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Im Militärgefängnis sitzt manche Woche nun schon ein Mann, der gewöhnt war, die schwülen Julitage sonst unter den schattigen Wipfeln des eigenen Herrschaftsparkes zu verbringen: der Zeremonienmeister Lebrecht von Kotze. Er war als ein wohlhabender Lebemann von nicht streng altpreußischem Schnitt längst bekannt, als ein heiter genießender Herr, der nicht, wie mancher Standesgenosse, auf Schritt und Tritt das Ehrfurcht heischende Abzeichen seiner hohen Hofwürde mit sich herumschleppte. Wenn Herr von Kotze den langen Weg von seiner Tiergartenwohnung bis zum Schlosse durchwandelte, dann lag auf seinen scheinbar von ernstester Sorge gefurchten Mienen wohl ein feierlicher Glanz und der Hoffremdling sah in dem würdigen Herrn mit der umfangreichen Aktenmappe vielleicht einen wichtigen Berater der Krone. Dieser Eindruck pflegte sich bei der Rückkehr des Zeremonienmeisters aus den Diensträumen nicht zu verstärken: ein tiefernster Mann erschien, der dem ihm Begegnenden seufzend wohl mitunter von der lastenden Verantwortlichkeit seines Berufes erzählte, von den bedeutsamen Konferenzen, die er eben gehabt, und von den Erwägungen, die er der maßgebendsten Stelle gerade unterbreitet hatte. Die Eingeweihten lächelten leise dazu, denn sie wußten, daß der Kaiser zwar das gastliche Haus des Herrn von Kotze manchmal mit seinem Besuch beehrte und dem Zeremonienmeister nicht selten deutliche Zeichen seines Wohlwollens gab, daß aber von einem politischen Einfluß des Hofbeamten nicht ernstlich die Rede sein konnte. Die ferner Stehenden hatten nach dieser Richtung indessen doch einige Zweifel und in einzelnen Diplomatengruppen hielt man es seit zwei, drei Jahren für wünschenswert, mit dem »wichtigen Mann« gute Beziehungen zu unterhalten. Vielleicht ist Herr von Kotze jetzt selbst geneigt, sein früheres Verhalten zu bedauern, das den Schein einer (nicht gerade geschmacklos, doch etwas unvorsichtig) hervortretenden Wichtigtuerei nicht immer mied; wer weiß ob der häßliche Verdacht ihn überhaupt betroffen hätte, wenn er nur in geistiger Abendtoilette der Gesellschaft bekannt gewesen wäre. Denn nach der Tagesarbeit war der Zeremonienmeister nicht wiederzuerkennen: jeder Sinn für Feierlichkeit fehlte ihm dann; wo fröhliche Weisen und schöne Frauen lockten, tauchte er auf, die Allerweltsmeinung hielt ihn für einen liebenswürdigen, völlig harmlosen und stets gefälligen Herrn, der lebte und leben ließ, für durchaus bon enfant; und das Erstaunen war groß und schmerzlich, als dieser joviale Genießer plötzlich in den Verdacht eines Vergehens geriet, das nur ein ungewöhnlicher Mangel an Anstand und guter Sitte ausreichend erklären könnte.
