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27. bis 31. August 1902: der König von Italien in Berlin und Potsdam.
Victor Emanuel, der König von Italien war in Berlin. Und da er natürlich die Pracht der Puppenallee bewundern sollte, war vor seiner Ankunft rasch noch der neue Rolandbrunnen enthüllt worden. Das Ding wirkt zunächst wie eine Karikatur, wie eine lustige Verhöhnung neuberlinischer Monumentalkunst. Wenn Hövell oder Kranzler einem zum Stadtrat beförderten Händler eine Eisspeise lieferten, könnte das Werk ihrer Phantasie nicht niedlicher aussehen: unten Schokolade, oben Schlagsahne, in der Mitte Kaffee-Eis; und überall kleine Röhrchen, aus denen Dessertschnäpse fließen. Alle Stile sind zusammengebacken, von strenger Gotik bis zum ausgelassensten Barock; Gold, Kupfer, Granit, Bronze vereinen sich zu einer unerhörten Kakophonie; und oben thront, wie bei beginnendem Tauwetter ein Schneemann, der Roland; ein trauriger Kerl ohne Knochen, von dessen Schultern ein Mantel aus Watte, Schnee oder Schlagsahne herabhängt. Nirgends sonst wird auf öffentlichem Platze so der Geschmack ganzer Generationen verdorben. Doch im Grunde paßt es hierher. Wer an dem Bilde des Brunnenrolands rastet und das Auge von dort vorwärts schickt, durch die Doppelreihe der Figurinenfürsten bis zu dem Riesenspargel mit der in Butter gebratenen Viktoria, der kann nicht ahnen, daß er in der Zeit der Rodin und Meunier, der Klinger und Hildebrand lebt. Der muß glauben, nach Schlüter, nach Rauch sei von einer Barbarenhorde alles vernichtet worden, was es im Spreesand an Kunstkeimen gab, alles bis auf die letzte Spur, und eine traditionslose Steinmetzenschar habe sich dann schwitzend bemüht, nach schlechten Theaterskizzen Denkmale zu schaffen. Die Franzosen, die den Roland mit neidloser Freude an solchem bunten Spaß geschildert haben, fragten nur neugierig, was denn der Paladin Caroli Magni bei den Markgrafen von Brandenburg zu suchen habe. Als ob der wehmütige Schneemann der britannici limitis praefectus sein solle und nicht der Rutland, der in alten Städten des deutschen Nordens mit dem blanken Schwerte die Marktrechtsfreiheit wahrt. Vor die Tiergartenvillen paßt er ja eigentlich nicht; aber auf Festblättern kann man lesen, daß er gerade an dieser Stelle sehr würdig den kerndeutschen Bürgergeist repräsentiere, den die allhiero auf marmornen Heldenbeinen versammelten Fürsten, Kaiser Siegmund, der dicke Wilhelm und all die anderen großen Männer, bis auf die Höhe der Siegessäule geführt haben.
Auf die Fassade kommt es an, in der Architektur wie in der Politik. Als der Kaiser von Österreich nach Berlin kam, sahen wir auf dem Pariser Platz einen Pylonenbau, wie kein Auge ihn je noch erschaut hatte. Diesmal war von der Gemeindevertretung nicht soviel Geld bewilligt worden wie einst im Mai 1900. Zwar ist Lagardes grimmiger Wunsch noch nicht erfüllt, »den von irgendwelchem großsprecherischen Eigennutz genasführten Philistern der Bürgerkollegien das Verbrechen noch nicht abgewöhnt, das Geld ihrer Mitbürger zu vergeuden,« und mehr als je wäre heute, da die ärmsten Kommunen Unsummen in Firlefanzereien verzetteln, die Bestimmung nötig, die er schon 1881 empfahl: »Die Stadtverordneten oder Bürgervorsteher müssen für allen Schnickschnack, zu dem sie das Geld anderer bewilligen, regreßpflichtig gemacht werden.« Immerhin hat die Angst vor der Sozialdemokratie und ihrem Heer Arbeitloser die Väter der Bärenstadt jetzt sparen gelehrt. Aber auch mit kleinen Mitteln ist Großes zu erwirken. Brelique-Breloque: aus dem Brandenburger Tor ist ein allerliebstes Kinderspielzeug geworden, funkelnagelneu, wie aus der Weihnachtschachtel. Der Betrachter merkt nicht gleich alle Feinheiten dieser Schmuckkunst, weil ihm zuerst grün und rot vor den Augen wird. Das sind (Weiß ist auch nicht vergessen) die italischen Farben, in die der Doppelportikus zur Feier des Tages gekleidet ward. Hat der Blick sich sacht an den Regenbogen gewöhnt, dann bewundert er auch den Goldanstrich der Berlinischen Propyläen. Überall Goldfarbe; ganz wie auf Heines Bild der Kunst im Hause treibenden Kleinbürgerfamilie, die bis aufs Nachttöpfchen herab alles Gerät schön mit Gelbocker bepinselt hat. Die Stufen sogar, auf denen man zur Quadriga steigt, sind mit Goldfarbe gestrichen, die dorischen Säulen mit Goldfransen behängt. Das hat weder Langhans noch Mnesikles geträumt. Die dachten noch, Marmor müsse wie Marmor, Sandstein wie Sandstein aussehen und es sei Sünde wider den Heiligen Geist, dem Material falschen Schein aufzutünchen. Über solches Vorurteil ist unsere offizielle Baukunst längst hinaus. Grün-weiß-rote Decken, Goldfarbe, Goldfransen: dann wirkte das alte graue Ding wieder wie neu. Und der Stadtbaurat hatte noch einen entzückenden Einfall: vor und hinter dem Tor brachte er Riesenbüsche an, aus denen nachgemachte Orangen hervorblinkten. Kennst du das Land? Schmock hat uns leider nicht erzählt, ob Victor Emanuel von dieser zarten Huldigung nicht »tief ergriffen« war. Die Leute aus dem Berliner Norden aber hatten gewiß noch nie solche Apfelsinensammlung gesehen. Zu reizend. Und alle Einzelheiten stimmen so gut zu einander. Alles unecht, alles mit feinster Weisheit zur Augentäuschung ersonnen. Wirklich: zu reizend!
