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Am Nachthimmel ein lichter Streif, zwischen zwei helleren Punkten ein matt beleuchteter Steg: die Milchstraße nennen die Menschen ihn und einen schönen Mythos ersannen sie, sein mildes Dämmern zu erklären. Doch die Mythen auch, die herrlichsten selbst, blühen ab, wenn ihrer Wurzel nicht neues Erdreich aufgeschüttet wird. Und weil der dunstende Herbst, der nach klarem Tag die Nebel emporscheucht, nachdenklich stimmt und weil uns neuerlich anbefohlen ward, rückwärts schreitend den Weg der Geschichte nun abzuwandeln, deshalb vielleicht kam mir in den Sinn, dem Mythos der Milchstraße nachzugrübeln und, an losen Fabeln alter Sänger vorbei, zu dem Sehnen mich hinzufühlen, das erst den Mythos gebar.
Im Sagenlande, das man Arkadien nicht heißen darf, weil es von unruhigem Wünschen mächtig erschüttert war, hatte König Merops geherrscht, ein freundlicher Mann mit gütigem Blick und ein Herr, der die Zeichen der Zeit wohl erkannte. In einem verblätterten Buch hatte er gelesen, der Tag sei nah, wo aus den güldenen Kronen man Goldtaler prägen werde, mit dem Bildnis einer neuen Prinzessin, die den seltsamen Namen Demokratia empfangen solle. Und da er buchgläubig war und holder Schwachheit geneigt, sah er mit mildem Mißtrauen immer die Krone an und ihrem mystischen Winken lächelte er in Wehmut. Nicht zu majestätischen Gletschern flatterte sein Ehrgeiz; sein Gottesgnadentum, von dem beschränktere Ahnen das Heil erwartet hatten, schlug er gering an und heischte für Reden und Handeln eben nur das Maß der Achtung, dessen Reden und Handeln auch würdig waren und das kein Verständiger dem Haupt des Volkes weigern durfte. Übrigens verschloß er sich keinem guten Rat, wußte klug hinter klügere zu verschwinden und prunkte und prahlte nie mit einer Detailkenntnis, die er nach dem Gang seiner Erziehung und in der prächtig dekorierten Enge seines Palasterlebnisses doch nicht erworben haben konnte. Er war ein guter König in schlimmer Zeit, und die da wünschten, gegen die drohende Gefahr einer Ochlokratie das monarchische Wesen erhalten zu sehen, die priesen ihn hoch und seufzten, als er zu sterben kam.
Ihm folgte der junge Sohn. Der hieß Phaeton und seinem Ruhm hatten Geberdenspäher und Geschichtenträger längst schon die Pauke gerührt; ein windiger Schreiber, von der Zunft einer, die mit Feder und Tinte damals das alte Weglagererhandwerk aufzunehmen begann, hatte ihn dem Großen Alexander verglichen, ein Magister des Caesar. Jedes unbedachte Wort, das ihm entfuhr, wurde als wunderkindliche Weisheit durch alle Gassen getutet und ein Lärmen hub an, daß von der phaetonischen Ära das Volk sich ein Unerhörtes erwarten mußte. Die Bedächtigen standen abseits und dämpften ihre Angst, denn ins Schwabenalter mußte Phaeton wachsen, ehe ihm noch gelingen konnte, den reichen Schatz zu verstreuen, den Merops sorgend gehäuft hatte; und so fest stand im Fabellande die Monarchie, daß eine junge Laune sie nicht gleich zu erschüttern vermochte. Und als sie gar hörten, wie der neue Herr immer wieder gelobte, in allen Stücken dem weisen Merops und seinem Beispiel nachtrachten zu wollen, da schwand auch aus der Bedächtigen Sinn letzte Furcht und dem Jubel des Volkes lächelten sie freundlich.
