroffem, barsch rügendem Ton, wie ernste Männer ihn nur wider einen wählen, den nicht ein einzelner Mißgriff, sondern die Gesamtheit seines Handelns und Unterlassens ihnen verleidet hat. Meine Aufgabe ist, Sie in den Glauben zu reden, daß dieses Jahr einer Hochkonjunktur, zu deren Ausnutzung wir uns mit ungeheuren Opfern an Individualvermögen, Menschenrecht, Bürgerfreiheit und anderem Kulturkomfort gerüstet hatten, ein Jahr gefährlichster Krisis war und wir drum froh sein müssen, es ohne allzu sichtbaren Verlust überstanden zu haben. Die Bewältigung dieser Aufgabe wird mir erleichtert, wenn ich spreche, ehe aus dem Hohen Haus eine Stimme gehört worden ist (in der ja noch ein unfreundlicher Nachhall mitschwingen könnte). Der Vorstand einer Gesellschaft, die auch nach einem Jahr üppiger, von den Konkurrenten klug ausgebeuteter Wirtschaftsgunst keine Dividende geben kann, folgt schlauer Erwägung der Menschenart, wenn er als erster Redner die Generalversammlung in die Gewißheit zu locken trachtet, daß die Bilanz eigentlich über alles Erwarten gut ist, und wenn er keimenden Zweifel, bevor der sich in Worthülsen panzert, mit der Andeutung unenthüllbarer Geschäftsgeheimnisse einschüchtert.«
A: »Die Ereignisse sind aus dem Zustande der akuten Konflikte herausgetreten, wenngleich die Folgen der weltgeschichtlichen Umwälzungen, deren Zeugen wir waren, selbstverständlich noch nicht abgeschlossen sind. Die Festlegung der albanischen Grenze im Norden und im Süden, die zeitweise Schwierigkeiten bereitete, scheint ihrem rechtzeitigen Abschluß entgegenzugehen.«
B: »Die Ereignisse, denen wir tatlos zuschauten, sind Anfänge einer Verschiebung des Rassen- und Völkerbesitzes, die ein neues Kapitel der Erdgeschichte einleiten wird. Nur Anfänge. Auf keinem Blatt der Kriegschronik ist ein endgültiges Ergebnis zu buchen. Serbien kann weder seinen makedonischen Gewinn ungeschmälert behalten noch auf einen von der Last fremden Aufsichtsrechtes freien Ausgang ins Meer verzichten. Ein Griechenland, dem im Westen die Dehnung des Epirus bis an die alten Stätten hellenischer Kultur, im Osten wichtige Inselkörper in der Aegaeis versagt bleiben, kommt nie in behagliche Ruhe. Bulgarien muß, wie andere Staatsgebilde der Tataren, zerfallen oder mindestens Teile Makedoniens erwerben, dessen Angliederung es Jahrzehntelang mit großen Opfern und Kosten vorbereitet hat. Das kleine Montenegro kann nicht ewig in seinem Karst darben. Rumänien, nach dem geschickten Vorstoß gen Südost, nicht der Hoffnung entsagen, alle seinem Stamm Angehörigen unter eine Fahne zu scharen. Und die Türkei darf sich nicht für Einrichtungen verbluten, die nur in einem viel breiteren Bezirk europäischen Bodens, als sie, einstweilen, aus dem Zusammenbruch gerettet hat, zinsbar zu machen wären. Das Provisorium, der Zustand, den Ihr Auge jetzt sieht, ist das Werk der gegen uns geeinten Mächtegruppe. Die hat zuerst chirurgisch an dem kranken Mann im Osten operiert und dann für einen Geschwürgang vorgesorgt, für eine Fistel, aus der Eiter und Verschwärungsprodukt abfließen kann. Auch wenn Ihr Ohr einander ähnelnde Vokale scharf scheidet, wissen Sie, daß ich an Albanien denke. Dem Plan, dieses Land zwischen Serben und Griechen zu teilen, das gesättigte Hellas in einen Mitbürgen der Balkanruhe zu wandeln und den Südwestslawen eine wirtschaftliche Selbständigkeit zu schaffen, die schon das Rußland des ersten Kaisers Nikolai gefürchtet hat, haben unsere Bundesgenossen, Österreich-Ungarn und Italien, sich entgegengestemmt. Italien, weil es das am Ostende der Otrantostraße liegende Küstengebiet für sich begehrt und in einem von Serben und Griechen mit Herrscherrecht bewachten Albanien die Romanisierung, das Lebenswerk des Marchese San Giuliano, nicht erfolgreich fortsetzen könnte. Österreich-Ungarn, weil