Viktor Emanuel soll ein bescheidener, schüchterner Herr sein, der sich als einen Lernenden fühlt und selten nur, nach vorsichtiger Wägung, ein schon festgewordenes Urteil auf die Lippe treten läßt. Italien, das nicht mehr, wie zu Palmerstons Zeit, auf Englands nie ganz sichere Hilfe angewiesen sein will, wünscht und braucht gute Beziehungen zu Frankreich und Rußland. Deshalb fuhr der König zuerst nach Petersburg. Italien hatte keinen Grund, den Dreibundvertrag zu kündigen, wenn es nur von der Last und der Feindschaft befreit wurde, die dieser Vertrag ihm aufbürdete. Deshalb wurde das Bündnis, nicht aber die Militärkonvention verlängert und in Paris ausdrücklich erklärt: Nie werden wir, unter keinen Umständen, gegen Frankreich zu den Waffen greifen, wenn es uns nicht durch einen direkten Angriff dazu zwingt. Diese Erklärung hat der Minister Delcassé, wie seine Offiziösen behaupten, auf Wunsch des Kollegen Prinetti, im französischen Parlament wiederholt. Ist Italien aber nicht zu einer genau bestimmten Kontingentsstellung verpflichtet, bringt dem Reich der Savoyer den casus foederis nicht der Augenblick, wo Deutschland von Frankreich angegriffen wird, dann ist das Bündnis für uns wertlos. Mag sein, sagen die Italiener; aber Ihr habt ja selbst so oft verkündet, der Friede sei auf unabsehbare Zeit hinaus gesichert, daß Ihr heute doch wirklich nicht schon für den fernen Kriegsfall vorzusorgen braucht. Eigentlich habt Ihr recht, wird von Berlin aus geantwortet; lassen wir's also nach außen beim Alten. Auf eine so günstige Himmelsstirnung hatten die römischen Staatskünstler im kühnsten Traum nicht zu hoffen gewagt. Das Mißtrauen der Franzosen, das den Handel Italiens so lange lähmte, ist beseitigt, das Patronat des Zaren für das Gebiet der Türkenliquidation gewonnen und Deutschlands wichtige Freundschaft dennoch nicht verscherzt.
Nun konnte Victor Emanuel die von der Höflichkeit nicht minder als von der Sehnsucht nach einem bequemen Handelsvertrag gebotene Reise nach Berlin antreten. Der Dreibund besteht ja noch (ungefähr in derselben Verfassung, wie um die Mitte der vierziger Jahre der Vierbund bestand, von dem Friedrich Wilhelm der Vierte und Canitz so gern sprachen), wird wohl bis zu der Stunde bestehen, wo er wirksam werden soll. Herr Zanardelli, ein Mann von vielen Graden, hatte gewiß seinen König gebeten, den Friedenszweck der Verbündung zu betonen und mit keiner Silbe die Möglichkeit einer Waffengemeinschaft anzudeuten. Vor dem Brandenburger Tor ergriff der Oberbürgermeister Kirschner das Wort und ließ es nicht wieder los, ehe er erzählt hatte, das »gesamte deutsche Volk« (anders tun solche Mottenburger Tyrannen es nun einmal nicht) sehe in dem Besuch des Königs einen neuen Beweis seiner Bundestreue. Unangenehm, mochte Victor Emanuel denken; um solcher Festnagelung zu entgehen, bin ich ja nach Peterhof gefahren; wenn ich jetzt antworte, muß ich auch vom Dreibund reden: deshalb antworte ich lieber nicht; der Mann an der Amtskette kann ja nicht wissen, ob ich Deutsch verstehe. Also: »Meine mangelhafte Kenntnis Ihrer Sprache, Herr Oberbürgermeister, hat mich leider gehindert, Ihrer Rede zu folgen, und nur mit französischen Worten kann ich deshalb meinen Dank für den schönen Empfang aussprechen.« Diese Klippe war umschifft. Dann kamen die Trinksprüche, die wie man annehmen muß, verabredet waren. Der Kaiser sprach sehr herzlich von der Freundschaft der Häuser Savoyen und Hohenzollern, sehr emphatisch von dem »in alter Kraft fortbestehenden« Dreibund, dem er noch lange Dauer wünscht. Der König erwiderte sehr artig; kein Wort von der »alten Kraft«, kein Wunsch langer Dauer: »Das alte Bündnis wird jetzt allgemein als ein Sinnbild des Friedens erkannt.« Bis dahin war alles leidlich gegangen. Nun aber fiel die Kulikapelle mit dröhnender Blechmusik ein. Seht ihr, seht, Franzosen, Moskowiter, ruppige Briten: wir haben Freunde! Und ihr seid bis auf die Knochen blamiert. Dieses Geheul ist nicht nur würdelos, sondern auch dumm. Das Deutsche Reich ist noch nicht so schwach, daß es, wie Herr Kirschner meint, seine Hoffnung auf Italien gründen muß. Und wenn der Versuch fortgesetzt wird, dem entkräfteten Halbinselreich neue Feindschaften an den Hals zu hetzen, dann erleben wir wieder »klärende Feststellungen« von der Sorte, von der wir seit der Weltmarschallschaft schon allzuviele Proben empfangen haben.