Es geschah aber, daß König Phaeton andere Könige besuchte. Und da vernahm er übelklingende Wahrheit. An den Kronen nagte gefräßiger Rost, der vor Edelmetall scheu sonst zurückkroch, und zum Gast sprachen die müden Herrscher, wie zu Zarathustra sie einst gesprochen hatten: »Dieser Ekel würgt mich, daß wir Könige selber falsch wurden, überhängt und verkleidet durch alten, vergilbten Großväterprunk, Schaumünzen für die Dümmsten und die Schlauesten und wer heute alles mit der Macht Schacher treibt! Wir sind nicht die Ersten: und müssen es doch bedeuten. Dieser Betrügerei sind wir endlich satt und ekel geworden. Es gibt kein härteres Unglück in allem Menschenschicksal, als wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die Ersten Menschen sind. Da wird alles falsch und schief und ungeheuer.« Viel noch von solcher Art mußte Phaeton hören und er erkannte, wie ein trauriges Sterben des Königsgedankens durch die vom Glauben geirrte Welt schlich. Hier sah er dumpfe Dummheit auf stolzem Thron, da zerrten hitzige Spieler und gierige Dirnen an einer Krone, dort entsank das Szepter einer von unheimlicher Krankheit zermorschten Hand. Das Schlimmste aber war, daß die Könige selbst nicht mehr an sich glaubten und zufrieden waren, wenn hinter hohen Gittern, die man Konstitutionen hieß, sie ein behagliches Leben in reichen Gewanden und bei standgemäßer Ernährung verbringen durften.
Anders hatte Phaeton, ganz anders, sich seine Sendung geträumt. Von Otto dem Großen hatte er gelesen, dem der Statthalter Petri den Eid der Treue geleistet, und von Otto dem Dritten, den man das Weltwunder nannte und der auf seine Siegel prägen ließ »Renovatio Imperii Romanorum«. Warum sollte er nicht, dessen winzigstem Worte die Erde doch lauschte, ein neues Weltwunder werden und mit frischem Glanze die Römerkrone umgolden? Auf den gefährdetsten Thron war er gesetzt. Und dann erst (also lautete des Einsiedlers laute Verkündung), wenn den gefährdetsten Thron der gefährlichste Schwärmer besteigen sollte, würde offenbar werden, daß die Vorsehung den Königsgedanken verworfen hat. Phaeton fühlte sich Manns genug, der Welt zu beweisen, wie fern der Monarchie diese Todesstunde noch war.
Mit dem alten Wesen wurde rasch aufgeräumt, schlichte Einfachheit von lauter Pracht, stille Zurückhaltung von kühnem Vordrang abgelöst und der König begann zu lächeln, so oft man ihm von seinem Vater sprach. Sein Vater? Nicht eines Menschen Sohn wollte er sein; nur ein Gott, Helios allein, der prachtvoll Strahlende, konnte aus seiner Mutter Clymene Schoß ihn gezeugt haben, denn göttlicher Art empfand er sich voll und göttlicher Odem blähte ihm trotzige Nüstern. Darin lag ja der Fehler, daß Merops in milder Schwäche zu früh sich dem Gottesgnadentum entkleidet und das farblose Gewand eines geschäftigen Verwalters angetan hatte. Sein Beispiel hatte die anderen Könige verführt und mit monarchischer Pracht, der neue Herr sah es wohl, war auch monarchische Macht nun gewichen. Der Vater hatte empfunden, daß er nicht der Erste der Menschen war, und mochte es drum auch nicht scheinen; der Sohn klammerte sich an den Schein und wollte ihn der Welt als Abglanz des Seins erweisen, das den König berechtigt, der Erste der Menschen zu heißen. Alte Rumpelkammern taten sich auf, vermottete Herrlichkeit wurde eilig wieder tragfähig gemacht, eifriger Wettbewerb entstand um neuen Zierrat und neuen Schmuck und den stolz aufgeputzten König blökte die Herde der Höflinge untertänigst an: Heil Phaeton, Heil ihm, dem Wunder der Welt, dem Neuschöpfer des alten Reiches! Und König Phaeton war höchst froh und allerhöchst zufrieden; denn er wußte ja nicht, der Ärmste, daß es außer den Höflingen in seinem Lande noch Menschen gab.
