Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am 24. Oktober 1909: Besuch des Zaren bei Viktor Emanuel in Racconigi.
Von Livadia (Südkrim) nach Racconigi (auf der Linie Turin-Cuneo der Mittelmeerbahn) ist's nicht sehr weit. Der bequemste, für einen von grausamer Feindschaft umlauerten Herrscher sicherste Weg führt durch die Dardanellen. Wird Nikolai Alexandrowitsch, der dem König Viktor Emanuel seit sechs Jahren einen Besuch schuldet, diesen Weg wählen? Russische Kreuzer und Torpedoboote mit Osmanenerlaubnis in den Meerengen: das, denkt der ehrgeizige Knirps Iswolskij, würde auf Europa und Asien wirken; und ich hätte für die Gossudarstwennaja Duma eine Trumpfkarte im Spiel. Doch die Diktatoren, die mit Schwert und Galgen in Konstantinopel hausen, zeigen sich schwierig. Möchten, daß Nikolai, der in Livadia Gesandte Mohammeds empfangen hat, am Goldenen Horn stoppen lasse und, als erster gekrönter Gast, die Khalifenpuppe besuche. Dann wird man ihm gern die Meerengen öffnen; für diese Fahrt. Über das Prinzip kann später gesprochen werden. Unmöglich. Jedem echten Russen stiege das Blut in die Schläfen, wenn er hörte, sein Papst-Kaiser habe dem neuen Großherrn, gegen alle höfische Sitte und nationale Würde, den ersten Besuch gemacht. Und der Mönch Theophanes, der jetzt, ein zweiter Konfessor dieses Namens, den Zaren berät, würde als Sprecher der orthodoxen Kirche eifernd gegen den Plan protestieren. Auch empfiehlt Sir Edward Grey, der Dardanellenfrage noch keine klare Antwort zu heischen. »Wir haben Ihnen, als das agreement über die asiatischen Interessensphären paraphiert werden sollte, die Meerengenöffnung zugesagt, können die Leute am Bosporus jetzt aber nicht zu schneller Entschließung drängen; sie haben's schon schwer genug und ihr winziger Kreditrest wäre verloren, wenn sie, ohne sichtbare Gegenleistung, ein wichtiges Schutzrecht der Osmanensouveränität hingäben. Abwarten, Hohe Exzellenz; tout vient à point à qui sait attendre.« Schade, knurrt Herr Iswolskij; das Schauspiel turko-russischer Intimität hätte den Wienern die Galle ins Blut getrieben. Weil der junge Ruhm des Grafen Ährenthal ihn nicht schlafen läßt, hat er Nikolai in den Reiseplan gehetzt, dessen Vertagung gerade jetzt nicht als Unhöflichkeit gedeutet werden konnte. Alexandra Feodorowna siecht an einer schweren Psychose; wer dürfte dem Mann verargen, daß er die seelisch zerrüttete Frau nicht allein lassen, nicht Feste feiern mag, während sie zwischen Ärzten und Wärtern hinwelkt? Doch der Gernegroß will seine Rache: Auf nach Racconigi! Über Odessa-Budapest-Venedig? Nikolai müßte durch österreichisches Gebiet, würde von Vertretern Franz Josephs begrüßt und könnte die üblichen Waggonfloskeln nicht meiden. Der Pfeil, der am Wiener Ballplatz den Feind treffen soll, würde vor dem Ziel gestumpft. Habsburgs Völkern, Habsburgs Slawen, Magyaren, Italienern soll, illuminiert und fresko, die Lehre vors Auge gebracht werden: »Weil euer gerühmter Ährenthal uns Russen nicht die uns gebührende Reverenz erwiesen hat, gehen wir fortan mit dem Staat, in dem eure Regierung den nächsten Gegner sieht, habt ihr für den Tag, wo Italien die Adria zu umklammern versucht, mit unserer Förderung des römischen Trachtens zu rechnen.