Denen freilich nur, die nicht in die Intimität der Hofzirkel gelangen, kam die Enthüllung plötzlich zu Ohren; die engeren Kreise der heute merkwürdig wirkenden Institution, die man einen Hof nennt, sahen das Ungewitter heraufziehen und in immer dichteren Wolken sich drohend zusammenballen. Seit vier Jahren (das Datum ist nicht uninteressant, weil es die Erinnerung an den Rücktritt des Fürsten Bismarck weckt) ging in der Hofgesellschaft ein Gespenst um, das zwar nicht so unheilvoll und so bedeutsam erschien wie die Weiße Frau, das aber doch überall Unruhe und Beängstigung schuf, wo es sich zeigte. In anonymen Briefen, die teils geistreich und fast poetisch, teils plump und unflätig abgefaßt waren, wurden Mitglieder des Kaiserhauses und des Hochadels beschimpft und verdächtigt. An kleine Verfehlungen, wie etwa das Betreten eines der Hofgesellschaft gesperrten Saales, oder an winzigen Kompetenzstreit wurden boshafte und oft unaussprechlich rüde Bezichtigungen geknüpft, unvorsichtige Äußerungen wurden denunziert und gehässig kommentiert und selbst Blicke schien die geheime Palastpolizei in ihre Konduitenlisten sorgfältig einzutragen. Der unbehagliche Spuk wurde zunächst schweigend erduldet; jeder und jede hielt sich für den einzigen Empfänger der anonymen Briefe und scheute sich, vor den anderen von dem Unfug zu sprechen. Allmählich aber merkte man, daß hier nicht nur die Ranküne eines einzelnen Höflings walten könne, irgendeines unbedeutenden Mannes, der seine Muße zu bösartigen Sticheleien nutze. Der Briefschreiber, das wurde bald klar, mußte zu den Einzelheiten gehören, denn er verriet selbst mit den intimsten Vorgängen eine auffallende Vertrautheit: den Häuptern, denen er Ärger und Unannehmlichkeiten verkündete, blieb mindestens ein flüchtiger Augenblick des Unbehagens, ein Verweis oder eine ungnädige Behandlung, selten erspart. Und nun, da man in dem nächtigen Treiben ein System erkannte, nun bildeten sich auch Gruppen und Grüppchen, in denen die Erfahrungen und Beobachtungen ausgetauscht wurden, und ein Raunen und Murmeln begann, das lange freilich in angstvoll umhegten Grenzen blieb. Doch das ruhige Behagen war gestört, in gewissen Verkehrszentren fühlte niemand mehr für den kommenden Morgen sich sicher und die Bedrohten schlossen sich eng aneinander, um gemeinsam dem Gespenst auf den Leib zu rücken. Das war die kritische Stunde, da die Jagd nach Indizienbeweisen ihren Anfang nahm. Wer hatte ein Interesse daran, diesen oder jenen zu verdächtigen? Offenbar einer, dem dieser oder jener im Lichte stand, dem er ein Hofamt, eine Auszeichnung, eine Gnade versperrte. Wer konnte diesen oder jenen Vorgang zur Anzeige bringen? Offenbar nur einer, der den Vorgang selbst mit angesehen hatte. Nun traf es sich, daß in den Fembriefen mitunter Vorfälle berührt wurden, bei denen Herr von Kotze zugegen gewesen war; Damenrivalitäten mögen hinzugetreten sein, Antipathien sich geregt haben, kurz: allgemach verdichtete sich ein Gerücht, das den Zeremonienmeister mit dem anonymen Schmäher in enge Verbindung brachte, und es kam eine Zeit, wo man in den intimen Zirkeln zu sagen pflegte: Kotze hat's gesehen, in drei Tagen kommt ein anonymer Brief; und manchmal kam er auch wirklich. Auf diesem schwanken Steg schritt man dann vorwärts, bis die Entdeckung der seither berühmt gewordenen Löschblätter zur Verhaftung des Herrn von Kotze führte.
Was einstweilen herumgetragen wird, zeigt mit Klatschgeschichten eine bedenkliche Ähnlichkeit und reicht nicht annähernd aus, um einen vornehmen Mann einer erbärmlichen Gemeinheit zu zeihen. Die Interessen des Herrn von Kotze teilt wohl mancher unter seinen Kollegen; die Vorgänge, die er mitangesehen haben soll, haben wahrscheinlich mehr als diesen einen Zeugen gehabt und sie können auf dem gar nicht ungewöhnlichen Wege der Geschichtenträgerei sehr bequem auch bis zu einer Stelle gelangt sein, die vielleicht mit der Hofgesellschaft in gar keiner Verbindung steht. Völlig romanhaft, höchstens wie eine matte Sardouszene, wirkt die Erzählung von der Beweiskraft der gefundenen Löschblätter; ein Mann, der über eine prächtige Privatwohnung verfügt, müßte nicht im Besitz seiner gesunden Sinne sein, wenn er Schmähbriefe, deren Entdeckung seine Existenz vernichten würde, in seinem Amtszimmer oder im Kasino schriebe und die Spuren nicht mit äußerster Sorgfalt tilgte; der Umstand, daß man an solchen Orten Löschpapier mit kompromittierenden Schriftzügen fand, scheint eher auf ein Komplott zu deuten, dessen Opfer der vielfach beneidete Herr von Kotze werden sollte.