es den in seiner Diplomatie übermächtigen Magyaren die Slawenflut abdeichen, also Serbien, in dem es noch immer den willenlosen Vasallen Rußlands sieht, im Territorialkäfig festhaken will und weil es glaubt, in dem unabhängigen Königreich Albanien einen Schutzwall gegen den Drang der Völker zu finden, die sich auf Habsburgs Kosten bereichern möchten. Auch vor hundert Jahren hat Österreich ja geglaubt, durch den Vertrag von Ried, den der bayerische General Wrede am 8. Oktober 1813 mit Metternichs Vertrauensmann Hruby schloß, sich eine Brustwehr gegen Preußen zu schaffen. Nach kurzer Überlegungspause haben die Leiter der Triple-Entente erkannt, welchen Vorteil die Erfüllung dieses Wunsches ihnen bescheren könne. Zwischen Italien (das von seiner Neigung in Slawensympathie nicht abgeschreckt wird und mehr als je zuvor auf ein gutes Verhältnis zu den Westmächten angewiesen ist) und Österreich wird eine neue, dritte Reibungsfläche fühlbar und Österreichs Machtstellung in der Adria von zwei Seiten gefährdet. Serbien, Griechenland, Montenegro erstarken, bleiben aber unbefriedigt und mit Stückchen von demselben Braten leicht zu ködern. Der Dreibund darf sich mit einem Scheinerfolg brüsten, der in der Farbenpracht giftiger Pilze leuchtet, und wird für das Hauptgeschäft, die Teilung der asiatischen Türkei, freundlicher gestimmt, als er sein könnte, wenn jeder Blick spürte, daß ihm nichts gelungen ist. Die Bestimmung des Fistelumfanges hat die Chirurgengemeinschaft sich freilich vorbehalten. Wie Bayern nicht, nach dem Wunsch der Unterzeichner des Vertrages von Ried, Hanau und Frankfurt umfassen durfte, so muß auch Albaniens Leib schmaler werden, als die Hebamme gehofft hatte. Den Schmerz der Enttäuschten lindert wohl die Erlaubnis, die Krone des neuen Staates einem deutschen Fürsten aufs Haupt zu setzen. Prinz Wilhelm zu Wied, Rittmeister in unserem dritten Gardeulanenregiment, hat den Mut, als Souverän in ein Land zu gehen, dessen Abgrenzung noch nicht vollendet ist, im Norden erst nach dem Lenzsturm versucht werden soll; in dem Essad Pascha, der Begünstiger serbischen Dehnungsstrebens, der stärkste Mann und überall, mit dem Höchstaufwand von zweihundertvierzig Mark, ein als zuverlässig bewährter Mörder zu dingen ist. Unseres Herzens Wünsche begleiten den tapferen Landsmann noch in den rühmlichen Irrwahn, mit seiner Hingabe der alten Heimat zu dienen. Doch wir dürfen uns nicht über die Gründe täuschen, die unsere Gegner bestimmten, Albanien, zwischen Argyrokastron und Skutari, das nächste Geschwür von Europa reifen zu lassen und den Eiterherd mit allerlei Prunkbehang zum Thron eines deutschen Fürsten auszuputzen. Wer Albanien auf die Gewinnseite des Jahresschlusses bucht, betrügt sich selbst oder will andere betrügen.«
A: »Das Einvernehmen der Großmächte ist während der monatelangen, mühevollen Arbeit, die geleistet worden ist, seit der erste Kanonenschuß auf dem Balkan abgefeuert wurde, nicht gemindert, sondern gestärkt worden. Das Verdienst daran gebührt allen Großmächten gemeinsam; und eine spätere Zeit wird vielleicht der anfänglich vielfach scharf kritisierten Londoner Botschafterkonferenz noch einmal Dank dafür wissen, daß sie bisher die solidarischen Interessen Europas zu einigen und zusammenzufassen verstanden hat. Wir werden uns auch fernerhin an der gemeinsamen Arbeit der Großmächte in demselben Geist betätigen, in dem wir es bisher getan haben. Wir haben dabei die speziellen Interessen unserer Bundesgenossen energisch und wirksam unterstützt.«
