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Das Leben ist viel wert, wenn
man's verachtet.
Kleist
Karin Oßwege ging langsam, tiefatmend durch den herbstlichen Tiergarten nach Hause. Sie liebte diesen Weg, der zwischen Tag und Abend hin wie in das Land des Friedens führte und der die einzige Erholung war, die ihr das Schicksal gönnte.
Früher, am Anfang ihres neuen Daseins, als selbst ihr Wille zum Weiterleben nichts als ein fieberndes Müssen war und der Stolz – ah der zertretene, zerbrochene und dreimal wieder auferstandene Stolz bei jeder Berührung zitterte und sich gegen Freund und Feind gleich heftig wehrte, da war sie wie ein scheues Tier, das sich verfolgt glaubt, durch diese wundervollen Wege gelaufen, immer in Angst, daß ein Bekanntes ihr begegnen könnte, sie erkennen, sie grüßen mit Augen voll heimlichen Hohnes oder – tausendmal schlimmer noch! – voll heimlichen Mitleids …
Karin Gräfin Oßwege, die eleganteste, zierlichste, verwöhnteste Frau der Hofgesellschaft, die den Fuß nur auf die Straße setzte, um ins Auto, in den Wagen zu schlüpfen oder sich in den Sattel heben zu lassen, vor der alle Türen aufflogen und alle Köpfe sich neigten, diese feine, anmutige Prinzessin auf der Erbse, die mit einem Schlage arm geworden wie ein Bettelkind, in einer unseligen Stunde alles verloren hatte: Reichtum und Würde und Glück und das stolze neunperlige Krönchen … die schöne Karin Oßwege, die jetzt bei Wind und Wetter stundenlang durch die Straßen lief, um einen Groschen zu sparen, und froh war, daß sie in den Palästen des Kronprinzenufers und Kurfürstendamms, die früher um ihr Erscheinen bei den Festen wie um die Gunst einer Fürstin warben, großmütig Zutritt erhielt, um die Tochter des Hauses im Singen zu unterrichten …
Diese Karin Oßwege war sie.
Anfangs hatte sie es selber nicht geglaubt, hatte sich selber fremd und feindselig angeschaut wie ein unbekanntes, verstörtes Wesen, das ihre Gestalt, ihre Stimme angenommen hatte und sie äffte wie ein schlimmer Traum.
Aber sie gewöhnte sich bald an ihr verwandeltes Bild. Sie fürchtete sich nicht mehr vor den Menschen, die sie mit neugierigen Blicken musterten. Sie ließ sie gewähren und entwaffnete ihre Schadenfreude wie ihr Bedauern mit einem Lächeln, das sanft und klug und voller Ruhe war. Sie lernte ihre Arbeit lieben und freute sich, daß ihre Kunst so tapfer helfen konnte, das neue Leben fest und sicher aufzubauen. Nach dem dumpfen Betäubtsein in den Tagen des Unglücks, dem stöhnenden Ringen des Neubeginnens war wieder ein Hauch von Fröhlichkeit in ihr Dasein gekommen, ein Sonnenschimmer, der die Stuben und die Herzen aufhellte und Wärme gab, hoffnungsvolle, verheißende Wärme: Warte nur, Karin – warte nur; sei geduldig! Es kommen neue Tage des Glücks …
Und sie hatte ihm geglaubt in Freude und Zuversicht, bis … ja, bis vor kurzem.
Bis zu dem Tage, da ihr Mann vom Bureau nach Hause kam und mit einem Gesicht, das weiß vor Erregung war, sagte: »In Südwestafrika ist der Aufstand ausgebrochen …«
Weiter nichts. Er kam auch nicht wieder darauf zurück, mit keinem Worte; aber sie, die ihn kannte wie ihr eigenes Herz, sie wußte, was für Gedanken das waren, in denen er stumm und blaß ihr gegenüber saß, nicht aß und nicht trank, ihr leises Fragen nicht hörte, nur vor sich hinsah mit diesem leeren, diesem elenden Blick.