Wie wär's, wenn wir jetzt eine Weile nicht mehr vom Dreibund redeten? Auch das mit Goldfarbe, Goldfransen und Goldorangen aus Pappe geputzte Brandenburger Tor darf man nicht alle Tage vor Augen haben; sonst merkt man Hoffmanns Fassadenpolitik. Der Einzug ist ja vorbei. Orgelum, Orgelei, Dudeldumdei: mit diesem Drehkastenklang endete, nach der großen Staatsaktion, schon in Plundersweilern das welthistorische Fest.
2. bis 4. September 1902: der Kaiser in Posen.
Zwei Einzüge hat die vorige Woche gebracht. In zwei preußischen Städten sind Häuser und Straßen geputzt und Menschenspaliere gebildet worden. Der Kaiser ist mit seiner Frau und mit großem Gefolge nach Posen und Frankfurt gereist und, ehe er hoch zu Roß durch die Tore ritt, von den auf dem Pflaster harrenden Kommunalhäuptern in feierlich tönender Rede begrüßt worden. So will es die neue Sitte; ist ihr genügt, dann darf man von einem »Einzug« reden und braucht nicht zu fragen, was denn geschehen solle, wenn einmal ein Sieger, ein Ender der Not durch die steinernen Pforten deutscher Städte zieht. Von Frankfurt an der Oder ist nur zu melden, daß die Lords Roberts und Hamilton, die der Kaiser eingeladen hatte, den Paradedrill der preußischen Truppen gelobt haben sollen. Mehr ist von Posen zu berichten. Seit der Marienburger Rede waren die Herbsttage, die Wilhelm der Zweite im alten Poznan verleben wollte, in Spannung, von manchen auch in Angst erwartet worden. Die harten Worte, die der Kaiser im Ordensschloß Konrads von Tierberg über »sarmatische Frechheit« sprach, hatten nicht nur die zum preußischen Staatsverband gehörenden Polen gekränkt, sondern in der ganzen Slawenwelt die nationale Leidenschaft entbunden. Der tschechische Abgeordnete Klofac schimpfte im Wiener Reichsrat. Herr von Jaworski, ein alter, glatter Höfling und Führer der galizischen Polen, legte im Ausschuß der österreichischen Delegation die Würde des Vorsitzenden nieder, um nicht zum Lobredner des deutsch-österreichischen Bündnisses werden zu müssen, das der Szlachta Galiziens plötzlich nicht mehr rühmenswert schien. Ins Prager Amtsblatt wurde ein Steckbrief gegen den Deutschen Kaiser geschmuggelt, dessen heftige Rede auch der Minister Graf Goluchowski, ein Pole, recht unfreundlich kritisiert haben soll. Bald nach diesen Vorgängen fühlte Fürst Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, Deutschlands Vertreter am Habsburgerhof, sich so unwohl, daß er einen dreimonatigen Urlaub erbitten mußte und in den Zeitungen von seinem Rücktritt gesprochen wurde. Sogar über die russische Grenze drangen schrille Stimmen an unser Ohr. Nichts, sagt Turgenjew irgendwo, ist so mächtig und zugleich so ohnmächtig wie ein Wort; die Wahrheit des Satzes war wieder an der Wirkung des Wortes zu erkennen, das im Schloß der Deutschen Ritter rascher Zorn auf die Lippe getrieben hatte: es konnte den Deutschen nicht nützen, den Polen nicht schaden, aber es klang den Slawen wie die Ansage eines Rassenkrieges. Was würde nun in Posen geschehen? Die polnischen Provinziallandtagsabgeordneten erklärten, sie seien durch die Schroffheit der Marienburger Rede gezwungen, den geplanten Festen fernzubleiben. Dem Oberpräsidenten, der diese unerfreuliche Botschaft nach Berlin bringen mußte, wurde, wie die Presse berichtete, vom König vorgeworfen, er habe »es so weit kommen lassen«. Wir lasen von einem Massenaufgebot der Polizeimannschaft, von Vorsichtsmaßregeln, die an Zarenreisen erinnerten. Neun Jahre zuvor hatte der Kaiser zu dem Abgeordneten von Koscielski gesagt: »Ich danke Ihnen und Ihren Landsleuten für Ihre Treue zu mir und meinem Hause; sie sei ein Vorbild für alle.« Jetzt hatte derselbe Monarch die Deutschen zum Kampf gegen sarmatische Frechheit aufgerufen. Freiwillig würde kein Pole die Feste mitmachen. Und wie sollte Posen aussehen, wenn alle Polen grollend in dunklen, ungeputzten Häusern saßen … Die Not war groß. Doch wo kluge Kräfte sinnvoll walten, da kann sich ein Gebild gestalten. Glanz, der nur dreimal vierundzwanzig Stunden zu dauern braucht, ist mit konzentriertem Firnis selbst dem porösesten Holz anzupolieren. Ein einzelner Mann, Gregor Alexandrowitsch Patjomkin, hat in der Krim einst Schwereres vollbracht. Polnische Menschen sind nicht zu haben: gut: dann muß man dem König jubelnde Deutsche zeigen. Die Polenhäuser werden schmucklos und finster bleiben, gut: dann muß man sie hinter Girlanden und Fahnen dem Auge des Königs verbergen. Die zu einem pomphaften Schauspiel nötige Ausstattung, kostbares Gerät, Gobelins, Teppiche, läßt man, nebst einer stattlichen Komparsenschar in Feiertagskleidern, aus Berlin kommen. Auf diesem Wege war das Ziel doch am Ende noch zu erreichen. Es wurde erreicht. In allen Zeitungen stand's: »Die Posener Kaisertage sind überaus glänzend verlaufen.«