B: »Daß die Großmächte nicht eine Stunde lang über Ziel und Weg einig waren, braucht nach dem heute hier Angedeuteten, brauchte schon nach dem Erlebnis dieses Jahres nicht mehr bewiesen zu werden. Selbst der Blendschein einer Willenseinheit wurde erst möglich, seit die Gegenpartei von der Sorge befreit war, wir könnten entschlossen sein, das deutsche Schwert auf eine Wagschale zu werfen und sie dadurch zu senken. Dieser Entschluß war uns fern und wir hätten ihn keiner wichtigen Stelle vorzutäuschen vermocht. Als die Geschosse der Sieger das Heuchelsprüchlein von der Erhaltung des status quo in Fetzen gerissen hatten, zeigten wir Freunden und Feinden, daß wir um jeden Preis den Frieden wahren wollten. Seitdem war er in den Gebieten der Großmächte nicht mehr bedroht. Denn Österreich (dem wir sagen ließen, die Vertragspflicht werde von uns im Notfall erfüllt werden, ein daraus entstehender Krieg aber höchst unpopulär sein) konnte nicht allein fechten, sein Schicksal nicht an eine nur von kaltem Pflichtbewußtsein gewährte Hilfeverheißung ketten noch gar Italiens Beistand mit einer ins Grundbuch der Ostadriaküste einzutragenden Hypothek bezahlen. Und der andere Pool, die Interessengemeinschaft der Briten, Russen, Franzosen, mußte inbrünstig wünschen, das Geschäft friedlich zu ordnen, das mit der Orientbeute befrachtete Schiff unbeschossen aufs Trockene zu bringen. Wer von seiner Hirnleistung mehr als von seiner Armkraft zu hoffen hat, wäre ein Tropf, wenn er vor der Wahl zwischen Krieg und Frieden schwankte. Nun könnte aus Ihren Reihen die Frage kommen, ob für ein Reich, das Sechsundsechzig Millionen Menschen, eine urgesunde Wirtschaft, ein Wehrbudget von zweitausend Millionen Mark hat und dem die wohlhabenden Bewohner obendrein willig tausend Millionen spenden, der Abschluß, auch wenn alle Geschäftsführer, Schreiber, Kommis müßig blieben, noch schlechter sein konnte; ob die Regierung etwa dafür Dank fordere, daß langwieriger Wirtschaftsstörung (durch zwei für uns ertraglose Kriege) nicht noch Menschenverlust und Landeinbuße folgte. Dieser Frage die Antwort zu finden und sie öffentlich auszusprechen, ist Ihres Berufes Pflicht; nicht meines. Ich muß der von mir unterzeichneten Bilanz Zustimmung werben: also von mühevoller Arbeit reden, tun, als sei der Friede wider wilden Drang von uns geschützt worden, und das Werk der Botschafterkonferenz preisen, als hätte ich vergessen, daß sie, weil wir's so (wieder wir) wollten, nicht Konferenz, sondern Reunion hieß. Weil jedes Morgens Sonne neue Klüfte entschleiert hat, die zwischen den Willensströmen der Großmächte, selbst der von gemeinsamer Feindschaft gegen das Deutsche Reich einander gesellten, die gestern noch ebene Talsohle, den vom Glauben als unzersprenglich bewunderten Felsfuß spalten, rufe ich laut das Schlagwort von den solidarischen Interessen Europas« durch unser geduldiges Land. Ein Schemen ist's, der keinen Begriff herbergt? Doch läßt sich was dabei denken. Der Deutsche hört gern, daß sein Vaterland anno 1890 ›in die Weltpolitik eingetreten ist‹, und plagt sich nicht mit der Frage, was denn seitdem errungen ward und ob es nicht vor diesem lärmenden Eintritt um Ansehen, Wucht, auch um Gebietszuwachs (Kamerun, Togo, Südwest- und Ostafrika) besser stand als in der Ära des Riesenheeres und der gewaltigen Flotte. Der Deutsche schluckt sogar das kernlose Modewort ›Kulturpolitik‹ und wird vergnügt ein Weilchen auch an der aus Metternichs Ladenfenster geholten Interessensolidarität lutschen. Solange ist Ruhe. Italien hat sich, trotz unserem Gezeter, dem unser Glückwunsch nachhinkte, Tripolitanien erobert und jetzt ein Recht auf südosteuropäische Landstücke angemeldet, das früher hartnäckig bestritten wurde. Österreich wurde genötigt, auf die Mitherrschaft über den Orient, wie einst auf die über deutsches und italisches Sprachgebiet, zu verzichten und sich für die Verteidigung Galiziens, Bosniens, Dalmatiens, Istriens, Südtirols, des Banates, Siebenbürgens zu rüsten; da es versäumt hat, den Nachbarn das Gut, das es ihnen nicht weigern wollte oder konnte, mit freundlich lächelndem Antlitz entgegenzutragen, gilt es ihnen als der Feind, der scheel auf ihre Machtmehrung blickt, und muß alle List aufwenden, um sich auf seinem Hauptmarkt, der Balkanhalbinsel (wo auch unsere Konkurrenz ihm von Jahr zu Jahr gefährlicher wird), zu halten. In den Grund solcher Tatsachen ankere ich die Behauptung: ›Wir haben die speziellen Interessen unserer Bundesgenossen, Österreich-Ungarns und Italiens, energisch und wirksam unterstützt.