« Tief prägt sich dem Sinn die Lehre nur ein, wenn der Gossudar aller Reußen zeigt, daß er keinen Österreicher zu sehen wünscht. Die Firma Giolitti-Tittoni hatte ja, nach geschäftiger Bewegung der Botschafter Melegari und Dolgorukij, auch Herrn von Bethmann gebeten, seinen Besuch aufzuschieben. Österreichs Verbündeter vor dem Zaren bei Viktor Emanuel? Das hätte die Eindrucksmöglichkeit gemindert. Wenn Nikolais Reise eskomptiert ist, kann der Kanzler des Deutschen Reiches kommen (und der Minister des Auswärtigen die Onorevoli mit dem Hinweis ködern, daß Italien nie so zärtlich von den Großmächten umworben war). In Berlin ein neuer Kanzler, in Wien Franz Ferdinand noch an die Zustimmung des Ohms gekettet, den ein Krieg um den letzten Machtschimmer brächte: die Gelegenheit ist günstig; erlaubt die Probe, was man den lieben Verbündeten ungestraft bieten dürfe. Nika muß einen beschwerlichen Umweg machen, der ihm den Anblick österreichischen Landes erspart, und Herrn Pichon zum Kolloquium bitten. Rußland, Frankreich, Italien. Der italienische Architekt Monghetti hat in Livadia das Lusthaus gebaut, Le Nôtre in Racconigi den Park geschaffen: alles in schönster Ordnung. Kein Attentat, kein irgendwie beträchtlicher Sozialistenprotest gegen »die Schmach des Zarenbesuches«. Die Anhänger Ferris und Turatis, die gelobt hatten, den Moskowiter mit einer Katzenmusik und einem Generalstreik von Italiens Grenze scheuchen, fühlen, daß ihren Landsleuten die Hoffnung, in Rußland einen starken Helfer gegen das verhaßte Österreich zu finden, wichtiger ist als der schrille Ausdruck demokratischen, proletarischen Grolls. Aus einem Massenmörder und Bluthund, dessen Fußspur, nach dem Wort des Liebknechtsohnes, den Boden eines gesitteten Landes besudelt, wird Nikoläuschen flink zu einem Mann optimae voluntatis, der seinem Reich eine Verfassung gegeben, mit seinem Volke großherzig das Recht zur Gesetzgebung geteilt hat und neben dem Herr Nathan, der radikal-demokratische Bürgermeister von Rom, Republikaner, Großmeister der Freimaurerloge und Todfeind aller Tyrannei, getrost an der Prunktafel sitzen darf. Können die Trinksprüche der Monarchen ihn etwa ärgern? Interessengemeinschaft, Einheit der Ziele; Achtung der Volkswesenheit; Wahrung des Friedens; aufrichtige Freundschaft. Diesen Kuß der ganzen Welt! Nichts, was das Ohr eines Verrina aus Sems Samen zu kränken vermöchte. Boshe Zarja krani! Italiens albanische Sehnsucht ist dem Ziel endlich näher. Frankreich und Rußland sind ihm innig gesellt und aus Buckingham Palace schickt der royal merchant seinen Segen.
Dem hat Nikolai Alexandrowitsch, hat Viktor Emanuel die hellen Oktobertage zu danken. Und kein Gerechter kann heute noch sagen, über Bluffs komme Eduard mit all seinen Künsten doch niemals hinaus. In Deutschland muß die Furcht, das Reichsschiff ins Wiener Schlepptau gleiten zu sehen, Unbehagen zeugen. Die deutsche Wirtschaft hat auf dem Balkan andere Interessen als die österreichische; und Bismarck hat stets vermieden, den Österreichern die Gewißheit zu geben, daß Deutschland für ihre galizische und orientalische Position das Schwert ziehen werde. Diese Überzeugung, meinte er, würde in Wien die Tendenz schaffen, uns in Abhängigkeit von den Orientplänen ruhmsüchtiger Erzherzoge und Minister zu bringen. Daran wird man sich bald wieder erinnern und dann, bei aller Bundestreue, nicht mehr nach der Ehre lechzen, der österreichischen Diplomatie die Kastanien aus dem Feuer zu holen, das sie, ohne sich um die Berliner Zustimmung zu kümmern, angezündet hat. Ist's so weit, dann kann der Versuch von 1908 mit besserer Aussicht auf Erfolg wiederholt werden. Hat der King nicht, nach alter Britentradition, als kluger Opportunist gehandelt? Daß es gelang, Britannien, Rußland, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und die wichtigsten Balkanmächte in einen Pool, eine Interessengemeinschaft zu bringen, ist doch keine Kleinigkeit. Und Deutschland und Österreich sind nun in der Kälte allein.
