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Am sechsundzwanzigsten September 1904, morgens um neun, ist Ernst Kasimir, Graf und Edler Herr zu Lippe-Biesterfeld, an Herzmuskelschwund gestorben. Der Tod kam unerwartet, unerfleht. Fast dreißig Jahre lang war Graf Ernst gelähmt, war er vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl ins Bett gebracht worden. Doch der stille, tapfere, in tiefster Seele fromme Herr trug sein Leid mit so heiterer Geduld, sprach so selten von seinem Schmerz, daß die Kinder sich in die Hoffnung eingelebt hatten, noch lange dem Vater gehorchen zu dürfen. Nun lag er zur letzten Rast. »Gott und mein Recht«: Das war der Wahlspruch dieses Christenlebens gewesen. Eines Lebens, in dessen Dunkel die Sonne nur in kurzer Abenddämmerung noch einen leuchtenden Scheidegruß geschickt hatte. Sechs Kinder und ein für die Repräsentation hohen Ranges geringes Vermögen. Karge Tage in Oberkassel, im Posener Bezirk. Längst keine Möglichkeit mehr, frei, wie am Feldrain der glückliche Bettler, die Glieder zu rühren. Der langwierige, widrige Hader um Regentenrecht und Thronfolge. Hundert ungesühnte Kränkungen. Auch nach dem Sieg seines Rechtes noch wie verfehmt, von den meisten Bundesfürsten gemieden, von der Reichsspitze her mit mißtrauischem Groll beobachtet, mit rauhem Wort, ein kranker Greis, schuldlos gezüchtigt. Bis in die letzte Lebensstunde die Sorge um die Wahrung ererbten Rechtes, die quälende Gewißheit, umspäht, aus Minengängen umdroht zu sein … Diesem Erleben mag Graf Leopold Julius, der älteste Sohn, nachgedacht haben, da er die Hand des Vaters erkalten fühlte. Dessen evangelischer Sinn hatte, auch mit kaum noch vernarbten Wunden, immer gewarnt: Lasset Euer Herz nicht verbittern; gebet jedem, was ihm gebührt, und greifet selbst in Wünschen nicht frevelnd nach Wage und Schwert des höheren Richters! Der verwaiste Sohn wollte gehorchen. Noch in derselben Morgenstunde erfüllte er die Pflicht, dem Kaiser ehrerbietig zu melden, daß sein Vater gestorben, die Regentschaft, nach Erbrecht und Landesgesetz, auf ihn übergegangen sei. Ehe die Sonne sank, hielt er die Antwort in zitternden Händen. »Graf Lippe-Biesterfeld, Detmold. Spreche Ihnen mein Beileid zum Ableben Ihres Herrn Vaters aus. Da die Rechtslage in keiner Weise geklärt ist, kann ich eine Regentschaftsübernahme Ihrerseits nicht anerkennen und lasse auch das Militär nicht vereidigen. Wilhelm I. R.« Keine Anrede; der kühlste Ausdruck der Teilnahme; der schroffste Einspruch, der zu erdenken war. Diese Depesche erhielt ein Offizier, der dem König von Preußen treu gedient, ein vom Willen eines starken deutschen Stammes zum Monarchenrecht Berufener, der die Ehrfurcht vor dem Imperator nie verletzt hat; ein Sohn, der vom kaum erkalteten Leichnam des Vaters kam.
Nicht uns ziemt es, den fern von Höfen lebenden Bürgern, die Form zu regeln, in denen die Fürsten und Regenten deutscher Bundesstaaten untereinander verkehren sollen. Ob es nötig war, den härtesten Ton anzuschlagen und einen tief Trauernden fühlen zu lassen, daß er auf die reichen Fleischbewahrern gern doch gespendete Freundlichkeit keinen Anspruch hat: diese Frage dürfen wir öffentlich eben so wenig beantworten wie die andere: ob der Satz, der »einer Regentschaftübernahme Ihrerseits« die Anerkennung weigert, nicht auch dem Genius der deutschen Sprache Schmerz bereiten konnte. Wir haben uns an die Sache zu halten; haben zu prüfen, ob das Wort, der Wille des Kaisers mit dem Wort und Willen der Reichsverfassung zu einen ist. Und auf diese Frage lautet die Antwort kurz und klar: Nein.