In dreißig Jahren war an der Bogdankamündung nicht solche Pracht erschaut worden wie in diesen drei Tagen. Aus der ganzen Provinz waren die Truppenteile herangezogen und durch Nachbarkontingente verstärkt worden. Ein buntes Gewimmel von Prinzen, Fürsten, Grafen, Edelleuten und Würdenträgern jeglichen Ranges. Parade, Zapfenstreich, Denkmalsenthüllung, Museumsweihe, Diners, Einzug und Auszug: von früh bis spät konnte die Schaulust sich weiden. Die Bürger waren aufgefordert worden, ihre Häuser zu illuminieren; die Stadtverwaltung hatte an Gasflämmchen und farbigem Licht nicht gespart und, wo der Wille der Hausbesitzer gut, die Vermögenskraft aber schwach war, selbst die Ausschmückung der Privathäuser übernommen. Feenhaft, sagten die Reporter. Hinter Laubgewinden und Flaggenmasten verschwanden die düsteren Polenburgen. Der Kaiser hatte ein Geschenk mitgebracht: die Nachricht, auf seinen Befehl sei das linke Wartheufer von den Beschränkungen befreit, die das Rayongesetz den vom Festungsgürtel umschnürten Stadtvierteln aufbürdet. Nie, sagte Vincke vor vierunddreißig Jahren im preußischen Landtag »hatten unsere Regenten die Gewohnheit, den Provinzen ein cadeau zu geben, um sich dadurch ihre gute Stimmung zu erwerben«. Das wollte auch der Kaiser natürlich nicht; und dennoch war's nicht Zufall, daß er selbst gerade jetzt den Posenern die frohe Botschaft kündete, die den lange verhaltenen Drang, einmal aus voller Kehle Hurra zu schreien, übrigens kaum noch steigern konnte. Die Kriegervereine waren aufmarschiert, die Dorfschulzen herbeigeholt, ein Kinderheer (die Schulen blieben drei Tage geschlossen) wälzte sich durch die Hauptstraßen und den Patrioteneifer der Erwachsenen schürte der löbliche Ehrgeiz, den Polen zu zeigen, daß es auch ohne sie ging. Den Entwurf zu dem Friedrichsdenkmal, das enthüllt wurde, hatte der Kaiser korrigiert. Auf der Plakette, die ihm die Stadt als Xenion gab, fand er, über einem wunderschönen Tortenvers, den von ihm gezeichneten Michael. Er hatte zu entscheiden, in welchem Stil das alte Rathaus restauriert werden solle. Auch die bei solchem Anlaß im neuen Deutschland unvermeidliche Phraseologie fehlte nicht; und daß man in einer armen Stadt selbst die billigsten Reime nicht unbenutzt umkommen läßt, verdient Anerkennung eher als Spott. Was zu machen war, wurde gemacht. Wo der Repräsentant des Reiches zu sehen war, umheulte ihn lauter Jubel. Wohin sein Blick schweifte: überall fand er Zeichen behaglichen Wohlstandes, vielfach eines üppigen Luxus. Ein dichtes Gedräng gut genährter, gut gekleideter deutscher Menschen, denen die Zufriedenheit aus hellen Augen blitzt. Hier soll das deutsche Volkstum bedroht, zurückgeworfen, die wirtschaftliche Vormacht den Polen gesichert sein? Das ist die Stadt, von der uns seit Jahren erzählt wird, sie brauche staatliche Hilfe, um sich in der Slawenbrandung zu halten? Der kühlste Festbetrachter hätte es nicht geglaubt. Der Kaiser, lasen wir denn auch, habe »sich ganz entzückt über die Fülle erfreulicher Eindrücke geäußert«.
Schon am ersten Tage gab er seiner Freude über das veränderte Stadtbild Ausdruck und fügte, in dem frohen Gefühl, auf gesichertem, reichlich gedüngtem Kulturboden zu stehen, den seitdem oft zitierten Satz hinzu: »Was diese Stadt und dieses Land sind, verdanken sie der Arbeit der preußischen Könige«. Jetzt erweise er der Stadt wieder »eine große Wohltat«. Nach der Beseitigung des Rayongesetzes »werden die bösen alten Stadtteile verschwinden und binnen kurzem sich Straßen und Häuserquartiere erheben, die auch den Ärmeren ein besseres Dasein ermöglichen«. Und am dritten Tag sagte er: »Wir befinden uns hier in einer treuen deutschen Stadt«. Daß die Stadt Posen noch immer viel mehr polnisch als deutsch ist, daß nicht die Aufhebung des Rayongesetzes, sondern nur eine wesentliche Stärkung der ostmärkischen Produktion das Massenelend der Höhlenbewohner zu lindern vermag, konnte während der Festtage das schärfste Auge nicht merken. Kein Schimmer fahlen Alltagslichtes fiel in die illuminierte Stadt. Die Polen sind diesmal schuldlos; sie haben ihr Empfinden nicht feig verborgen. Nur die durch die Amtspflicht Gezwungenen trugen das Feierkleid. Die polnischen Stadtverordneten kamen nicht zum Provinzialdiner. Viele Polen hatten Einlaßkarten zu den Straßentribünen gekauft, waren dann aber zu Hause geblieben; die leeren Reihen sollten dem einziehenden König zeigen, daß die Hälfte der Bevölkerung nicht mitfeiern mochte. Umsonst. Auf einen Wink der Behörde füllten die Reihen sich; Deutsche setzten sich auf die von Polen bezahlten Plätze und lachten des vereitelten Mühens, das schöne Schauspiel zu stören. Nirgends eine Lücke, nirgends ein Mißklang. Wirklich: »Die Posener Kaisertage sind überaus glänzend verlaufen.«