Natürlich denkt niemand an feindseliges Handeln gegen die Isolierten. Natürlich. Ehe Wilhelm in den Schären die Fallreeptreppe der russischen Kaiserjacht »Standarte« hinabstieg, sprach Nikolai zu ihm: »An der Seite deiner Feinde wirst du mich niemals finden.« Ehe Eduard das Berliner Schloß verließ, sagte er (der vorher mit keiner Silbe ein politisches Gebiet gestreift hatte), er verkenne durchaus nicht die Pflicht, den großen deutschen Überseehandel durch Kriegsschiffe zu schützen, und sehe in der Erfüllung dieser Pflicht keinen Grund zu britischem Groll. Wenn Viktor Emanuel mit Franz Joseph zusammenkäme, fielen sicher ähnliche Worte. Will man bei uns nicht endlich aufhören, solche Phrasen ernst zu nehmen und auf Flaggenstangen in transparenter Schrift durchs Land zu tragen? Mit Bettlergier die kärglichen Almosen aufzulesen, die uns vom Tisch pokulierender Könige gespendet wurden? In Dienstbotendemut hastig zu verzeichnen, was irgendwie Iswolskij oder Tittoni über die »friedlichen Tendenzen seines erhabenen Herrn« geschwatzt hat? Das alles wäre mit der kleinsten Kupfermünze noch zu teuer bezahlt. Die Absicht, den starken Konkurrenten einzukesseln oder gar anzugreifen, wird kein halbwegs Gescheiter je vorlaut ausplaudern. Nein: alles geschieht nur zum Schutz des Weltfriedens. Der wäre längst gefährdet, wenn der kingpeacemaker ihn nicht sorgsam schirmte. Hat Iswolskij nicht neulich erst in Berlin gesagt, Rußland wolle mit dem Deutschen Reich in bester Freundschaft leben, könne sich mit dem Österreich Ährenthals aber nicht in Geschäfte einlassen? Hat er nicht noch in Racconigi der internationalen Schreibergilde erklärt, das neue Abkommen richte sich nicht gegen irgendeine Macht, sondern beweise nur, wie inbrünstig zwei Herrscher, zwei Völker den Frieden wollen? Solcher Schwatz wird in Deutschland gedruckt, von Exzellenzen und Abgeordneten wiederholt und von Millionen mündiger Menschen für beträchtlich genommen.
Nach lieber Gewohnheit fängt man in Deutschland wieder an, den neuen, in Defio beschlossenen, in Racconigi besiegelten Bund zu bespötteln. »Was wird denn herauskommen? Der Ertrag wird ebenso unfindbar sein wie der aller bisher vor unserem Auge und hinter unserem Rücken ausgetauschten Bündnisverträge und Freundschaftsbeteuerungen.« Ist dieser Ertrag wirklich unfindbar? Alle wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre sind, in Ostasien und am Persergolf, in Nordwestafrika und Südosteuropa, gegen unseren Willen oder mindestens ohne unsere Mitwirkung Ereignis geworden. Alle Imponderabilien deutscher Macht sind verzettelt, verschwatzt, verzaudert. Unsere Verhandlungsfähigkeit reicht nur just so weit noch wie die Treffkraft unserer Kanonen. Als der vierte Kanzler die Möglichkeit aufdämmern ließ, vier Millionen deutscher Soldaten könnten mobil gemacht werden, wich der Britenkonzern für ein Weilchen zurück. Doch Millionen Britenhirne ersehnen den Tag, der Deutschlands Kolonien unter fremde Flagge bringt, Deutschlands Flotte als einen Trümmerhaufen in den Meeresgrund scharrt. Wo wäre dann ein starker Freund, der uns beistünde, einer nur, der aufrichtig mit uns trauerte? Alle Nachbarn, Vettern und Stammverwandten würden vergnügt die Hände reiben. Alle. Das Häuflein österreichischer Deutschen, deren Seele in unserem Reich die zweite Heimat liebt, könnte seinen Schmerz nur in verhallende Worte lösen. Für diesen Tag aber (das blödeste Auge müßte es längst gemerkt haben) wird in Ost und West so betriebsam vorgearbeitet, für den Tag anglo-deutscher Auseinandersetzung so geschäftig in Nord und Süd. Und nur ein Tropf oder ein Trüger kann diese Vorarbeit ertraglos, unnützlich nennen. Großbritannien hat in der Abwehr deutscher Gefahr schon heute erreicht, was es ohne Blutverlust irgend erreichen konnte.