‹ Und bin gewiß, daß keiner sich zu der indiskreten Frage erdreisten wird, was diese wirksame Unterstützung eingebracht, was insbesondere Wien an dem Handel verdient habe.«
A: »Durch vertrauensvolles Zusammenarbeiten mit England und gestützt auf unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland haben wir dem Konzert der europäischen Mächte unsere Dienste geleistet; eine Aufgabe, die uns durch unser erfreulicherweise durchaus korrektes Verhältnis zu Frankreich erleichtert wurde. Wir haben mit der französischen Regierung auf deren Wunsch Besprechungen gepflogen, welche bezwecken, dem gegenseitigen Wettbewerb in den Gegenden, wo die beiderseitigen Betätigungen räumlich zusammentreffen, vorzubeugen. Die in so erfreulicher Weise fortschreitende Besserung unseres Verhältnisses zu England hat uns ermöglicht, in freimütigem Meinungsaustausch an eine Lösung des Bagdadproblems heranzutreten und Verhandlungen mit der englischen Regierung einzuleiten, um der möglichen Entstehung von Gegensätzen wirtschaftlicher Natur in afrikanischen Gebietsteilen vorzubeugen. Ohne Beeinträchtigung der Rechte Dritter arbeiten wir auf einen billigen Ausgleich der Interessen beider Teile hin. Von einseitigen Verzichtleistungen Deutschlands ist dabei nicht die Rede. Ich habe Grund zu der Annahme, das Ergebnis der Verhandlungen werde in Deutschland und in England als eine annehmbare Lösung möglicher Gegensätze begrüßt werden. Lassen wir, meine Herren, das Vergangene ruhen und arbeiten wir zuversichtlich weiter auf den Grundlagen, die uns die Gegenwart bietet. Ich muß mich für heute auf diese Andeutungen beschränken, da die Verhandlung noch im Gang ist.«
B: »Alles Gerede von dem freundschaftlichen Verhältnis, von der guten Beziehung zu einer anderen Macht ist völlig wertlos; wirkt nur auf Kindsköpfe; ist der Notbehelf des Armen, der sich vom Fehlen greifbarer Gewinne entschuldigen will. Mit guten Beziehungen ist kein Kauf, ist nicht einmal ein Lombardgeschäft zu machen. Die Beziehungen der Staaten zueinander sind gut, bis einer dem anderen durch schreckenden Bluff etwas abzupressen sucht oder den Krieg erklärt; will er weder fuchteln noch schießen, sondern schmeicheln und streicheln, weil er so ungefährdet ans Ziel zu gelangen hofft, dann läßt er betonen, die Temperatur des Verhältnisses sei bis auf den Wärmegrad der Freundschaft gestiegen. Läppischer oder verlogener Schwatz, den nur der Zweck heiligen kann. Briten, Russen, Franzosen sind nicht launische Narren. Sie haben sich, keiner ohne das Opfer ehrwürdiger Wünsche und Glaubensgebilde, in eine Genossenschaft bequemt, die nur durch die Scheu vor dem Wachstum deutscher Macht möglich wurde; und werden sich aus der Sozietät lösen, wenn diese Scheu gewichen ist. Solange es irgend geht, werden sie sich hüten, durch unhöfliches Wesen den stämmigen Gegner, den ihr Kartell mit Friedensmitteln zu bändigen trachtet, zu einer Kraftprobe herauszufordern, der nur mit gerupften Flügeln, als ein mißachteter Schwächling, entschlüpfen könnte. Sollten sie grob werden, als aus den von ihnen in Südost geschaufelten Minengängen die Flamme aufschlug? England hat kein Landheer; Frankreich hatte kein brauchbares Pulver; den Russen fehlten strategisch wichtige Eisenstränge, die Bürgschaften schneller Mobilisierung und die