Leider leuchtet der Glanz nicht über den Warthebezirk hinaus; und auch in anderen Gegenden wohnen noch Menschen. Die haben nun gehört, daß neunzig Jahre nach der vierten Teilung Polens der König von Preußen in Posen einzieht wie in eine eben eroberte Stadt der landfremde Sieger, dem die Volksmehrheit den Gruß versagt und dessen Leben nur in einem Schutzspalier gesichert scheint. Kann über solche Wirklichkeit ein Flammengaukelspiel hinwegtäuschen? Haben die Beamten dem König gelobt, ihm Schaustücke vorzuführen, oder, ihm Wahrheit zu geben, die Wahrheit wenigstens, die er nutzen kann? Sie meinen es auf ihre Weise gewiß gut, sind vielleicht auf ihren Regisseurerfolg noch sehr stolz. Wenn sie aber nicht blind sind, müssen sie nachgerade doch die Folgen der illuminierten Politik sehen, die in Deutschland jedes schlichte Gefühl verwirrt, brauchbare Kräfte lähmt, dem Reich, dem Volk Enttäuschungen und Demütigungen bereitet. Hätte man dem Kaiser die Stadt Posen ungeputzt gezeigt, dann hätte er gefragt: Wie kommt es, daß die Polen, die in Böhmen, in Frankreich unter unseren Fahnen gefochten haben, denen Bismarck, trotz seiner Antipathie, »glänzende Tapferkeit«, »Hingebung an das preußische Vaterland«, »Anhänglichkeit an die Krone Preußens« nachgesagt hat und deren Treue ich vor ein paar Jahren als Vorbild empfahl, mir jetzt sogar das äußere Zeichen der Ehrerbietung weigern? Dann mußte ein furchtloser Mann vortreten und sprechen: Man hat die Leute unklug behandelt und über ihr Trachten Euer Majestät unrichtig informiert. Die Wiener Kongreßakte hatten ihnen »nationale Institutionen« zugesichert, Euer Majestät Ahnherr ihnen 1815 zugerufen: »Ihr werdet meiner Monarchie einverleibt, ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen.« Jetzt hat man, statt die Deutschen zu stärken, die Polen zu Deutschen zu machen versucht und, da dieser Plan scheiterte, sie dem König als unbotmäßig, als freche Empörer geschildert. Und nun hat das solcher Saat entkeimte kränkende Wort die tiefe Verstimmung geschaffen. »Überaus glänzend« wären die Kaisertage dann wohl nicht verlaufen; aber sie hätten Klarheit gebracht, die dem Auge nützlicher ist als Glanz, vielleicht eine Verständigung, sicher eine Entscheidung. Was bleibt jetzt als Ertrag des großen Aufwandes? Das bunte Licht ist erloschen, die Bühne abgeräumt, der alte Jammer, der alte Hader geht weiter. Und dieselben Beamten, die wochenlang, monatelang, Tag und Nacht mit der Inszenierung des Manöverfestes beschäftigt waren, werden wieder vor die Aufgabe gestellt, ihre Volksgenossen gegen die wachsende Wirtschaftskraft der jungen polnischen Bourgeoisie und gegen die Menschenflut der polnischen proles zu schützen.
Posen ist eine Etappe. Ganz so weit waren wir bisher noch nicht. Gewiß: Alles wird bald wieder frisch zurechtgebügelt sein und wir werden hören, daß die Russen unsere intimsten Freunde, die Polen versöhnt, die Franzosen von altem Haß geheilt sind und Briten und Amerikaner ungeduldig der Stunde harren, da unter deutscher Hegemonie der große Bund der germanischen Stämme die Welt zu teilen beginnt. Noch jedesmal haben wir's, nach einer bänglichen Pause, gehört. Nach dem Kanalfest, wo russische und französische Seeoffiziere in Tafelreden den Tag herbeiriefen, der ihre Flotten wieder im Kieler Hafen vereint sähe, nicht zur Schau dann aber, sondern zum Kampf. Nach dem diplomatischen Intermezzo, das der Ernennung des deutschen Oberbefehlshabers für China folgte. Nach jedem neuen Versuch, neue Liebe zu werben. Nur glaubt beinahe schon kein Mensch mehr den Beschwichtigern. Die Gäste kommen, die Gäste gehen. Jeder nimmt einen Orden mit, Keiner bringt den Deutschen nützliche Gabe. Die der Regierung zugängliche Presse hat den Auftrag, morgens und abends zu beweisen, daß auf dem Erdenrund alle Völker zärtlich halb und halb neidisch auf das Deutsche Reich blicken, dem alles gelingt, dessen Macht von Jahr zu Jahr wächst, das bald Sonnenaufgänge von heute noch ungeahnter Herrlichkeit sehen wird. Das wird geschrieben, gesetzt, gedruckt. Was tut's, daß England inzwischen Afrika erobert hat, daß die Vereinigten Staaten Europas Zwergwirtschaft ins Joch zwingen? Der Kanzler wird, wenn's Zeit ist, schon sagen, wie alles kam. Einstweilen steht ja in der Zeitung: »Die beiden ersten Manövertage sind überaus glänzend verlaufen.«
19. bis 23. Januar 1903: Etatsdebatte des Reichstages.