Gott – Gott –! wie hatte er sich das gewünscht, er, für den Soldatsein dasselbe hieß wie für andere Menschen Glücklichsein: Einmal beweisen … beweisen, was er und seine braven Kerls leisten konnten! Seine Kerls, die an ihm hingen wie die Kletten, die ihn vergötterten als schneidigsten Vorgesetzten im Dienst und außer Dienst als besten Kameraden – seine Kerls, auf die er stolz gewesen war, von denen er wußte: wenn's einmal heißt: »Freiwillige vor!«, dann bleibt nicht einer, nicht einer zurück, und die es müßten, die täten's mit einem langatmigen Fluch, daß sie ihm nicht folgen dürften – ihrem Leutnant.
Und nun war es so weit! Nun kam das knappe Kommandowort, das kein Befehl war, nur ein erzenes Pochen an die Herzen der Tapfersten: »Freiwillige vor!«
Und er – er war nicht mehr dabei.
Er hatte das Recht verwirkt, den Säbel zu ziehen für eine hochheilige Sache, das Recht verwirkt, ein Führender, ein Beispiel zu sein, das Recht verwirkt, seinen Kerls voranzugehen.
Und warum – warum?
Um ein Spiel, um ein sinnloses, böses, verfluchtes Spiel, dessen unglückseliger Ausgang einem Kameraden den Revolver an die Schläfe gedrückt und drei andere die Epauletten gekostet hatte.
Und einer von denen war er.
Sie alle traf es hart; aber ihm war's der Hieb ins Leben.
O – die Tage, die jenem verspielten Abend folgten, die Tage des Ehrengerichts, der Urteilssprechung, die ihm den schlichten Abschied brachte … sie standen der Frau vor Augen, als wäre heute der letzte. Was dann noch kam, der ganze Sturm der Bitterkeiten und Demütigungen, der vollständige äußere Zusammenbruch und das mühselige Aufraffen zu einem neuen Dasein – das war wohl schwer und lastete auf wunden Schultern. Aber es war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste war die Stunde, in der er vom Verlesen des Urteils nach Hause kam, die Stunde, in der die Frau vor dem Manne auf den Knien lag, nachdem sie sich wie eine Verzweifelnde den Eingang in sein Zimmer erkämpft – die Stunde, in der ihre armen, kraftlosen Hände seine Schultern umklammerten und niederglitten zu seinen Fäusten, die sich vor dem beschwörenden Betteln ihrer Finger nicht öffnen wollten … in der sie erfahren mußte, daß die höchste, die tiefste Weibesliebe ohnmächtig am Boden liegt, wenn der Mann an seinem Heiligsten schuldig geworden.
Daß er sie, die Frau, die er vergötterte, und seine beiden Kinder leichtsinnig ins Unglück gebracht, das kam ihm damals nur ganz dumpf zu Bewußtsein. Daß ihn seine Familie der Führung von Wappen und Adel verlustig erklärte, berührte ihn kaum. Aus seines Kaisers Diensten schimpflich entlassen – unwürdig des Degens an seiner Seite … das war's –! Das war's …
Nein, er griff nicht, wie sie im Fieber der Angst geglaubt, nach dem Revolver gleich seinem unglücklichen Kameraden. Er lebte weiter um der Kinder, um ihretwillen. Aber sie fühlte mit dem hellsehenden Wissen der Liebe, daß er den Toten beneidete. Er warf das Leben nicht fort, aber es war ihm entwertet. Er nahm die Fron einer blutlosen, dumpfen Arbeit auf sich, weil er die Seinen, die er arm gemacht im Spiele, nicht allein lassen durfte in der Not, die er ihnen geschaffen; aber es war keine Freudigkeit bei dieser Pflichterfüllung.
Er sühnte, indem er weiterlebte. Aber diese Sühne trug keine Erlösung in sich. Sie mühte sich wohl, gutzumachen, was er als Gatte und Vater verschuldet – den Flecken auf dem Schilde des Mannes und Offiziers wusch sie nicht fort. Da gab es nichts mehr, was gutmachen konnte.
Wirklich nicht?
Doch – o doch!