Das erfuhr er auch nicht, als er sich ernstlich nun ans Beherrschen machte, Gesetze entwarf, Reformpläne spann und immer bedacht war, das Weltall an sein, des Allumfassers, wachsames Walten zu gemahnen. Die Herde der Höflinge nämlich, der längst auch schon von den Ministern alles, was sich im Amt halten wollte, zugelaufen war, hatte einen wundervoll schlauen Zauber erdacht, des Königs Gewissen in Ruhe zu wiegen. Für gute Worte, für Geld, und auch, weil von den Parteien stets eine sich freute, wenn die andere die Rute bekam, fanden sich immer Schreiber, im Sagenlande oder auch in der Nachbarschaft, die den königlichen Schritten Beifall wieherten; und ihre Zahl wuchs an, denn ein König, der so viel zu schreiben gibt, an dem man mit Zeilen so viel verdienen kann, ist ein seltenes Gewächs und solchen Schreibermonarchen muß man wohl loben. Diese Lobschreibereien wurden nun, in sauberen Ausschnitten sauber zusammengeklebt, dem König vorgelegt, auf daß er erkenne, wie seinen Weg die Öffentliche Meinung mit wohlwollenden Wünschen begleitete. Und wieder war König Phaeton höchst froh und allerhöchst zufrieden, denn er wußte ja nicht, der Ärmste, daß es außer den Höflingen und außer den Schreibern in seinem Lande noch Menschen gab.
Es gab noch Menschen; und allgemach wurden sie ungeduldig. Jahrelang hatten sie im Fabelland ruhig gelebt, den alten Merops ehrfürchtig begrüßt, um sein persönliches Tun und Lassen aber sich nicht bekümmert und immer am Abend gewußt, wie am andern Morgen der Wind pfeifen werde. Damit war's nun vorbei. Hastig wurde regiert, hastig gelebt und kein Barometer half den ratlos nach Wetterzeichen Ausspähenden. Am meisten verdroß sie, das nun das hohe Gitter, das man die Konstitution hieß, durchfeilt und durchsägt wurde, daß man den König immer und überall sah und der plötzlich verlangte, von ihm, von dem Gottentsprossenen, müßten die Menschen sich, ohne nach Weg und Richtung zu fragen oder zu forschen, willenlos leiten lassen, einem Ziel entgegen, dessen Geheimnis der Führer im Busen barg. Von den Fabellandleuten meinten die Alten, zu solchen Experimenten seien sie nicht mehr jung genug und ein König sei doch am Ende auch nur ein Mensch und meistens an Reife und Einsicht gleichaltrigen Bürgern nicht gleich, weil die im Kampf des harten Lebens ganz andere Erfahrungen sammeln. Die Jungen aber unter den Fabellandleuten, denen das kecke Selbstvertrauen des Führers doch mächtig imponierte, weil er mit seiner Allwissenheit den Alten die Augen ausstach, die Jungen forderten (und schließlich stand ja auch ihnen Leib und Leben auf dem Spiel) eine Probe: »Bist du in Wahrheit Gottes Sohn, wohl, so zeige uns deine Kraft! Helios, den du als Vater ansprichst, hat allen Menschen, den Armen auch und den Elenden, das Licht gegönnt, das ihrer nicht einer im Dunkel blieb. Besteige du seinen goldenen Wagen, bringe in Hütten, wo Dunkel jetzt lastet, Trübsal und Gebrest, bringe dorthin das Licht zurück und die Freude am Leben; und niedersinken wollen wir gern in den Staub und mit deinen Höflingen um die Wette anbetend rufen: Heil Phaeton, Heil ihm, dem Wunder der Welt, dem Neuschöpfer des alten Reiches!«
Ein erstes Wunder geschah; der Ruf drang bis an den Thron hinauf. Und da die Luftfahrt der Höhensucht des Königs entsprach, da ihm dunkel auch der Wert des Einsatzes aufdämmern mochte (denn eine Rückkehr zum alten System des Merops gab es nicht mehr und nur Sieg oder Tod bot noch das Schicksal dem Königsgedanken), so wurde dem Wünschen der Jungen Erfüllung und gefährlichen Höhen trieb der waghalsige Lenker die scheuenden Rosse zu. Auf güldenem Gefährt im Purpur der Jüngling; jauchzend sah der Erdball das Schauspiel, das auf die verdüsterte Welt Glanz zurückwarf, immer heller gleißenden … Bis züngelnde Flammen emporleckten und in tollem Funkengestiebe die ganze durchmottete Herrlichkeit dann versank. In wildem Jagen hatte das Gespann den leichten Hütten der Armen glühende Strahlen entsandt, lichterloh flackerte das Gebälk und in heulendem Jammer wälzte es aus den Höhlen sich in die Gassen, der ganze Troß der Elenden, die das Licht gesehen hatten und denen im Dunkel nun das letzte Lager in Asche sank.