In Erfurt wurde nach einer Parlamentssitzung im Frühjahr 1850 einmal die Frage erörtert, wie stark die in Böhmen gesammelte österreichische Truppenmacht wohl sein möge. Die von Pfuel zum Abendessen geladenen Abgeordneten nannten verschiedene Ziffern; einzelne erzählten, vertrauliche Nachrichten sprächen von ungefähr hunderttausend Mann. Joseph Maria von Radowitz, der General und Günstling Friedrich Wilhelms des Vierten, hörte eine Weile ruhig zu und sagte dann, mit der Miene unwiderleglicher Gewißheit, in entscheidendem Ton: »Österreich hat in Böhmen 28 254 Mann und 7 132 Pferde«. Radowitz war schon damals der eigentliche Leiter der auswärtigen Politik Preußens und der Mann des königlichen Vertrauens; er mußte Bescheid wissen und niemand durfte wagen, dem kompetentesten Beurteiler zu widersprechen. Doch dem Abgeordneten Otto von Bismarck fehlte der Glaube an die Botschaft; und er erfuhr denn auch bald, daß Österreichs böhmische Truppenmacht viel stärker und Radowitzs Ziffer einfach aus der Luft gegriffen war. Die kleine Geschichte tauchte beim Lesen der Reichstagsstenogramme im Gedächtnis auf. Das schärfer hinschauende Auge findet im Bilde des Grafen Bülow Ähnlichkeiten mit dem Mann, den Bismarck »den geschickten Garderobier der mittelalterlichen Phantasie des Königs« genannt hat. Auch Radowitz war mehr Redner als Politiker; auch seine Rhetorik glich einem Feuerwerk, das nach kurzer Herrlichkeit spurlos verpufft; auch seine Reden wirkten nur auf den geblendeten Hörer, nicht auf den kühlen Leser; und auch er verstand, wenn er das Wort hatte, alle Schwierigkeiten wegzusprechen und den behaglichen Glauben zu verbreiten, an den preußischen Zuständen sei nichts auszusetzen und Unkenntnis nur oder Mißverstand könne dans le meilleur des mondes possibles sich in Klage und Tadel verirren. Lange hielt dieses Brillantfeuerwerk ja niemals vor; doch dann stieg eine neue Rakete himmelan und wieder war für ein Weilchen die unbequem laute Sorge beschwichtigt. Graf Bülow hält sich an dasselbe Rezept; und wenn in der höfischen und diplomatischen Schicht die schöne Maske auch recht lange schon durchschaut ist und das Volksempfinden der immer bereiten, immer gleich hoch gestimmten Beredsamkeit die Resonanz versagt: unter Parlamentariern und Journalisten findet der Portefeuilletonist noch Bewunderer. Er ist so höflich, behandelt jeden so gut, kräuselt niedliche Schnitzel und hat alle Töne in seiner Kehle: leichten Scherz und männlichen Ernst, Diplomatendiskretion und biedere Offenheit; und nie ärgert den Hörer, den Freund oder Feind, die lästige Gewalt einer überlegenen Persönlichkeit. Einen so angenehmen Herrn kränkt man nicht; selbst wenn man sich verpflichtet glaubt, ihn, dem Wähler zur Freude, unsanften Tadel hören zu lassen, wird aus dem Wortgeplänkel nie blutiger Ernst. Niemand denkt an ernste Konsequenzen. Das Budget oder wenigstens den Posten »Gehalt des Reichskanzlers« ablehnen? Eine Petition of Right an den Kaiser schicken? Kein Wunsch fliegt zu so steilen Höhen. Graf Bülow redet, Graf Bülow lächelt, – und die eben noch wildesten Männer blicken aus heiterem Auge getrost zu ihm hin und auf der Tribüne schmunzeln die Zeitungsschreiber: »Höllisch geschickt hat er's wieder gemacht«.
Auch diesmal wieder. Naive Seelen hatten, weil im Sommer und Herbst Gewitterwolken aufzuziehen schienen, eine lange nachhallende Entladung der atmosphärischen Elektrizität gefürchtet. Die dem bayerischen Zentrum und der deutschen Sozialdemokratie vom Reichsoberhaupt zugefügte Kränkung, das von der dicksten Tünche nicht zu verbergende Wirtschaftselend, die zum Teil schon sichtbaren Folgen des fast beispiellos unklugen Vorgehens gegen Venezuela, ein Reichshaushaltsetat, der alle Fehler einer unsteten Parvenupolitik enthält und den Mutigsten schrecken könnte: gefährlichen Konflikten war nicht auszubiegen. Die Person des Kaisers würde in die Debatte gezerrt, der nützliche Glaube an die Festigkeit unserer Institutionen gelockert und dem Kanzler nur die Wahl gelassen werden, beim Kaiser oder im Reichstag das Spiel zu verlieren. Die Ängstlichen wurden von ihrem Gedächtnis und ihrer Psychologie schlecht bedient. Ungefähr so war's nach den Hochsommersensationen ja immer gewesen und immer wurde der Sturm, der Kurzsichtigen zu drohen schien, ohne allzu große Mühe beschworen; warum sollte es diesmal anders sein? Wer sich von Heldenposen nicht schrecken läßt, weiß, daß niemand einen ernsten Konflikt wünscht und die Wildesten sich mit der kleidsamen Grimasse der Leidenschaft begnügen. Nichts zu fürchten, nichts zu hoffen; nicht einmal die in der Welt Schwarzer Kunst beliebte »Klärung der Situation«. Nichts. Graf Bülow wird lächeln, wird reden und haarscharf beweisen, daß kein Tadelswörtchen sachlich begründet ist; dann verrollt der Theaterdonner in die Soffitten und alles kehrt wieder zur alten Ordnung. So ist's gekommen. Herr Omnes blieb gleichgiltig; und die Volksvertreter erhitzten sich gerade nur bis zu dem Thermometerstrich, der die richtige Wahltemperatur verhieß. Keine Budgetweigerung, keine Drohung, keine Resolution. Als aus Morgen und Abend der fünfte Tag ward, konnte Candides Hofmeister mit der Stimmung zufrieden sein, war unter der deutschen Sonne nichts Neues zu schauen.