Es gab einen Weg für den mit schlichtem Abschied Entlassenen, sich seinen Platz im kaiserlichen Heere zurückzuerobern, sich die Epauletten, das Portepee wieder zu holen. Und sie, Karin, wußte, daß die Gedanken ihres Mannes Tag und Nacht um diesen Weg herumschlichen, wie Verbannte um die Grenzen ihrer Heimat schleichen. Sie wußte, seit der ersten Kunde, die vom Aufstand in Südwest gekommen war, kämpfte er mit allen Engeln und Teufeln des Gedankens: Geh hinüber! Melde dich zur Schutztruppe – tritt als gemeiner Soldat, als der Letzten, der Geringsten einer in deines Kaisers Dienst und hole dir dein Offizierspatent vorm Feinde wieder.
Tapferkeit entsühnt.
Tapferkeit versöhnt. An ihr gesundet auch todwunde Ehre …
Laß deine Ehre gesunden, Detlev Oßwege!
Er aber biß die Zähne zusammen und schwieg.
Denn er, dessen leichtsinnige Hände das Glück und die Zukunft seines Weibes, seiner Kinder in Scherben geschlagen und ihnen alles genommen hatten, was schön, reich und friedlich war und was sie als etwas Selbstverständliches besaßen, er hatte nicht mehr das Recht, an sich zu denken. Dafür war's zu spät.
Verloren und verspielt, Detlev …
Nun sieh, wie du mit deinem Leben fertig wirst, und sei froh, daß es dir die Möglichkeiten bietet, den Menschen, die du liebst, ein Dach über den Kopf und Brot auf den Tisch zu schaffen …
Den Menschen, die du liebst …
Aber tat er das wirklich?
Es kamen Stunden für Karin, in denen sie daran zweifelte, sich selber schalt und die Augen schließen, mit aller Kraft an seine Liebe glauben wollte und dennoch zweifelte.
Als damals, nach dem Unglück, das sie getroffen, ihr Vater gekommen war, um sie aus dem Wirrsal des Zusammenbruchs in die friedliche, schöne Heimat ihrer Kindheit zu holen, da hatte sie den Kopf geschüttelt und gesagt: Mein Platz ist hier, bei meinem Manne ist er, und jetzt erst recht.
Sie tat es nicht aus Pflichtbewußtsein; sie tat es aus Liebe. Ja, tief im Grunde ihres Herzens blühte aus diesen dunkelsten Tagen ein neues, ein ganz heiliges Glück empor: das Glück der Frau, mit dem geliebten Manne zu leiden, sein Leid auf sich zu nehmen und lächelnd zu sagen: Es tut nicht weh … Sieh, ich habe nichts verloren, denn ich habe ja noch dich …
Mein Gott – war das alles, alles umsonst gewesen?
Er dankte ihr's – o ja, mit jedem neuen Tage dankte er ihr. Er küßte ihre Hände, die jetzt so viele rauhe Arbeit tun mußten, mit einer Inbrunst der Verehrung, die vor ihr niederkniete. Aber was ihre Liebe am heißesten begehrte: ihn vergessen lehren, ihn glücklich machen – das gelang ihr nicht.
Und würde ihr niemals gelingen.
Da war in der Seele des Mannes eine Wunde, die nicht verharschen wollte, die immer brannte und im Fieber pochte …
Mit schlichtem Abschied entlassen …
All deine Liebe kann ihn davon nicht heilen, Karin. Und den einzigen Weg, auf dem er genesen könnte, den darf er nicht gehen – um deinetwillen, Karin …
Das war der Kreislauf ihrer Gedanken.
Nein, dachte sie und blieb unwillkürlich stehen, nein, das ertrüge ich nicht! Ich habe alles verloren durch ihn und mich kaum danach umgeschaut, denn ich liebe ihn. Aber ihn zu verlieren, das ertrüge ich nicht … Das wäre schlimmer als sterben.
Still … still davon –!
Mit gesenktem Kopfe ging sie weiter, und ein plötzliches Hasten war in ihrem Gang, als wollte sie den eigenen Gedanken davonlaufen. Aber die hielten Schritt.
Die frühe Nacht des Herbstes war schon völlig hereingebrochen, ehe sie zu Hause ankam. Die Fenster ihrer Wohnung lagen ganz im Dunkel. Ihr Mann war also noch nicht da.
Das ist gut, dachte sie. Da hab' ich Zeit, meinen Gleichmut wiederzufinden. Und das tut not für ihn und mich.