»Die Rechtslage ist in keiner Weise geklärt.« Der Kaiser irrt. Das lippische Landesgesetz vom vierundzwanzigsten März 1898 bestimmt, nach dem Tode des Grafen Ernst habe dessen ältester Sohn die Regentschaft zu übernehmen. Darüber ist kein Zweifel möglich. Nach diesem Gesetz, gegen das nur die fürstliche Linie Schaumburg-Lippe protestiert hat, ist Graf Leopold Regent des Fürstentums. Ob der Kaiser ihn als Regenten anerkennt oder nicht anerkennt, ist ganz gleichgiltig; ist vielleicht eine beiden Herren wichtige Privatangelegenheit, rechtlich aber belanglos. Wenn der Kaiser die ihm zu ewigem Bund vereinten Fürsten und Regenten deutscher Staaten anzuerkennen hätte, wären sie ihm untergeben und ihr Recht hinge am Wink seines Auges. Nach der Reichsverfassung aber sind sie ihm, dem ihr freier Wille den Kaisertitel schenkte, an souveräner Hoheit gleich und nicht in Gefahr, ihr Herrschaftrecht vom primus inter pares auch nur um Haaresbreite geschmälert zu sehen. Er hat ihnen, sie haben ihm Anerkennung weder zu gewähren noch zu weigern; sie wohnen, wie er, in eigenem, durch Verfassung und Landesgesetz fest abgegrenztem Recht. »Ich lasse auch das Militär nicht vereidigen.« Nach Artikel 66 der Reichsverfassung sind die Bundesfürsten »Chefs aller ihren Gebieten angehörenden Truppenteile und genießen die damit verbundenen Ehren. Auch steht ihnen das Recht zu, zu Polizeizwecken nicht bloß ihre eigenen Truppen zu verwenden, sondern auch alle anderen Truppenteile des Reichsheeres, die in ihren Ländern disloziert sind, zu requirieren.« Nach dem sechsten Artikel der Militärkonvention vom vierzehnten November 1873 haben die für das Landeskontingent ausgehobenen Wehrpflichtigen dem Bundesfürsten den Fahneneid zu leisten; nach dem siebenten Artikel steht der Bundesfürst zu allen in seinem Gebiete dislozierten Truppen »im Verhältnis eines Kommandierenden Generals«. All diese Rechte fallen dem Regenten zu, der den durch unheilbare Krankheit behinderten Fürsten vertritt. Graf Leopold ist gesetzlich bestellter Regent, Chef aller seinem Gebiet angehörenden Truppenteile und berechtigt, den zur Wehrpflicht ausgehobenen Landeskindern den Fahneneid abzufordern. Verbietet der Bundesfeldherr, trotz der Aufforderung, diesen Eid zu leisten, versagt er dem Regenten auch nur das geringste militärische Ehren- oder Disziplinarrecht, dann fehlt er gegen Wortlaut, Sinn und Zweck der Verfassung und der Militärkonvention, die, sobald ein Kontrahent sie verletzt, zu gelten aufhören.