»Aber wir haben, du langweiliger Querulant, ja den Dreibund; und du hast eben erst wieder gelesen, daß die italienische Regierung gar nicht daran denkt, diesen Vertrag zu kündigen, dessen Wert kein anderes Bündnis ihr ersetzen könnte. Von Offiziellen und Offiziösen gehört, daß die neuen Abkommen Italien nicht im geringsten hindern, ein zuverlässiges Mitglied des Dreibundes zu sein und zu bleiben. Was ist in Cowes, Cherbourg, Racconigi denn erstrebt worden? Die Erhaltung des Friedens; die Sicherung des status quo. Warum, du närrischer Jeremias, soll mit solchen Tendenzen der ehrwürdige, der in drei Jahrzehnten bewährte Dreibund unvereinbar sein?« Darauf antworte ich: Diesen albernen, nichtsnutzigen, dem Reich gefährlichen Schwatz haben wir allzu lange schon gehört. Schlucket ihn, wie anderen Ekelquark, herunter und duldet nicht, daß euch je wieder ein ähnlicher Brei aufgeschüsselt werde. Lüge ist die Behauptung, daß zur Erhaltung des Friedens, zur Sicherung des Status quo neue Verträge, Pools, ententes nötig seien. Lüge die Angabe, die Tittoni und Iswolskij seien friedlich vereint, um den Besitzrechten auf dem Balkan Dauer zu verbürgen. Lüge das Leierlied, das in hundert Strophen beteuert, die im letzten Lustrum übernommenen Pflichten hinderten nicht die treuliche Erfüllung der alten. Lüge, wissentliche, und kindischer Schwindel längst der ganze Dreibund. So derb und grob muß man zu denen sprechen, die leise andeutender Rede ihr Ohr immer wieder verschließen.
»Die Haltbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten ist eine bedingte, sobald sie ›in dem Kampf ums Dasein‹ auf die Probe gestellt wird. Keine große Nation wird zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo obligatur kann durch keine Vertragsklausel außer Kraft gesetzt werden; und ebensowenig läßt sich durch einen Vertrag das Maß von Ernst und Kraft sicherstellen, mit dem die Erfüllung geleistet werden wird, sobald das eigene Interesse des Erfüllenden dem unterschriebenen Text und seiner früheren Auslegung nicht mehr zur Seite steht. Die internationale Politik ist ein flüssiges Element, das unter Umständen zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmosphäre in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt. Die clausula rebus sic stantibus wird bei Staatsverträgen, die Leistungen bedingen, stillschweigend angenommen. Der Dreibund ist eine strategische Stellung, welche angesichts der zur Zeit seines Abschlusses drohenden Gefahren ratsam und unter den obwaltenden Verhältnissen zu erreichen war. Er ist von Zeit zu Zeit verlängert worden und es mag gelingen, ihn weiter zu verlängern; aber ewige Dauer ist keinem Vertrag zwischen Großmächten gesichert und es wäre unweise, ihn als sichere Grundlage für alle Möglichkeiten betrachten zu wollen, durch die in Zukunft die Verhältnisse, Bedürfnisse und Stimmungen verändert werden könnten, unter denen er zustande kam. Er hat die Bedeutung einer strategischen Stellungnahme in der europäischen Politik nach Maßgabe ihrer Lage zur Zeit des Abschlusses; aber ein für jeden Wechsel haltbares, ewiges Fundament bildet er für alle Zukunft ebensowenig wie viele frühere Tripel- und Quadrupel-Alliancen der letzten Jahrhunderte und insbesondere die Heilige Alliance und der Deutsche Bund. Er dispensiert nicht von dem: Toujours en vedette!