Sie holte die Kinder von der Flurnachbarin ab, die sie ihr um ein geringes Entgelt in den Stunden hütete, da sie ihren Lehrpflichten nachging, und zündete in der Küche die Lampe an, um das Abendbrot zu bereiten.
Der Bub war müde und gähnte herzhaft als Zeichen, daß er seine dreijährige Kraft zum Toben für heute verausgabt habe. Aber die Augen seines Schwesterchens hingen an der Mutter mit jenem grübelnden Ernst, der Kindern eignet, die mit viel schweren und verwirrenden Dingen allein fertig werden müssen. Sie war es auch, die auf das schläfrige Geplauder des Brüderchens gedämpften Tones antwortete, weil sie wohl spürte, die Mutter hatte jetzt kein Verständnis dafür, daß der Schimmel ein Bein gebrochen und daß der Teddybär vom Tisch gefallen war.
Karin trug die Teller und Gläser ins Zimmer und brannte die Hängelampe an. Gerade unter ihr, mitten auf dem Tisch, lag die Zeitung, und quer über der ersten Seite stand in breitem Druck:
»Vom Aufstand in Südwest. Siegreiches Gefecht der Schutztruppen gegen die Bondelzwarts bei Sandfontein. Der Platz ist von den Deutschen in sechzehnstündigem Kampfe gegen eine vierfache Übermacht genommen und behauptet worden. Auf deutscher Seite fielen: Oberleutnant Herkomer, Leutnant von Möllendorf, Unteroffizier Hellwig, Gefreiter Diez, Reiter Amtmann, Frege, Groß und Vanderzyt. Schwerverwundet wurden Hauptmann von der Warthe, Leutnant Reichert, Leutnant Zorn« – es war eine lange, traurige Liste, die noch folgte.
Dann ein Telegramm:
»Leutnant Andecker meldet durch Funkenspruch aus Heirachabis, daß der Aufstand östlich im Wachsen sei. Ausführlichere Nachrichten fehlen.«
Karin Oßwege las, beide Hände auf den Tisch gestützt, und las mehr als einmal, was da so trocken und nüchtern stand.
Der Aufstand im Wachsen …
Das hieß, knapp genug: Wir brauchen Hilfe. Und wieder würde es heißen: »Freiwillige vor!« Und wieder würden sie hinausgehen, die braven Kerls, die todesmutigen – und der einer von den Besten unter ihnen gewesen, der war nicht dabei …
Ob er es schon gelesen hat? grübelte die Frau.
Und dann fiel ihr ein: Wie kommt die Zeitung hierher auf den Tisch?
Unwillkürlich richtete sie sich auf und sah sich um.
»Detlev?« fragte sie.
Und fuhr doch zusammen, als in dem tiefsten Schatten des Zimmers eine Gestalt sich rührte, die den Kopf von zwei verkrampften Händen hob.
»Ja, Karin?«
Sie lächelte, ein wenig mühsam.
»Wie du mich erschreckt hast!« stammelte sie.
»Verzeih,« sagte der Mann und stand auf, ohne näherzukommen. »Das wollte ich nicht. Ich hatte dein Kommen nicht gehört … Bist du schon lange hier?«
»Nein … ich wollte den Tisch decken.«
»Kann ich dir etwas helfen?«
»Danke, Liebster. Das ist ja keine Mühe.«
Er schwieg, und sie ging hinaus und schickte die Kinder zu ihm. Und als sie wieder in das Zimmer trat und den Mann im klaren, warmen Schein der Lampe sitzen sah, die Kinderköpfchen an seine Schultern geschmiegt und auf den drei geliebten Häuptern das gleiche schimmernde Blond, da suchte ihr Blick mit einem Lächeln die Augen ihres Mannes. Aber er fand sie nicht, und ihr schönes Lächeln erlosch.
Sie gab den Kindern zu essen und brachte sie zu Bett. Sie brauchte länger dazu als sonst, und als sie wiederkam und sich Detlev gegenüber zu Tische setzte, mied sie den Schein der Lampe. Ihre Hände bebten leise, als sie den Tee aufgoß und das Brot schnitt, aber ihre Stimme klang weich und ruhig wie immer bei ihren freundlichen Fragen nach seinen heutigen Erlebnissen.