Jeder hat in seiner Zeitung gelesen, wie die Depesche des Kaisers im ganzen Reich gewirkt hat. Wer aus Frankreich, England, Italien Blätter bekam, konnte Schlimmeres lesen. Keiner hat die Depesche, die das Ausland als ein neues Symptom deutscher Unmündigkeit verzeichnete, zu loben gewagt, selbst der Sanfteste sie einen ungeheuren Fehler genannt; und die gedruckte Kritik gibt noch keine Vorstellung von dem Urteil, das unter vier Augen gefällt wurde, von Exzellenzen und Rittern der höchsten Halsorden sogar. Gut bediente Geschäftsträger könnten von den Bundeshöfen merkenswerte Aussprüche berichten. Glissez, poète … Als der erste Schreck überstanden war, krochen leis ein paar Schwichtiger ans Licht und begannen ein klägliches Gewinsel. Eine ungemein traurige Sache; besser wäre es vielleicht ja gewesen, wenn der Kaiser den trauernden Biesterfeldern kurze Schonzeit gegönnt hätte. Ganz ungerecht aber, verwerflich, nichtswürdig sei es, noch immer von dem Prinzen Adolf, dem Schwager des Kaisers, als dem Rivalen Leopolds zu reden. Wenn Schaumburg seinen Agnatenanspruch durchsetze, werde Fürst Georg, nicht sein jüngerer Bruder Adolf, von Karl Alexander den Lippethron erben. Der ewige Hinweis auf die Schwagerschaft solle nur die von allen anderen Seiten sachlich geführte Debatte vergiften. Keine üble Finte; doch eine Finte nur. Vor vierzehn Jahren, ehe die Prinzessin Viktoria sich dem Prinzen zu Schaumburg vermählte, ist die Zusage geheischt und gegeben worden, Adolf solle, wenn die schaumburgische Linie siege, Fürst zur Lippe werden. Nur unter dieser Bedingung wurde der Ehebund geschlossen; und Woldemars unauffindbarer Erlaß, der Adolf zum Regenten ausersah, ist denn auch nur um vier Wochen älter als diese Ehe. Zu so unnützer Hetze sollte man die Rüden nicht loskoppeln. Um Adolf handelt sichs. Daran hat auch Bismarck nie gezweifelt. Er las den Artikel noch, in dem ich gesagt hatte: »Für das Thronfolgerecht der Biesterfelder hatte sich, aus politischen Gründen, in Privatunterhaltungen auch Fürst Bismarck ausgesprochen; man müsse, meinte er, selbst wenn die Rechtslage weniger klar wäre, als sie in Wirklichkeit sei (er fand sie damals also klar), schon um die für die Reichseinheit wichtige Stimmung der Bundesfürsten nicht leichtfertig zu verbittern, auch den Schein meiden, als könne der Schwager des Kaisers mit besonders zärtlicher Rücksicht behandelt werden.« Mit Recht hat der Geheimrat Kahl, der tapfere, kluge und treue Freund des Grafen Ernst, sich auf die Tatsache berufen, daß der erste Kanzler ein »sachlich überzeugter Anhänger des Biesterfelder Rechtes gewesen sei.« Ich hörte ihn oft darüber sprechen. Er hatte die Akten des Rechtsstreites studiert und kein Hindernis gefunden, das den Biesterfeldern, Vater und Sohn, den Weg zum Thron sperren konnte. Daß sie gekränkt wurden, verdroß ihn. »Den Welfen, deren nationaler Puls nicht ganz so zuverlässig ist, wurde zugerufen, Recht müsse doch Recht bleiben; gewiß: aber hic et ubique.« Am siebenten Oktober 1895 hatte er auf eine schriftliche Anfrage geantwortet: »Nach meiner staatsrechtlichen Überzeugung halte ich die Erbansprüche des Grafen Ernst zur Lippe für wohlbegründet und würde für sie auch aus politischen, nicht bloß rechtlichen Gründen eintreten, wenn ich im Amt wäre.« (Bismarck-Jahrbuch III,482.) Und als er in einer Zeitung die Behauptung las: er sei kein Jurist, in diesem Streit also nicht als Sachverständiger anzuerkennen, gab er mir das Blatt und sagte scherzend: »Der Esel! Ich soll kein Jurist sein? Dabei habe ich schon als Potsdamer Referendar die dauerhaftesten Ehen geschieden.« Doch die Sache nahm er sehr ernst; und wäre sicher nicht stumm geblieben, wenn er den Tag erlebt hätte, der aus Rominten den Rauhreif nach Detmold trug.