Als der Rauch sich, es war tief in der Nacht, endlich verzog, war in der Runde von Rossen und Lenker nichts mehr zu erblicken. Es gab keinen König mehr, denn Phaeton hatte mit brennender Deutlichkeit die Menschen gelehrt, daß die Vorsehung den Königsgedanken verworfen hat, da auf den gefährdetsten Thron sie den gefährlichsten Schwärmer gelangen ließ. Zum geschäftigen Verwalter berief das Volk nun einen Bürger. Im Purpur war ja nicht göttliche Macht; und ein schwarzer Rock ist viel billiger.
Am Nachthimmel ein lichter Streif, zwischen zwei helleren Punkten ein matt beleuchteter Steg: die Milchstraße nennen die Menschen ihn und einen schönen Mythos ersannen sie, sein mildes Dämmern zu erklären. Dort fuhr Phaeton entlang, spricht wohl der Vater zum Sohn, doch sein Vermessen strafte der allgewaltige Zeus und dessen Blitz schleuderte ihn in des Eridanos Tiefen.
Phaeton aber war ein König, der ein verblichenes Gottesgnadentum zu der Sonne empor führen wollte, und der ihn schlug, war nicht Zeus, der Hochmögenden immer noch lächelte. König Phaeton fiel durch den alten Chronos; sein Vernichter war der rächende Gott der Zeit.
Den Kronenträgern läuten diesmal die Silvesterglocken ein düsteres Trauerjahr ein. Für die kommenden Hofbälle sind die Galerien und Säle glänzend renoviert, in den Kadettenschulen sind eifrig Menuett-Kurse abgehalten worden, doch schon der erste Monat drängt ein drohendes Datum in die festliche Lust aufgefrischter Rokoko-Herrlichkeit. Am einundzwanzigsten Januar wird ein Jahrhundert verstrichen sein seit dem Tage, da Ludwig der Sechzehnte das Haupt unter die Guillotine legen mußte und die Legitimität (im Sinn Talleyrands) den Kopf verlor. Derb und brutal preßte damals der Aschermittwoch sich vor den Karneval und Camille Desmoulins fand das freche Wort, das dem Denken der Schreckensmänner die epigrammatische Fassung gab: Un roi meurt, il n'y a pas un homme de moins!