Zuversicht, daß die Hauptprovinzen ruhig bleiben würden, wenn die Kerntruppen über die Grenze marschiert und in den ersten Scharmützeln geprügelt worden wären. In allen drei Reichen sprach, außer der Staatsvernunft, der Bereicherungswunsch der im Säckelglück fett gewordenen Bourgeoisie hitzig gegen den Mutwillen zu vermeidlichem Krieg. Vermeidlich von der Stunde an, da Deutschland den Verdacht entkräftete, es werde für sein Recht auf einen beträchtlichen Teil des Türkenerbes kämpfen. Nur ein Tobsüchtiger konnte danach sich noch als Grobian räkeln. Wir förderten die Pläne des Rates der Drei, der vor dem staunenden Auge der weißen, gelben, braunen, schwarzen Menschheit die Geschäftsführung an sich gerissen hatte: also war sein Verhältnis zu uns ›gut‹, ›freundschaftlich‹, ›vertrauensvoll‹. Seitdem ist die Türkei, von deren überlebender Hordengewalt wir so viel erwartet hatten, in Europa auf einen Streifen thrakischen Landes zurückgedrängt, Österreichs Wehrmacht an vier Fronten gebunden, Rumänien den Zentralreichen entfremdet, mittelbar also auch Deutschlands Stellung geschwächt worden. Die Hoffnung, an den Küsten des Schwarzen und des Ägäischen Meeres deutscher Kultur und Wirtschaft die Einflußmündung zu weiten, mußte schrumpfen. Die Slawenzone, die sich heute schon vom Karischen bis ans Beringmeer, über Nordpersien und die äußere Mongolei dehnt, kann morgen von der Adria bis nach Urga reichen. Vorsicht mahnt, Gewonnenes und zur Option Überlassenes vor Sturm zu bergen; mahnt auch Rußlands Partner, nicht trödelnd zu harren, bis das an Menschen und Bodenschätzen, Bündnis- und Gewerbemöglichkeiten ungeheuer reiche Zartum des seit Mukden und Tsushima seine Glieder lähmenden Schreckens ledig und zu starker Handlung fähig geworden ist. Da der Teilung der asiatischen Türkei, nach neuem Brauch, die sachte Zerlegung in Vorherrschaftgebiete oder Einflußsphären vorangehen soll, ist zweierlei nötig: das Gelöbnis, dieses Grundstück des Osmanenbesitzes niemals anzutasten, nur, zum Vorteil des Eigentümers, uneigennützig, wie einst Ostrumelien und Makedonien, Persien und Marokko, zu ›reformieren‹ (sonst stünden am Nil und am Ganges die Muselmanen in islamisch frommer Wut wider das Herrenhäuflein auf); und, zweitens, eine Stimmung, die Deutschlands Stirn bis an das Ende der Liquidation entrunzelt. Vor einem Jahr wurden in Ost- und Westpreußen die wichtigsten Brücken von Soldaten bewacht, weil ein Russeneinbruch zu fürchten war, in Schlesien die Bettung und Pflege Verwundeter vorbereitet, im ganzen Reich der Reservemannschaft der Ort ihrer ersten Wehrdienstpflicht angewiesen und alle erlangbare Kohle für Staatsbahnen und Flotte aufgekauft. Gute Beziehungen; ehe wir uns als Förderer der Botschafterreunion und ihres Wollens erwiesen hatten. Jetzt müssen dieselben Mächte, die uns und denen wir damals die Absicht auf tückischen Überfall zutrauten, mit uns verhandeln; über Orientbahnen, Schiffahrtrechte, Türkenreichsschuld, Konzessionen mannigfacher Art. Mit brummigen, geärgerten Leuten ist schlecht verhandeln. Drum heißt die Losung, wie beim Dutzendphotographen: Bitte, recht freundlich! Das Verhältnis ist da, wo nachts geschimpft und gespuckt wurde, im Morgengrau wieder ›durchaus korrekt‹, an den vernarbten Stellen aber schon ›freundschaftlich‹. Britannien, Rußland, Frankreich, jedes will, in Kleinasien, etwas von uns und hütet sich, uns zu reizen. Bleibt dennoch die Verhandlung fruchtlos, so heißt's: ›Mit diesen Kerlen kann auch der Frömmste sich nicht vertragen; sie haben selbst unser Streben nach Verständigung anerkannt, doch schließlich die hingestreckte Hand weggestoßen. Brutale Sippe, die lügt, wenn sie höflich ist‹. Das, meine Herren, sind die Grundlagen, die uns die Gegenwart bietet und auf denen wir zuversichtlich weiterarbeiten.