Auch Graf Bülow blieb nicht stumm. Diesmal konnte er nicht, wie nach der Swinemünder Depesche sagen, der Kaiser habe nur als Privatmann gesprochen und deshalb auch seinem Namen keinen Titel beigefügt; das seltsame Kondolenztelegramm trägt die Unterschrift: »Wilhelm Imperator Rex.« Auch mit erneutem Hinweis auf das unphilistrische Wesen seines Herrn konnte er sich nicht aus der Klemme helfen. Er mußte seine Entlassung fordern oder den Kaiser zum Rückzug überreden. Zum erstenmal in der vierunddreißig jährigen Geschichte des Deutschen Reiches hat eine Bundesregierung offen und öffentlich dem Kaiser Nichtachtung der Landesgesetze vorgeworfen, mit »energischster Verwahrung« gegen den Kaiser den Bundesrat angerufen, hat ein Staatsministerium und eine Volksversammlung mit gleicher Entschiedenheit gegen das Handeln des Reichshauptes protestiert. Wer Marksteine sucht: da ist endlich einer. Der Kaiser war im Unrecht; er hatte unklar genannt, was klar wie die Sonne schien, bestritten, was er nicht bestreiten durfte. Grund genug für einen gewissenhaften Kanzler, ders gut mit seinem Monarchen meint, das trennende Wort zu sprechen: Nicht weiter, hier endet die Pflicht; nur für Handlungen, zu denen ich mitwirken durfte, kann ich die Verantwortung tragen; die Majestät soll erkennen, daß es noch Männer gibt, die um keinen Preis zu Handlangerleistung zu dingen sind. Seinem Herrn und sich selbst hätte Graf Bülow durch solche Rede, die Tat gewesen wäre, einen unvergeßlichen Dienst erwiesen. Seinem Herrn, dessen wechselnden Winken jeder, seit Bismarck ging, mit Wesirgeschäftigkeit gehorcht hat und der deshalb lächeln dürfte, wenn er von Wert und Würde des im Amtsfrack noch freien Manns reden hört. Sich selbst: der unter solcher Begründung aus dem Dienst Geschiedene wäre der populärste Mann im Reich, der Held Europas gewesen. (Denn euer künstlich, mit Lügenpülverchen, erhaltener Schlummer, eure arme Zeitungsweisheit ahnt nicht, gute Bürger, wie Europa längst schon über eure Untertanschaft denkt.) Der Kanzler wollte diesen Weg nicht gehen. Weil Macht doch süß ist, wie Leo Caprivi sagte, selbst so leoninisch geteilte noch immer süß? Weil ich Patriot bin, wird Graf Bülow wieder zu den Freunden sprechen; weil nur der nationale Gedanke mir Leitstern ist; und weils nach meinem Rücktritt noch schlimmer würde. (Schlimmer? Klarer nur; und nirgends bedarf die Rechtslage so dringend der Klärung wie im Deutschen Reich.) Er bleibt; wird sich weiter bemühen, kleine und große Mauerrisse mit Kitt zu verkleben. Poor Yorick! Auch auf diesem Feld bist du der Mann der verpaßten Gelegenheiten.