« Diese Sätze hat Bismarck nach der Entlassung geschrieben und in das Kapitel gefügt, in dem er seine Nachfolger und Landsleute warnt, »Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen und im Balkan österreichische Interessen zu vertreten.« Er hätte Österreich ersucht, den Balkankonflikt, den der Bündnisfall nicht decke, allein durchzufechten. Im vorigen Jahr blieb uns keine Wahl: schon wohlwollende Abstinenz hätte Österreich in den Konzern der Gegner getrieben. Daß wir des letzten Freundes wegen uns Rußland und dem Islam verfeinden mußten, zeigt, wie arm wir durch die mutlos grimassierende Politik geworden waren. Bismarck hielt 1892 das Bündnisinstrument für ziemlich verbraucht und rechnete mit Möglichkeiten, die nicht einmal im engen Bereich deutsch-österreichischer Solidarität lagen. Italien erwähnte er kaum. Er wußte, daß die Angliederung Italiens nur als ein pfiffig ersonnenes Kunststück, nicht als eine fortzeugende Genietat in der Geschichte leben werde. Das Bündnis mit Österreich ließ Deutschland ohne Deckung gegen einen französischen Krieg; und dem suggestiblen und nach jedem Lorbeerreis langenden Crispi war leicht einzureden, die Republik der Gambetta und Galliffet gefährde die italische Freiheit und die Souveränität des Hauses Savoyen. (Gerade Crispis Abschwenkung zu Deutschland und den Usurpatoren von Triest und Trient hat dann die Franzosen, die darin Undank empfanden, gegen Italien gestimmt.) Von diesem Erfolg arminischer List sprach der Entlassene lächelnd, ohne ernsten Stolz, wie von einer Bülte, auf die der spürsinnige Entenjäger seinen Fuß gestellt hatte. Zu spät sah er ein, daß ihm Irrtum das Auge trübte, als er Italien zu den saturierten Staaten zählte. Gesättigt (schon Crispi hat's leise angedeutet) wird sich das Königreich vielleicht fühlen, wenn es beide Küsten der Adria umfaßt und im Orient mitschmausen darf. Das ahnte Bismarck erst, als Rudini mit den Russen zu äugeln begann und Herr von Giers als postillon d'amour nach Monza ging. »Folge des caprivischen Verzichtes auf die Rückversicherung. Die Russen sind unsicher geworden, suchen neue Geschäftsfreundschaft und meinen, mit Italien, das mit Österreich die alte Irredentarechnung auszugleichen hat, sei was zu machen. Aber Italien ist auf Englands Flottenschutz angewiesen und kann sich deshalb nicht sehr tief mit Rußland einlassen. Immerhin wird's Zeit, diese Seite unseres Festungdreiecks mit ziemlicher Vorsicht zu behandeln. Zehn Jahre lang hat die strategische Stellung abschreckend gewirkt. Und solange wir den russischen Kaiser nicht direkt vor den Kopf stoßen, wird er den Franzosen nicht nach Straßburg helfen.« Seitdem sind wieder drei Lustren hingegangen. Was Bismarck mit ruhiger Kraft verhindert hatte, ist Wirklichkeit geworden: nach der franko-russischen die franko-britische und die anglo-russische Verständigung. Würde er heute noch von italienischer Bundesgenossenschaft reden?