Manche gute Rede war gehalten und das persönliche System Wilhelms des Zweiten aufrichtiger als je zuvor kritisiert worden. Nicht nur von Demokraten. Sogar der alte Herr von Kardorff sagte: »Wenn die heutigen Zustände fortbestehen, wird es dem Reichstagspräsidenten immer schwieriger werden, die Person Seiner Majestät aus den Debatten fernzuhalten.« Der Kanzler, der am selben Tag schon im Abgeordnetenhaus die rhetorische Rettung der Ostmarken geleistet hatte, ließ auf die Antwort nicht warten; seine helle Siegermiene schien fröhlich in den Saal hinabzurufen: Nun, Kinder, paßt mal auf; was so schlimm geschildert wurde, ist im Grunde die einfachste, harmloseste Sache von der Welt. Der gefeierten Taktik erster Teil: bestreite, was nicht behauptet, behaupte, was nicht bestritten wird: und keine Redegewalt kann dir widerstehen. Der Kaiser hat erstens das Recht, seiner Meinung den seiner kräftigen, impulsiven Natur entsprechenden Ausdruck zu wählen, und braucht auch für »persönliche Kundgebungen programmatischer Art« keine ministerielle Deckung; gerade der besondere Fall aber bietet nicht den geringsten Grund zur Klage. Die Depesche soll in München böses Blut gemacht haben? Lächerlich. Der Prinzregent hat ja gedankt; und sein Sohn hat in Posen den Dank wiederholt. Zweiter Teil der Taktik: das Selbstverständliche, von der Sitte Aufgezwungene wird als wichtiges Beweisstück vorgeführt. Rasch noch ein Ornament: Kaiser und Prinzregent sind Freunde und zwischen Freunden ist für Mißverständnisse kein Raum. (Alle Bundesfürsten sind Freunde; auch zwischen Dresden, Karlsruhe, Meiningen, Dessau, Detmold und der Reichshauptstadt war die Leitung nie unterbrochen und nie haben Berliner Tischgespräche die Wittelsbacher verstimmt.) Eine dichte Wortwolke: so nannte mit Recht am nächsten Tage Herr von Vollmar die Advokatenrede des Kanzlers, »in der kaum ein einziger staatsrechtlich, logisch oder tatsächlich haltbarer Satz zu finden war«. Doch der Kanzler, den jeder glimpflich behandelt, denkt: Sunt verba et voces. Über die Bayernsache spricht er nicht mehr; die Klagereden sind ja in drei Tagen vergessen. Er hat den Hörern Interessanteres zu bieten. »Herr von Vollmar schien Seiner Majestät dem Kaiser und der Monarchie eine antisoziale Tendenz imputieren zu wollen.« War ihm nicht eingefallen; aber Graf Bülow hatte sich zu einer Antwort auf die (vom Präsidenten verbotene) Kritik der Essener und der Breslauer Rede gerüstet und mußte einen Übergang ins Soziale suchen. »Wie alle wissen, ist die soziale Gesetzgebung in Deutschland durch Kaiser Wilhelm den Ersten ins Leben gerufen worden.« (Wie alle wissen, hat der alte Kaiser selbst oft gesagt, daß Idee und Ausführung Bismarck gehörten.) »Die Monarchie hat in Deutschland tatsächlich mehr für die arbeitenden Klassen getan, als bisher in irgendeinem anderen Land für die Arbeiter geschehen ist.« (Was hat sie denn »tatsächlich getan«? Die Lasten der Schutzgesetze trägt nicht sie, sondern das Volk; und das ihr unbequeme Recht freier Koalition hat sie nicht gewährt.) Das hat neulich erst ein Engländer nach einem Besuch in unserem Reichsversicherungsamt bezeugt. Auch Herr Millerand hat als Minister gesagt, in Deutschland habe »der Staat« (nicht die Monarchie) mehr getan als in Frankreich, und in einem Privatgespräch mit dem Fürsten Radolin »die Hochherzigkeit und Weitsicht« unseres Kaisers gerühmt; folgt ein radolinischer Lobgesang auf Millerands »ruhige und würdige Persönlichkeit«. Was, könnte man sagen, kümmern uns diese Mären? Ein gut aufgenommener Brite macht Deutschland die üblichen Komplimente. Ein französischer Minister sagt dem Botschafter des Deutschen Kaisers unter vier Augen Artigkeiten. Ist es lohnend, ist's auch nur passend, sie auf diese Zufallsworte festzunageln? Aber es kommt noch besser. »Absolutismus ist, wie kein deutsches Wort, so keine deutsche Einrichtung.« Ja, halten zu Gnaden: ist Kaiser ein deutsches Wort? Oder Kanzler? Oder Minister, Zivilkabinetschef, General, Admiral, Prinz? Darf man so zu Erwachsenen reden? Man darf. »Höllisch geschickt hat er's wieder gemacht.«
Das waren ein paar Proben. Die nächsten Tage brachten noch zwei Reden des Kanzlers. Charakteristiken des Kaisers; in einer Ausführlichkeit, die nicht nach jedermanns Geschmack sein wird. Herr Richter hatte gesagt: »Zu keiner Zeit war es so schwierig, Minister zu sein, wie heute und zu keiner Zeit waren die Herren so wenig beneidenswert.« Durch Nicken des Kopfes zeigte Graf Bülow seine Übereinstimmung mit diesen Worten, deren Sinn nicht zweifelhaft sein konnte. Hatte er damit etwa angedeutet, auch er sehe den heutigen Stand der Dinge nicht ohne Sorge? Nie kam ihm solcher Gedanke. Das lauteste Lob reicht an die Vortrefflichkeit unserer Zustände noch nicht heran. Der Kaiser ist nicht voreingenommen; er verträgt, er wünscht sogar Widerspruch. Von Absolutismus, Caesarismus, Bonapartismus (der Krypto-Absolutismus, vor dem Bismarck, als dem gefährlichsten, nach 1892 so oft warnte, wurde nicht mitgenannt) kann in Deutschland überhaupt nicht die Rede sein. Wir sind ja nicht in Marokko. »Die starke und ausgeprägte und begabte Individualität eines Fürsten ist für das Volk von sehr großem Vorteil; und je stärker und ausgeprägter die Individualität eines Fürsten ist, um so mehr wird er geneigt sein, teilzunehmen an der Politik und einzugreifen in den Gang der Staatsgeschäfte.