Zuversichtlich. Unsere Bereitschaft zu selbstlosem Dienst hat ein Konzert der Mächte ermöglicht und ihnen Appetit gemacht. Jede langt nun nach der Schüssel, aus der sie sich zu sättigen hofft. Frankreich will allerlei finanzielle Sicherungen und Vorteile, will fremden Einspruch ausschließende Rechte auf Verkehrswege und Geschäftszweige: und hat, seit die Verhandlung begann, selbst die Preßlegion, von deren Sehne sonst Gallierpfeile auf uns hagelten, verpflichtet, des Nachbars Haut nicht zu ritzen. Daß die Notwendigkeit und der Zweck dieses mot d'ordre dort erkannt wird, haben wir noch in dem Monat von Zabern gemerkt. Kein Triumphgeheul; nur linde Rüge aus schwermütig lächelndem Mund. Rußlands Napf muß größer sein; breit und tief genug für eines Riesen Schöpfkelle. Seit Englands Wunsch syrische Parzellen, Arabien, Koweit umklammert, ist Rußland in Armenien von lästigem Wettbewerb frei. Um uns in heitere Vertraulichkeit zu kitzeln, stellt es sich, als sei nur zwischen ihm und uns jetzt noch das Bestimmungsrecht streitig und die Verständigung mit uns der Heiligen Rossija heiligste Pflicht. Der kurze Zeitraum zweier Monate sieht zwei russische Minister, die Herren Sasonow und Kokowzew in Berlin. Plauderei. Ob wir nicht auch meinen, daß die seit 1878 den Armeniern verheißenen Reformen endlich Ereignis werden müssen. Im Interesse der Menschlichkeit, für das zu wirken wir ja immer bereit seien; und der Türkei, versteht sich. Rußland wolle in Kleinasien nicht etwa Land erwerben; solcher Frevelplan sei ihm ganz fremd. Nur die Lage der armenischen Christenheit will es bessern und den Osmanen die Herrschaft erleichtern. Dieser reine Wille zu keuscher Enthaltsamkeit sei, leider, auch von uns verkannt worden, als wir in Konstantinopel für den untauglichen Reformentwurf der Jungtürken eintraten und dadurch die Einigung der Botschafter hinderten. Inzwischen sei aber der letzte Schatten des Verdachtes geschwunden, Rußland wolle die Schwachheit der Türkei für sich ausnützen. Also! Einverstanden. Das russische Programm genügt den Grundsätzen christlicher Sittenlehre und bewahrt die Türkei vor neuem Aufruhr, der Vorwände zu gewaltsamem Eingriff böte. Wir stimmen freudig zu; und erwerben das Ehrenrecht, unsere Beziehungen zum Zarenreich ›freundschaftlich‹ zu nennen. Unsere Diplomaten dürfen, wo es sie nützlich dünkt, erzählen, Deutschland sei in Petersburg jetzt stärker als irgendeine andere Macht. Bis die Nachricht kommt, daß ein Schwärm deutscher Offiziere in den Dienst des Sultans trete und dem Führer der auserlesenen Schar das erste Armeekorps, das in der Hauptstadt garnisoniert, samt allen Militärbildungsstätten und der Überwachung des ganzen Heerwesens anvertraut werde. Wahr? Wahr. Konstantinopel unter dem Befehl eines deutschen Generals, der nach Belieben schalten, der mit seiner Truppenmacht auch die Sperrung und Öffnung des Bosporus erzwingen kann? Sturm in Petersburg. Solches darf nicht geduldet werden. Das widerspräche der Überlieferung, die sich höchstens mit türkischer Herrschaft über die Meerengen, niemals mit der eines anderen Staates abfinden kann. Noch klebt das Plakat, das die freundschaftlichen Beziehungen ausruft. Noch wird die Freundschaft unseren Landsleuten in weißer, roter, grüner Glühschrift an jeder Straßenecke vors Auge geflackert. Von der Petersburger Sängerbrücke aber fliegen Funken an den Quai d'Orsay und in die Downingstreet. Wenn ihr, Franzosen, einem Großwesir, der uns so niederträchtig verrät, Geld leiht, auch nur durch die Aufnahme von Schatzscheinen aus der Klemme helft, werdet Ihr mitschuldig, entwertet das Bündnis und treibt uns in zuverlässigere Genossenschaft. Herr Caillaux, den wir als ›unseren Mann‹ begrüßen und dadurch um die Hälfte seiner Kreditfähigkeit bringen ließen, erschrickt und zeigt