Dem armen Ludwig Capet half nicht, daß er noch auf dem Schaffot seine Unschuld beteuerte. Gewiß: er war kein Tyrann und kein Verbrecher gewesen, er hatte es, wie man wohl sagt, gut gemeint. Mit allerlei technischen Spielereien, mit Schmiedekünsten und Uhrmacherarbeit hatte er sich die Zeit vertrieben, war auf die Jagd gegangen und hatte Rehböcke geschossen, niemals aber in Hirschparkgelüsten geschwelgt; und redlich glaubte er seiner Regentenpflicht zu genügen, wenn er von unverantwortlichen Ratgebern, von den Polignacs und Genossen sich über die Stimmung im Lande unterrichten ließ. Seine Hofhaltung verschlang ungeheure Summen und Necker, der frühere Bankier und Syndikus, der mit Turgots Finanzreform sehr groß tat, fand doch nicht den Mut, seinem König die Wahrheit zu sagen. Der arme Ludwig verlor den Kopf und die Krone, weil er durch fremde Augen geschaut, durch fremde Ohren gehört und seinen hohen Beruf als eine Sinecure betrachtet hatte, die man zwischen zwei Jagden versehen könne. Seine persönliche Schuld war gering, denn zu dem Gefühl der Verantwortlichkeit war er nicht erzogen worden, und als der Unerfahrene den Thron bestieg, mochte er glauben, die monarchie absolue, tempérée par des chansons, lasse sich noch ein hübsches Weilchen aufrecht erhalten. Seine Vorgänger aber, alle die liederlichen und leichtfertigen Herren, hatten den Acker bestellt: und als ein blutendes Opfer fiel, der sich für einen reichen Erben gehalten hatte. Vergebens waren die Lehren der Geschichte, waren die Anrufe der Warner gewesen; vergebens hatte Dante in seinem tractatus de monarchia das Ideal eines Weltherrschers aufgestellt, vergebens Rousseau den unbarmherzigen Fürstenspiegel Macchiavellis das Buch für Republikaner genannt, selbst Voltaires Ode an den König, deren Tendenz doch mehr nach Frankreich als nach Preußen wies, war ohne Echo verhallt. Gefällige Fälscher lagerten auf den Stufen des Thrones, jedes organische Band zwischen Fürsten und Volk war zerrissen, und als aus dem Blut, das den Grève-Platz düngte, eine neue Form der Alleinherrschaft wieder emporstieg, da war es eine monarchie parvenue, ein Regiment von des Demos Gnaden, und ein genialer Brecher alter Tafeln, ein brutaler Condottiere aus Korsika, stülpte mit herrischem Griff die Krone aufs Haupt.
Die Revolution richtete sich nicht eigentlich gegen das Königtum; sie entsprang der sozialen Ungleichheit, die Aristoteles früh, in einem zu wenig gelesenen Buch, die Quelle aller Revolutionen genannt hat; und sie hätte den Thron von Frankreich nicht gestürzt, wenn Ludwig XVI. zum Monarchen erzogen worden wäre. Der schwache Vergnügung aber aus der verlotterten Rasse fand seine Mannheit dann nicht einmal, als in den rhythmischen Reigen der Hoftänzer die Carmagnole hineinheulte, und zum letzten Gange noch schritt er ahnungslos, in dem Olympiergefühl, immer und überall das Rechte getan zu haben.
In diesem Olympiergefühl lauert auf die gekrönten Häupter die größte Gefahr. Der byzantinische Kodex hat mit seiner Bestimmung, daß des Königs Wille Gesetz sein solle (Quod principi placuit, legis habet vigorem) nicht nur das alte Deutsche Reich zerstört, er hat auch in den Monarchen gefährliche Triebe geweckt, Triebe, die mitunter verhängnisvoll an den asiatischen Ursprung des Königsgedankens erinnern. Ein Fürstensohn wächst nicht wie ein anderer Sterblicher auf; der Kampf und die Sorge, die uns mit jedem neuen Tage neue Erfahrungen bringen, bleiben dem Prinzen erspart, und so mannigfach sind die Ansprüche, die an seine Repräsentation, an seine Beherrschung äußerer Formen gestellt werden, daß für eine tiefer reichende Bildung wenig Zeit übrig bleibt und oft genug eine dilettantische Geschicklichkeit aushelfen muß. Mit diesem flüchtig erworbenen Besitz nun besteigt der vielleicht kaum mannbar Gewordene den Thron und soll eine Aufgabe bewältigen, die Kenntnis von Menschen und Dingen, Reife des Urteils und selbstlose Bescheidenheit verlangt. Im besten Fall hat er aus der Geschichte etwas gelernt, kennt den kategorischen Imperativ der Pflicht und hat eine sorgfältige Erziehung erhalten; aber eine Erziehung für den Vorhof des Königspalastes, nicht für den wechselnden Anspruch eines neuen Berufes. Erst nach der Thronbesteigung beginnt für ihn die Lehrzeit. Und das Volk, das zunächst fast immer die königlichen Messages of Love, die Thronreden und die verheißenden Programme der Huld, mit »Vertrauen« aufnimmt, das Volk hat später die ernstere Pflicht, dafür zu sorgen, daß der König sich selbst erziehen kann. Jede theoretische Monarchen-Erziehung wird nutzlos bleiben (Seneca war Neros Lehrer): nur durch eigene Erfahrung am meisten durch schlimme, lernen die Könige dieser Welt.