Aber der einzelne Fall, der noch nicht aufgehellt ist und über den auch die besser Informierten öffentlich einstweilen ihr Urteil zurückhalten, verdient die Aufmerksamkeit ernsthafter Menschen nicht. Auch der Rücktritt bekannter Persönlichkeiten von ihren hohen Hofämtern ist keine Tatsache von allgemeiner Bedeutung. Und wenn die Angelegenheit, die nachgerade die Dimensionen eines beträchtlichen Hofskandals angenommen hat, trotzdem auch verständige Leute beschäftigt, wenn sie in der Menge eine täglich wachsende lüsterne Neugier erregt, dann muß, außer der leicht entfachten Lust an schrillen Sensationen, auf dem Grunde dieses Interesses doch wohl ein dunkles Empfinden ruhen, das der Klärung bedarf.
Mehr als in irgendeinem anderen modernen Lande sind im deutschen Norden die einzelnen Klassen und Kasten von einander getrennt. Die Rangordnungen und die Verschiedenheiten im Niveau werden so ängstlich gewahrt, so bündige Satzungen regeln die hochwichtige Frage, wer bei einem Honoratiorendiner zuerst aufstehen und als erster sich verabschieden darf, daß ein Gesellschaftsverkehr, wie andere Länder ihn unter Menschen von gewissen gleichartigen Lebensgewohnheiten kennen, schon deshalb sich nicht herausbilden kann. In Norddeutschland ist man nicht ein Gentleman, ein Herr X. oder von Y., dessen Titel und Amt nicht in Betracht kommen, sondern ein Professor, ein Geheimrat, ein Major oder ein Hüttendirektor; man wird eben nach der Sprosse beurteilt, die man auf der Leiter äußerer Ehren und Würden erklettert hat, und die einzelnen Mandarinen sondern sich wieder in Gruppen und Cliquen ab. Die besonderen Verhältnisse der Reichshauptstadt, auf die noch heute die Schilderung der Frau von Staël paßt, kennen eigentlich nur zwei Arten wirklicher »Gesellschaft«: die Offizierskreise und, eng damit verbunden, den Hof. In den Bankiervillen tummelt sich ein bunter Troß von Eintagsberühmtheiten: große Modedichter, die morgen vielleicht vergessen sind, und große Gründer, die übermorgen vielleicht das Zuchthaus streifen oder erreichen. In die sparsame Geselligkeit der Gelehrtenkreise klemmt oft sich ein kleinlicher Klüngelgeist, der ein behagliches Gefühl der Niveaugleichheit nicht aufkommen läßt. Nur in der Waffenkameradschaft und in der Hofgesellschaft herrscht die ruhige Sicherheit, die aus der Überzeugung stammt, daß der Nachbar, mit dem man sich unterhält, was er auch sonst sein mag, jedenfalls ein Kavalier ist, ein Mann von gewissen Sitten, Gewöhnungen und Ehrbegriffen, die eine gesellschaftliche Gleichheit selbst für die im Rang Unterschiedenen schaffen. Diese Sphäre ist aber der Mehrheit ein völlig unbekanntes Gebiet; sie erfährt zwar, welche Uniformen die Prinzen und welche Toiletten die Prinzessinnen getragen haben, aber sie ahnt nichts von der besonderen Eigenart dieser Gesellschaft und von den Formen ihres Verkehrs. So ist dieses geheimnisvolle Land allmählich von Legenden und Sagen umsponnen und wie eine Märchenwelt mit allem, was gut und schön und edel ist und was lieblich duftet, von der gläubigen Phantasie ausgestattet worden. Der nicht Hoffähige hört vom Hof nur, wenn eine Staatsaktion sich abspielt, wenn ein Ball veranstaltet, eine Prunkoper aufgeführt, eine Parade abgehalten, ein Monarchenbesuch gefeiert oder eine Kirche eingeweiht wird; was in der Zwischenzeit sich ereignet, bleibt seiner Kenntnis verborgen und der enge Kreis, in dem sein Umgang sich meist bewegt, gibt ihm auch nicht den Maßstab für die Beurteilung so ganz anderer Verhältnisse. Daraus erklärt sich die unbändige Neugier, die um Hofberichte und Hofgeschichten sich drängt und der seit einigen Jahren eine bedauerlich reiche Nahrung geboten wird. Daraus erklärt sich auch das starre Staunen, das jetzt den Fall Kotze umgafft: ein Eckchen des Zauberschleiers ist gelüftet und die Menge steht enttäuscht, da sie im erträumten Wunderlande nun allerlei häßliche Händel entdeckt.