den Bankmännern die finsterste Miene. London aber bleibt, fürs erste, noch still. Der Nachtrag zum anglo-türkischen Vertrag ist fertig. Das Gebiet des Sultanates Koweit wird so hübsch abgerundet, daß es die Vormacht Arabiens wird. Sein Sultan bleibt, wie der Kediv von Ägypten, dem Kalifen Untertan, erhält aber das Recht auf die selbständige, jeder Kontrolle entrückte Leitung des Verkehrs mit anderen Völkern: muß also tun, was Britannien heischt. Damit ist das Schicksal Arabiens besiegelt. Das Monopol für die Schiffahrt auf den Flüssen Euphrat und Tigris fällt einer Gesellschaft zu, die, damit einstweilen der Tugendschein gewahrt sei, international heißt, von deren Kapital aber fünfzig Prozent den Briten, je fünfundzwanzig Deutschen und Türken gehören; durch den dünnen Schleier schimmert die Gewißheit englischer Majorität. Ein ähnlicher Kniff könnte die dritte Errungenschaft des Vertragsanhängsels sichern. Flüssiger Heizstoff soll in naher Zeit den festen ersetzen. England will seine Schiffe mit Petroleum heizen und jede Seegroßmacht muß auf diesen Weg folgen. Britische und deutsche Unternehmer streben nach der Erlaubnis zur Ausschöpfung der syrischen, arabischen, mesopotamischen Petroleumquellen. Den Briten ist sie, nach stillem Kampf und reichlicher Düngung des Ressortbodens, zugesagt. Sie haben die Konzession in der Tasche, sind schon verpflichtet, das Erdöl nur dem Marineamt zu liefern, in ihres Herzens Güte aber bereit, die deutschen Werber in das Petroleumgeschäft ungefähr eben so weit wie in die Euphratrederei einzulassen. Dem Leun gebührt natürlich der Löwenteil. Und daß Deutschland für seine Kriegsschiffe weder Kohlenstationen noch überseeische Ölquellen hat, ist nicht Englands Schuld. Dem brächte der neue Vertrag einen Gewinn wie lange keiner; einen Bissen, der den Liberalen noch einen Wahlsieg verbürgen könnte. Ein Glück, denkt Sir Edward Grey, daß wir mit Deutschland vertrauensvoll zusammenarbeiten und ›die Besserung unseres Verhältnisses in so erfreulicher Weise fortschreitet‹. Ein Stein ist weggewälzt. Die Bagdadbahn, die einem Landheer den trockenen Weg nach Indien öffnen, die malles des Indes schneller als ein anderer Strang spedieren, im Güterverkehr mit dem fernen Osten also den Vorrang erstreben sollte und den Schatten so gefährlichen Trachtens in alle Britenseelen warf, wird nun eine niedliche Lokalbahn, eine von Deutschen bezahlte und behütete Sackbahn, die in britisches Gebiet mündet. Das haben die Berliner gewährt; um das gebesserte Verhältnis nicht wieder zu trüben, nehmen sie wohl auch den Türkenvertragsappendix hin. Wenn sie in heller Laune bleiben. Was will Sasonow? Der Bosporuspförtner sinkt in die Ohnmacht des Nilwärters? General Liman van Sanders wird der Kitchener der Türkei? Unsinn. Die Deutschen sind brave Menschen. Die planen keinen tolldreisten Handstreich. Sind zufrieden, wenn sie zu Neidern sprechen können: Seht, trotz Kirkkilisse und Lülle Burgas hat der Großherr doch wieder unsere Offiziere als Instruktoren ins Land gerufen! Statt die Deutschen zu verärgern, soll man bedenken, daß sie stark sind und etwas fordern dürfen. Scheinerfolg am Adriatischen, Parademöglichkeit am Marmarameer: der Gerechte muß zugeben, daß unsere Spesen, bei einem Geschäft solchen Umfanges, erträglich sind. Und wir können obendrein jetzt kompensieren. Gibt es irgendwo, wegen der armenischen Inspektoren, der anatolischen Bahnen, des Mineralöls oder der Dette Publique Ottomane, Schwierigkeiten: die Duldung der deutschen Militärmission ist noch nicht verbrieft. Wird das Kommando dem Botschafter Wilhelms gar zum Schemel, von dem er in Übermacht klettern und zum Patron der Pforte werden kann: wir Drei putschen die Fezträger leicht gegen die Pickelhaube auf, die, wenn es ihnen schlecht ging, stets unsicher war.