Die erhabenen Traditionen von 1789 haben nicht lange vor der Fäulnis geschützt; die Aristokratie des Geldes, der jede politische Handlung nur ein trade ist, ein Gewinn versprechendes oder mit Verlusten drohendes Geschäft, hat sich ungleich schneller verludert als die Aristokratie der Geburt, die einen alten Namen und Besitz zu wahren hatte und äußerlich mindestens auf sich halten mußte, während die regierende Bourgeoisie wie neue, blanke Münze auch neue Moralbegriffe einzuhandeln gedachte. Die liberale Doktrin will die Zersplitterung jeder Verantwortlichkeit und möchte jedem Dorfschulzen ein Parlament an die Seite geben, damit schließlich gar nicht mehr festzustellen ist, wer für eine Entgleisung oder einen Achsenbruch die Verantwortung trägt; sie will die formale Rechtsgleichheit und die Aufhebung aller Privilegien, damit nur das privilegierte Geld noch herrschen und mit der Hungerpeitsche zu Fügsamkeit zwingen kann. Deutschland ist mit nationalen Heimsuchungen so schwer geprüft worden, daß ihm die Verpuppung der Geldwirtschaft in republikanische Gewande vielleicht erspart werden kann. Das Deutsche Reich und der Deutsche Kaiser sind an einem Tage geboren und das Bedürfnis nach einer Änderung der Staatsform ist heute, da die soziale Bewegung allen Ingrimm aufsaugt, eigentlich nirgends vorhanden. Nahe Gefahr für die Monarchie ist nicht sichtbar. Und dennoch würde der sich einer bewußten Täuschung schuldig machen, der behaupten wollte, daß heute der monarchische Gedanke bei uns noch so feste Wurzeln hat wie vor fünf Jahren. Die ruhige Sicherheit ist fort und mit wachsender Beängstigung fragt die Nation, wie der Deutsche Kaiser sich erziehen werde.
Demosthenes hat in einer seiner Philippiken die Athener verspottet, die immer zu dem Wahne neigten, in zwei Tagen könnten sich alle ihre Wünsche erfüllen. Von ähnlichen Vorstellungen mag Wilhelm der Zweite beherrscht gewesen sein, als er den Thron bestieg und in seiner Nähe hat es wohl nicht an Polignacs gefehlt, die solchen Glauben geflissentlich zu nähren suchten. Er sonnte sich in dem rühmlichen Plan, seinem Reich und Europa ein Reformator zu werden, und als sein Drang sich an einen Felsen stieß, suchte er dieses Hindernis zu zerschmettern. Am anderen Tage fragte, wie nach Mazarins Tode, alle Welt: An wen sollen wir uns nun wenden? Und der zweite Wilhelm zögerte nicht mit der Antwort Ludwigs des Vierzehnten: An mich!