Unter den Gebildeten, die zwar nicht gerade mit ernsten Geschichtstudien, doch mit historischem Klatsch sich eifrig beschäftigt haben, ist die Stimmung geteilt. Die Skeptiker, die nicht wundergläubig sind, zucken die Achseln und meinen, an den angeblichen Enthüllungen sei nichts neu, denn ein Hof bleibe eben immer ein Hof und an allen Höfen seien Skandalgeschichten stets auf der Tagesordnung gewesen. Die Sozialkritiker aber, die unruhig nach den Ähnlichkeiten verschiedener Kulturepochen forschen, blicken bekümmert drein; sie wittern ein gefährliches Fäulnissymptom und sie schauen ängstlich zur rissigen Spitze der Pyramide empor, deren Basis schlimme Gewalten unterwühlen. Soll, da eben erst durch die Ermordung des Herrn Carnot die Erinnerung an den Schrecken der Revolution wach geworden ist, auch eine zweite Auflage der Halsbandgeschichte uns beschieden sein, die mit gefälschten Briefen und mit Indiskretionen des Kardinals Rohan kurz vor dem Zusammenbruch der alten Herrlichkeit begann? Und daneben dringen andere bange Fragen hervor: Von welcher Art sind die Leute, die den Kaiser täglich umgeben? Welchen Einflüssen könnten die Entschließungen des Monarchen ausgesetzt sein? Und ist eine Institution noch länger aufrecht zu erhalten, die zwischen dem Volk und seinem höchsten Repräsentanten unübersteigliche Schranken errichtet und die selbst für die politisch verantwortlichen Ratgeber (man denkt an Bismarcks Klagen über die Hoffriktionen) sehr ernste Gefahren auftürmen könnte?
Aus früher Feudalzeit hat die Sitte der Hofhaltung sich fortgeerbt. Damals lebten die Herrscher im Feldlager oder in Zwingburgen und die Edelleute versahen dort den Hausdienst: sie sorgten für angemessene Wohnung und Nahrung, sie waren beim Kleiden und Rüsten dem Herrn behilflich und hielten darauf, daß seine Pferde und Falken ausreichende Pflege hatten. Dann zogen die Tage der Fehden und Fronden herauf und nun fiel dem Hofadel die Aufgabe zu, den Herrscher zu schützen und vor seinem Palast die Wache zu halten. Von dieser ursprünglich praktischen und vorwiegend militärischen Einrichtung ist längst nur noch eine leere Form übrig geblieben. Heute hat der Hofadel nichts oder so gut wie nichts zu tun, die Würden, unter deren Gewicht er einherstolziert, sind nur scheinbare Bürden, sind in Wirklichkeit nur eine pomphafte Parade, und wenn von den Hofbediensteten einer den Schein erregt, als sei er mit hochbedeutsamen Erwägungen beschäftigt, während er allenfalls über Ordensverleihungen, Zeremonialgeschäfte oder Etikettefragen nachdenkt, dann verfällt er bei den Standesgenossen bald der Lächerlichkeit. Dieses glänzend inszenierte Leben geschäftigen Müßigganges aber beherrscht in seinem ganzen Umfange ein Gedanke, ein Wunsch und ein Wille: der, dem Herrn, dem man dient, sich möglichst angenehm zu machen. Dieselben Edelleute, die auf der eigenen Scholle eine annähernd königliche Existenz genießen könnten, bequemen sich willig in den Dienst eines Königs, dem sie praktisch nicht nützen, dessen Säle und Vorzimmer sie nur mit dem Glanz ihrer Uniformen und mit dem Gewimmel ihrer von Gold strotzenden Röcke ausputzen können. Beim Eintritt in diese Welt inhaltlosen Gepränges verlieren sie aber auch ein wichtiges Stück ihrer individuellen Besonderheit: aus Freien werden sie Unfreie, aus Persönlichkeiten Ziffern, denn sie müssen auch