Dürfen wir, meine Herren, nicht zuversichtlich auf den Grundlagen weiterarbeiten, die uns die Gegenwart bietet? Durchaus korrekte, erfreulich gebesserte, freundschaftliche Beziehungen. Werden die Grundlagen morsch, dann, freilich, kehrt der alte Zustand wieder. Keiner hat noch ein Interesse daran, uns, tändelnd und lächelnd, in heiterer Gemütsstimmung zu halten. Jeder erinnert sich lauten Machtstreites und stummer Bedrohung. Und die Grundlagen werden morsch, wenn wir im engsten Winkelchen die Hoffnung auf Nachgiebigkeit enttäuschen oder wenn, später, die drei Liebenswürdigkeiten die Frucht der Unterhandlung, der sie Schönwetter erkünstelten, gespeichert haben. Doch der Bismarckgeist, dem wir treu sind, warnt, der Vorsehung ins Handwerk zu pfuschen.«
A: »Wenn mancher von Ihnen den Wunsch hat, ich hätte über einzelne Punkte ausführlicher sprechen mögen, so verstehe ich diesen Wunsch. Ich hätte ihn gern erfüllt; ich kann aber über Fragen mit internationalen Zusammenhängen nicht so mitteilsam sein, wie ich möchte. Vor allem aber, meine Herren: unsere Politik liegt offen zutage. Sie war uns durch unsere eigenen Interessen und durch die unserer Bundesgenossen so klar vorgezeichnet, daß ich glaube, wir konnten keinen anderen Weg gehen. Unsere Lage im Herzen des europäischen Kontinents wird uns immer darauf hinweisen, für die unversehrte Aufrechterhaltung der kontinentalen Machtstellung Deutschlands alle physischen und moralischen Kräfte der Nation einzusetzen. Aber zugleich verlangen diese Kräfte gebieterisch nach fortschrittlicher Entfaltung im wirtschaftlichen Getriebe der Welt. Die Aufgabe ist groß und bedeutet ein bestimmtes und festes Ziel.«
B: »Wieder keine Dividende; und die Pflicht, die Konkurrenten, die uns auch dieses Jahr ertraglos gemacht haben, bis über den Klee zu loben. Was bleibt? Wortplunder; Andeutung des Berufszwanges zur Schweigsamkeit und die Sicherung einer Planke, die als Notbrücke zu neuer Wehrforderung führt. Machen Sie es besser, wenn Sie vor dem Abschluß einer Gesellschaft stehen, die längst keinen Gewinn mehr ausweist und von Jahr zu Jahr mehr Betriebskapital verschlingt. Unsere festländische Machtstellung wäre auch bei viel kleinerem Aufwand nicht ernstlich bedroht. Keines Nachbars Dummheit türmt sich in den Glauben, das Deutsche Reich sei zu vernichten, als Völkerbund vom Erdboden zu tilgen. Weil es sich mit ungestümem Eifer rüstet, traut man ihm, dem Erobererwille ins Leben half, Erobererpläne zu. Bescheiden wir uns in Ererbtes, freuen uns, wenn der Feind gedeiht, fühlen uns durch die Schwächung des Freundes nicht gekränkt, nehmen Flitter für Gold und ersehnen nur die Weitung der Absatzgebiete, dann empfiehlt Vernunft, die Hälfte der Wehrausgaben zu sparen und den Industriellen, den Kaufmann, in Freiheit und mit geminderter Last, ins Weltmarktgewühl zu schicken. Das ist kein hohes, doch ein festes und nahes Ziel.«
Höret, Zweifler: Die Ausgabe A reiht nur Sätze, die Herr Theobald von Bethmann-Hollweg im deutschen Reichstag gesprochen hat. Leset sie noch einmal; und lernet Euch schämen. Als Leitartikel brächte ein Unbekannter es nicht ins Blättchen einer Gerichtsstadt. So darf man vom höchsten Beamtensitz sprechen; solchen Inhalt in solcher Form den erwählten Vertretern der Nation anbieten. Die sind stumm; lauschen, sittsam gläubig, Kindermärchen, die dem Kundigen das Blut in die Schläfe jagen; lächeln nicht einmal, wenn ihnen erzählt wird: »Wir konnten keinen anderen Weg gehen und haben die eigenen Interessen und die unserer Bundesgenossen gewahrt.« Einzelne rufen gar: »Bravo!« Stimme von oben: Behaltet einander; Ihr seid einander wert.