Immerhin: was die Natur ihm zu tun erlaubte, hat der Kanzler getan. Einen Brief geschrieben, der, nach zwölf Tagen, eine »authentische Interpretation« der Jagdschloßdepesche geben sollte. »Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«; zwischen Rominten und Homburg liegt ja die ganze Breite des deutschen Lebens. Graf Bülow hatte sich Zeit gelassen und war doch nicht zu innerer Ruhe gelangt. Er schreibt sonst hübsch, hat im Ausdruck oft sogar eine Feuilletongrazie, die unverwöhnte Sinne bezaubert. Diesmal war's fürchterlich. »Seine Majestät der Kaiser hat mit diesem Telegramm lediglich bezweckt, die vorläufige Nichtvereidigung der Truppen für den Regenten und den Grund derselben mitzuteilen.« Wir wollen annehmen, daß die Erregung stürmischer Tage nachzitterte; nicht im Stil: auch im Inhalt ists zu spüren. »Mit der Auffassung des Bundesrates, daß die Rechtslage noch ungeklärt sei, konnte Seine Majestät sich nicht in Widerspruch setzen.« Der Bundesrat hält die Frage für streitig, wer nach dem irrsinnigen Karl Alexander in Lippe Fürst sein solle, hat noch nie aber angedeutet, wie er über das Regentenrecht des Biesterfelders denkt. Daß Thronfolge und Regentschaft verschiedene Dinge sind, weiß Graf Bülow natürlich; doch er war in der Wahl der Worte und Argumente nicht so gewandt wie sonst. Wer will darüber staunen? Der Kanzler stand vor der ungewöhnlichen Aufgabe, den Inhalt einer vom Rex und Imperator unterzeichneten Depesche zu widerrufen und doch den Schein völliger Übereinstimmung zu wahren. Das hat er, so gut ers vermochte, getan. »Authentische Interpretation«. Wenns schon Fremdwörter sein durften, hätte ich ein paßlicheres empfohlen: désaveu, das, weil es Erklärung, Widerspruch, Ableugnung bedeuten kann, mit seiner Spurweite hier willkommen sein mußte. Graf Leopold wird »der Regent« genannt; die Truppen werden nur »vorläufig« nicht vereidigt; der Kaiser, der zwölf Tage vorher die »Übernahme der Regentschaft nicht anerkennen konnte«, hat jetzt nicht die Absicht, »der derzeitigen Ausübung der Regentschaft im Fürstentum durch den Herrn Grafen Leopold zur Lippe irgendwelches Hindernis zu bereiten« (auch als Bundesfeldherr also nicht; denn nur da könnt er's); und die »lippische Frage wird, ausschließlich nach Rechtsgrundsätzen, unter den Auspizien des Bundesrates auf schiedsrichterlichem Wege so schnell wie möglich ihre Erledigung finden.« Mehr hat Lippe, anderes das Haus Biesterfeld niemals begehrt. Wenn Graf Bülow nicht in den Sielen stirbt, wird man diesen Brief, der den (sicher nur rühmlichen) Rückzug des Kaisers verkündet, zu den Ursachen seines Todes rechnen. Die erbherrliche Grafenlinie hat im ersten Treffen gesiegt; und der Staatsminister Gevekot, einst Erster Staatsanwalt am Detmolder Landgericht und jetzt wirklich der furchtlos umsichtige Anwalt seines Staates, ist vom Kaiser zur Museumsweihe huldvoll nach Berlin geladen worden. Von dem Deutschen Kaiser, gegen dessen Nichtachtung lippischer Landesgesetze er vor Alldeutschlands Ohr am ersten Oktober den Schutz des Bundesrates angerufen hatte.
Um neuen Möglichkeiten des Zankes zwischen den »auf ewig« verbündeten Regierungen vorzubeugen und die Fürsten, Regenten und Thronfolger rasch zu beruhigen, die der bloße Gedanke, ihre Macht müsse vom Kaiser »anerkannt« werden, wieder in den längst abgelegten Harnisch gebracht hat, muß in allen Landtagen des Reiches, großen und kleinen, die Sache erörtert werden; anständig, aber rückhaltlos. In allen muß die Mehrheit die Regierung ermahnen, das Recht der Einzelstaaten streng zu wahren. Preußen sollte den Anfang machen; zur Ausrodung alten Mißtrauens bietet sich nicht leicht wieder solche Gelegenheit. Das muß geschehen, weil Deutschlands Völker und Fürsten die Gebote der Selbstachtung nicht verlernen wollen; weil die zwischen Telegramm und Interpretation verstrichenen Herbsttage auch dem Blödesten gezeigt haben, was auf dem Spiele steht; und weil eine Reichsgefahr, von der die deutsche Erde noch bebt, nicht mit ein paar leeren Zeitungsphrasen abgetan werden darf. Oder soll alles wieder nur das alljährlich einmal wiederkehrende Mißverständnis gewesen sein, das der Tüncherpinsel von der Tafel des Erinnerns wischt? Hat die deutsche Volkheit zwölf Tage lang in Zorn und Sorge die Kraft ihres Wollens vergeudet, weil der in Rominten pirschende Kaiser zufällig andere Worte fand, als der in Homburg badende Kanzler sie demselben Trachten gesucht hätte? Dann bitten wir ergebenst, daß die beiden Herren einen vermittelnden »Minister am kaiserlichen Hoflager« wählen oder sich fortan über die Orte einigen, deren Lage ihnen erlaubt, ihre Gesundheit zu pflegen, ihren Neigungen nachzugehen und doch gemeinsam das Reich zu betreuen.