geistig in pralle Uniformen und knappe Galakleider sich zwängen, sie dürfen nicht geistreicher scheinen als die hohen und höchsten Herrschaften, sie müssen nach deren Stimmung und Laune sich richten und mit äußerster Vorsicht ein Lächeln verbeißen, wo die Gebietenden gerade ernste Mienen um sich zu sehen wünschen. So ist eine sozial ungemein wichtige Klasse, ein großer Teil des reichen und saturierten Hochadels, dem Organismus unserer Gesellschaft verloren; und damit schwindet ein Gegengewicht, das der unruhigen Betriebsamkeit des Kleinadels die Wage halten und in einer demokratisierten Zeit sehr wohltätig wirken könnte. Und diesem Verlust steht kein Vorteil gegenüber als der Gewinn einer glänzenden Äußerlichkeit; der Hof hat die Bedeutung aus der Feudalzeit eingebüßt, die Ritter und Bannerherren sind schmiegsame Höflinge geworden, sie seufzen und triefen unter nichtigen Mühen, sie werden zu lächelnden Schranzen und sperren dem Herrscher, den sie umdienern, den schmalen Pfad, der die Fürsten zur Wahrheit führt. Ohne Marinellis aber sind auch die Prinzen von Guastalla nicht denkbar.
In dieser müßigen Welt nun, die immer den Schein der Geschäftigkeit zeigt und die doch mit beflissenem Eifer nur nach der Anerkennung des Einen strebt, ist für jede Art der Intrige der Boden bereitet. Jede Tätigkeit, die den Geist ernstlich beschäftigen könnte, fehlt, Äußerlichkeiten, die sonst nur in menschlichen Damendramen eine Rolle spielen, füllen vom Morgen bis zur Mitternacht und darüber hinaus die Stunden und so bleibt, ganz wie in der üppigen Stille parfümierter Boudoirs, die Muße, die Lust und die Stimmung, zu feinen und groben Gespinsten die Fäden zu knoten. Wie man einen gnädigen Blick, einen huldreichen Gruß erhaschen, wie man beim Cercle einen günstigen Platz erlisten, dem Rivalen ein Bein stellen, die Rivalin durch eine auffallende Toilette überstrahlen, einen Unbequemen in ein unvorteilhaftes Licht rücken kann: solche und ähnliche Erwägungen sind dem Höfling und seiner selten besseren Hälfte gewöhnlich nicht fremd. Und von da ist nur noch ein Schritt bis zu kleinen und großen Perfiden, zu Treulosigkeit und Verrat und zu den dunklen Künsten anonymer Schmähbriefstellerei. Wenn wir die Hofgeschichte des letzten Jahrhunderts durchblättern, dann werden wir sehen, daß die Skeptiker recht hatten und daß man in allen höfischen Chroniken auf dieselben Erscheinungen stößt. Auch die Löschblätteraffäre ist keine Neuheit von diesem Jahr; sie wirkt nur befremdend, weil diesmal die Löschblätter nicht ängstlich der staunenden Menge verborgen werden und weil neue Anschauungen auch eine veränderte Auffassung des höfischen Treibens geschaffen haben.
Die ganze Institution hat sich eben allgemach überlebt und sie wirkt heute, wo jeder nach seinen Leistungen beurteilt werden will, wie eine fabelhafte Versteinerung, die in moderne Zustände hineinragt wie ein künstlicher Opernpomp allenfalls in der grellen Beleuchtung des Alltagsvorganges. Dem guten Bürger, der solange alles, was ihm an Phantasie und Märchenglauben geblieben war, in die Hofsphäre hinübergerettet hatte, dämmert jetzt erst die Ahnung auf, daß hinter dem Prachtvorhang eine vielleicht nicht immer ganz würdige Tragikomödie aufgeführt wird, und er beginnt, bei dem Gedanken an die Zettelungen zu zittern, die in dieser Luft den Monarchen umdrängen könnten.