« (Dagegen Bismarck: »Der Kaiser ist als solcher kein Faktor der Gesetzgebung, sondern wirkt nur als König von Preußen durch die preußischen Stimmen am Bundesrat mit; ich sehe für die Zukunft des monarchischen Gedankens eine Gefahr darin, wenn ein Herrscher, selbst in der besten Absicht, allzu oft vor der Öffentlichkeit sich ohne ministerielle Bekleidungsstücke zeigt.«) »Für das tatkräftige Streben und redliche Wollen unseres Kaisers, für den großen Zug in seinem Wesen, für seinen freien und vorurteilslosen Sinn sollte man nicht ungerecht sein. An ihm ist nichts Kleinliches. Was Sie ihm auch vorwerfen mögen, ein Philister ist er nicht; und das ist sehr viel wert im zwanzigsten Jahrhundert.« (Sind andere Kaiser und Könige, weil sie ihre vielleicht ebenso »starke und ausgeprägte und begabte Individualität« seltener der Kritik aussetzen, nun also Philister? Der Herr Graf wird das rasche Wort bereuen, wenn er hört, wie es an deutschen Höfen gewirkt hat. Und er sollte sich einmal die Frage vorlegen, wie sich die Dinge gestalten würden, wenn alle Bundesfürsten, deren jeder in seinen Reichsgrenzen dieselben Rechte hat wie der König in Preußen, so »tatkräftig in den Gang der Staatsgeschäfte eingriffen.«) Herr Bebel tadelt, in einer ungemein wirksamen Rede, den heftigen Ton, den der Kaiser gegen die Sozialdemokratie angeschlagen habe. Antwort des Kanzlers: »Was führen denn Sie selbst für eine Sprache? Fiel nicht eben in Ihren Reihen ein Zwischenruf, den ich nicht wiederholen mag? Solange die Sozialdemokratie sich als Gegnerin der Monarchie bekennt, können Sie sich auch nicht darüber wundern, daß der oberste Träger des monarchischen Prinzips sich dagegen mit Entschiedenheit und, wenn es seiner Natur entspricht, hier und da auch mit Schroffheit zur Wehr setzt.« Darauf hat nur ein Zuruf geantwortet. Der Sitzungsbericht meldet das Echo: »Lebhafte Rufe: Sehr richtig!« Im Deutschen Reichstag sitzen also viele Männer, die meinen, der Gegner der Monarchie habe kein Recht zur Klage, wenn er von dem höchsten und hörbarsten Vertreter des Reiches laut gescholten, feiger Lüge, ehrlosen Betruges, schändlichen Mordes beschuldigt wird. Das war der in fünf langen Tagwerken ans Licht geförderten Weisheit letzter Schluß. »Lebhafte Rufe: Sehr richtig!« Nicht der leiseste Widerspruch. In keinem Parlamente der Welt wäre solcher Grundsatz ruhig angehört oder gar mit Beifall begrüßt worden. Selbst der treueste Monarchist hätte gesagt: Nein, Herr Kanzler; keinen Bürger, nicht den letzten, erbärmlichsten, darf der Monarch beleidigen, nicht den überführten Verbrecher öffentlich Dieb oder Mörder schelten; wenn Sie daran auch nur eine Sekunde zweifeln, fehlt Ihnen für die Pflichten konstitutionellen Lebens und für die Bedeutung monarchischer Privilegien jedes Verständnis. In Berlin wird anders geredet. Und es gab in Berlin nervöse Leute, die eine weithin wirkende Elektrizitätentladung gefürchtet hatten.
Graf Bülow schließt sich den vom Kaiser öffentlich gefällten Urteilen nicht an, wirft dem bayerischen Zentrum nicht »schnöde Undankbarkeit«, den Sozialdemokraten nicht Ausbeutung, Ehrlosigkeit, Lug und Trug vor und läßt, mindestens nutu et signis, Leichtgläubige hoffen, daß er manche Beschwerde der Opposition für begründet hält. Sein Gegengrund ist, jenseits von Gut und Böse: die interessante Persönlichkeit; eine so starke, ausgeprägte, begabte Individualität setzt sich selbst die Grenzen. Das ist der Standpunkt des Managers. Der Legitimist Graf von Falloux sagte 1849: »L'injure subit la loi des corps physiches! eile n'acquiert de gravité qu'en proportion de la hauteur d'où elle tombe.« Graf Bülow findet, auch die von der höchsten Staatsspitze hertönende Beleidigung sei dankbar hinzunehmen, wenn sie nur aus einer besonders starken Seele stammt. Er hat recht; denn er hat Erfolg. Ein Vierteljahrtausend ist vergangen, seit das englische Unterhaus seine Unzufriedenheit mit Jakobs munteren Sprüngen in die Resolution faßte: »Wir können uns ein Volk ohne König, doch keinen König ohne Volk denken«; und dem Wort folgte die Tat, der Resolution die Revolution. Heute braucht kein Minister um seinen Sold zu zittern. Heute wird nur geredet; und unter Rednern hat der Kanzler gewonnenes Spiel. Noch weniger kann das Spektakel auf den Kaiser wirken. Der weiß jedenfalls, was er will, und läßt sich durch schnell verklingende Scheltkonzerte sicher nicht über die Tatsache täuschen, daß er alles Wesentliche durchzusetzen vermag.