Damals sah Europa ein klägliches Schauspiel: nicht eine Partei hielt dem Gestürzten die Treue; alle beeilten sich, in die wärmende Nähe der neuen Sonne zu kommen. Ein verlogenes Jubelgeschrei begrüßte das Ende des »persönlichen Regiments« und im Westen und Osten begannen unsere Feinde von einer Episode deutscher Größe zu sprechen. Seitdem hat sich die widrigste Schmeichelei an den Kaiser herangedrängt und ihm beinah unmöglich gemacht, die wahre Stimmung im Lande zu erkennen. Sophokles, der die alten und neuen Herren doch besser noch als unser Wildenbruch kannte, hat einmal gesagt, auch der frei Geborene werde in der Nähe der Könige schnell zum Sklaven. Wir haben erlebt, wie die Strahlen der kaiserlichen Gnade jede Regung selbständigen Denkens wegsengten und wie die Geblendeten sich beeilten, für weiß zu erklären, was sie gestern für schwarz ausschrien. Jetzt ist einer Clique gelungen, die Dinge so darzustellen, als ob die Unzufriedenheit nur von dem großen Regisseur im Sachsenwalde inszeniert worden sei.
So dummen Lügen könnte man in behaglicher Ruhe zusehen. Viel gefährlicher ist die Empfindung, daß die Wahrheit heute nicht mehr an den Thron gelangt, daß der Kaiser, von Höflingen, Strebern und politischen Mittelmäßigkeiten umgeben, gar nicht erfährt, wie jeder seiner Schritte mit Mißtrauen verfolgt, jede seiner Handlungen mit unwilligen Kommentaren begleitet wird. Die Unaufrichtigkeit, der er überall begegnet, hindert den Kaiser oder erschwert ihm mindestens, seine Erziehung fortzuführen und zu vollenden. Er hat eine Reihe von wertvollen Erfahrungen gemacht, die ihm gewiß nicht verloren sind, und er würde rasch neue Erfahrungen sammeln, wenn die Parteien sich nicht um die Wette in den Staub würfen, um dem vorwärts Schreitenden den Weg zu versperren. Jede Partei möchte den Kaiser für ihre Zwecke einfangen, ihn, wie Bismarck einmal sagte, als Hospitanten in ihren Reihen sehen.
Das verkehrteste Spiel ist das der Konservativen, schon deshalb, weil sie viel zu verlieren, ihre Nachbarn aber nur zu gewinnen haben. Es is ein Märchen, und ein schlecht ersonnenes obendrein, daß in Preußen und Deutschland eine Konservative Partei nur von der Gnade der Regierung leben kann; wäre das Märchen Wahrheit, dann stände es übel um den Staat und das Reich, wo an der Erhaltung und organischen Fortbildung des Bestehenden niemand mehr interessiert wäre. Eine gouvernementale Partei hat heute sehr wenig Aussicht auf Erfolg, weil die Minister von denen, die hinter den parlamentarischen Schweifwedlern stehen, meist gering geschätzt werden und weil die Person des Monarchen noch in einer Entwickelung begriffen ist, deren Abschluß sich heute nicht überblicken läßt. Niemand darf die Möglichkeit schmälern, Erfahrung zu sammeln. Innerer Besitz will erworben, nicht ererbt, aus Büchern erlesen oder als ein Geschenk gefälliger Freundschaft hingenommen sein. Mit dem Feuer hat fast jeder König einmal gespielt, auch der, dessen blutiger Schatten uns an der Schwelle des neuen Jahres drohend und warnend begrüßte. Auf dem kleinen Theater in Trianon erschien Figaro mit seinem tödlichen Hohn und an den pathetisch grollenden Chorstrophen der Athalia regte die liederliche Hofgesellschaft sich angenehm auf. Der arme Ludwig Capet hatte nicht Zeit, sich selbst zu erziehen; er hörte die dumpfen Erdstöße nicht und sein erstes Erlebnis war auch sein letztes. Seinen gekrönten Vettern aber ist er nicht umsonst gestorben, wenn sie aus seiner Geschichte lernen, daß eines Volkes Vertrauen, das echte, das aus dem Urteil und nicht aus unklaren, flüchtigen Gefühlen stammt, nur durch eine strenge erzieherische Arbeit erworben und bewahrt werden kann, und wenn sie, statt von einem mystischen Olympierbewußtsein, von der Erkenntnis sich durchdringen lassen, daß erst mit dem Besitz der Macht und der Krone die Zeit ihrer Lehrjahre beginnt.