Da die Prinzessin Viktoria von Preußen den bulgarischen Battenberger nicht erlangen durfte, wurde sie dem (auch dunkelbärtigen) Prinzen Adolf zu Schaumburg-Lippe verlobt. Die Tochter, die Schwester des Kaisers dem dritten Sohn des reichen, aber kleinen Bückeburgers. Diesem aber war ein Thron gewiß; fest zugesagt; heimlich in einem Gesetzentwurf von zwei regierenden Herren zuerkannt. Daß Adolf in Lippe herrschen, in Detmold residieren werde, war Bedingung des Ehepaktes. Er wurde Ritter vom Schwarzen Adler, und nach dem Tode des Fürsten Woldemar zur Regentschaft berufen. Daher die allergrößte Wut, als zuerst die Leipziger Juristenfakultät (einstimmig), dann das vom Bundesrat eingesetzte Schiedsgericht gegen Adolf für den Biesterfelder Grafen Ernst entscheidet. Adolf veröffentlicht vor seinem Rücktritt das hier folgende Telegramm seines Schwagers, des Deutschen Kaisers: »Deine Regentschaft ist gewiß für das schöne Land ein Segen gewesen; einen besseren Herrn und auch Herrin wird Detmold nie wieder erhalten. Viele Grüße an Viktoria und kaiserlichen Dank für die hingebende Treue, mit der Du Deines Amtes gewaltet.« Dem legitimen Grafen-Regenten Ernst präsentiert eine schwache, vom Adjutanten des Bezirkskommandos befehligte Schloßwache das Gewehr. Die Regimentsmusik war für ihn nicht zu haben und seinen Kindern wurden die Honneurs versagt. Als der Graf-Regent den Kaiser ehrerbietig gebeten hatte, die Änderung dieses Verhaltens anzuordnen, bekam er die Antwort: »Ihren Brief erhalten. Anordnungen des kommandierenden Generals geschahen im Einverständnis nach vorheriger Anfrage. Dem Regenten, was dem Regenten zukommt; weiter nichts. Im übrigen will Ich Mir den Ton, in welchen Sie an Mich zu schreiben für gut befunden haben, ein für alle Mal verbeten haben. Wilhelm R.« Graf Ernst hat seinen Brief, das Telegramm des Kaisers und eine Denkschrift den deutschen Bundesfürsten »zur Kenntnisnahme« unterbreitet. Nach Ernsts Tod erklärte Wilhelm, daß er die Regentschaft nicht anerkenne (Adolfs Advent war ja seit fast zwei Jahrzehnten »verbürgt«); und dem Begräbnis durfte die Garnison nicht beiwohnen. »Wegen Typhusgefahr«.
(Lippes »bestverständigste Herrin« hat sich jetzt, an der Schwelle des dreiundsechzigsten Lebensjahres, einem russischen Eintänzer vermählt, dessen dreiundzwanzig Lenze sie Jazzlokalen und bei anderer Kurzweil schätzen lernte.)