Das Bündnis sollte Italien vor französischer Ingerenz schützen und dem Deutschen Reich zur Waffenhilfe gegen französischen Angriff verpflichten. Heute ist Italien der Nachbarrepublik, an die sein Wirtschaftsbedürfnis es weist, eng befreundet; und wenn unsere Westgrenze bedroht wäre, stieße aus dem Land Viktor Emanuels kein Mann zu unserem Heer. Italiens Protektor ist Deutschlands Feind: Großbritannien. Italiens einziger Feind ist ihm und Deutschland verbündet: Österreich-Ungarn. Was ist von solchem Bündnis noch zu erwarten? Daß die Italiener, die sich selbst nachsagen, daß sie oft Dummheiten reden, doch nie Dummheiten machen, das Band nicht lösen, ist begreiflich. Schon Nigra rief, Italien könne mit Österreich nur im Bündnis oder im Krieg leben. In Tirol steht Austria gewaffnet auf der Hochwacht; seine Offiziere ersehnen die Gelegenheit, die auf manchem Feld Besiegten noch einmal zu schlagen: und am Ende ist's besser, mit Conrad von Hötzendorf einstweilen noch nicht die Klinge zu kreuzen. Für Italien hat der Dreibundvertrag den Wert einer Wartehalle, in der es die dem Kriegswagnis günstigste Stunde ungefährdet erlauern kann. Das Ansehen des Deutschen Reiches bürgt den Savoyern gegen österreichischen Angriff. Und den Habsburg-Lothringern gegen italischen. (Bis auf weiteres, muß der Vorsichtige hinzusetzen.) Welchen Vorteil aber bringt uns dieser Bund? Wo auch nur noch den winzigsten? In allen Krisen der letzten Jahre stand Italien bei unseren Gegnern.
Dürfen wir die römischen Herren darum schelten? Nein. Sie handeln, wie sie müssen; zu müssen wähnen. Und können sich, wenn sie ablehnen, allzu viel auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, auf Bismarck selbst berufen. Sie möchten ihren unter österreichischer Herrschaft lebenden Landsleuten eine hellere Zukunft erwirken, die Adria in ein Italermeer wandeln und von Albanien aus sich die großen Straßen des Orienthandels öffnen. Das ist nur zu erreichen, wenn der schwarzgelbe Wall überklettert ist. Wir können nichts für sie tun; sie auch nicht mehr mit der Drohung schrecken, Österreich werde uns bei Abwehr und Angriff an seiner Seite finden. Wir können nichts bieten; also auch nichts verlangen. Sie wären Dummköpfe, wenn sie Britanniens, Frankreichs, Rußlands Freundschaft verschmähten, um in Berlin zu beweisen, daß sie bis zum letzten Wank im Kleinsten noch Treue halten. Seit sie mit Frankreich in Eintracht leben, geht's ihnen gut und sie haben den größten Teil ihrer einst ins Ausland abgegebenen Staatsrente zurückgekauft. Kein triftiger Grund also zum Tadel. Nicht einmal der Unaufrichtigkeit dürfen wir die Männer der Consulta beschuldigen. Sie sind höflich wie alle Romanen; haben längst aber ihres Herzens Wollen nicht mehr geborgen. Nur fühlen sie sich verpflichtet, jede Zweideutigkeit zu meiden. Wer sie noch nicht verstehen will, gleicht dem Wicht, der, da ihn der Speichel des Verächters genäßt hat, blinzelnd aufschaut und wimmert: »Es scheint ja zu regnen«.
Italien hofft in einer anderen Gruppe seinen Vorteil besser zu wahren. Solcher Hoffnung den Weg auch nur eine Stunde zu sperren, wäre ein Staatsverbrechen. In Verträgen, für die im Notfall Mark und Blut, Gut und Ehre des Volkes zu haften hat, dürfen wir nicht Girlanden sehen, die man, auch wenn sie verblüht und vergilbt sind, noch eine Weile hängen läßt, weil das dürre Blattwerk doch besser aussieht als die kahle Mauer. Wollen wir warten, bis Italien den Vertrag zerreißt und die Fetzen über den Brenner wirft?