Er mußte sich erst besinnen, ehe er Antwort gab, und dann war er zerstreut und ließ die Sätze unvollendet. Sie fragte nicht weiter, sondern erzählte von ihren Stunden, von dem Heimweg durch den Tiergarten, von einer drolligen Bemerkung Hans Georgs und einer altklugen Antwort, die ihm das Schwesterchen gegeben.
Doch während sie redete, war immer das Bewußtsein in ihr: Er lächelt wohl und nickt und sagt auch selbst hier und da ein Wort, aber er hört dir nicht zu. Du könntest jetzt in einer fremden Sprache fortfahren zu erzählen, er würde es vielleicht gar nicht bemerken. Ganz fern ist er dir …
Und schließlich verstummte auch sie in einer dunklen, zitternden Angst vor den eigenen Tränen. Sie schob ihm die Schüsseln zurecht und schenkte ihm ein; aber er rührte die Speisen kaum an. Ihr quoll der Bissen im Munde.
»Nimmst du nichts mehr, Detlev?«
»Nein, danke.«
»Du hast sehr wenig gegessen …«
»Ich hab' keinen Appetit, Karin.«
Sie stand auf und räumte den Tisch ab. Sie ging sehr behutsam zu Werke; er schien ihre leisen Bewegungen, ihr stilles Kommen und Gehen nicht zu beachten. Er saß, in den Schatten zurückgelehnt, den Blick am Boden, und schrak zusammen, als sie die Hand auf seine Schulter legte.
»Was ist denn …?«
»Bleibst du noch auf, Detlev?«
»Ja – wenn es dich nicht stört … ich könnte noch nicht schlafen.«
»... Soll ich bei dir bleiben?«
»Nein, nein, Karin – geh nur, leg dich hin.« Und dann, mit einem ersten vollen Blick in ihr Gesicht: »Wie müde du aussiehst, meine arme kleine Seele … Hast dich wieder tüchtig plagen müssen mit deinen Göhren?«
»Es macht mir Freude, Detlev, glaub's mir nur.«
Er streichelte ihre Hände, die so völlig hingegeben in den seinen lagen.
»Ich fürchte nur,« meinte er mit einer wunderlichen Bitterkeit, »wenn du um meinetwillen betteln müßtest, dann sagtest du in deiner grenzenlosen Großmut immer noch: Es macht mir Freude …«
»Es ist nicht Großmut, Detlev. Was soll das törichte Wort zwischen Menschen wie du und ich. Es ist, weil ich dich liebe. Ganz einfach, weiter nichts. Und solange ich dich habe, werde ich nie etwas vermissen, wird mir nie etwas zu schwer sein. Du bist mir alles …«
Er zog ihre Hände an die Lippen und schwieg. Sie wartete noch und wußte nicht, auf welche Worte. Als er sie freigab, ging sie still aus dem Zimmer, schloß sachte die Türe hinter sich und stand nun im Dunkeln mit einem Gefühl so furchtbarer Verlassenheit, daß sie wie betäubt die Hände an die Schläfen hob.
Wo bin ich denn? dachte sie. Wo bin ich denn jetzt? Und wo kommen wir hin? Wir treiben auseinander, immer weiter, immer weiter, und es wird nicht lange dauern, dann verstehen wir uns nicht mehr, wenn wir zueinander reden. Was soll ich tun, mein Gott, was soll ich tun?
Sie legte sich nieder und sah mit offenen Augen in das Dunkel empor. Sie hörte den schweren Schlag ihres Herzens und konnte das Zittern nicht bezwingen, das über ihren Körper rann.
Von der nahen Kirche schlugen die Viertelstunden. Es schlug elf und zwölf und ein Uhr. Sie lag noch immer wach und wartete noch immer.
Schließlich stand sie auf und ging mit bloßen Füßen zur Türe, öffnete sie lautlos, trat über die Schwelle.
Ihr Mann saß am Tische, wo er zuvor gesessen. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt und die Stirn in seine Hände. Und sie hörte seinen Atem, der mit sich selber rang.
Irgend etwas in ihr schrie auf: Geh zu ihm, wirf dich zu ihm nieder, nimm seinen Kopf in deine Arme, so fest du kannst, sonst verlierst du ihn …
Und eine andere Stimme sagte, sehr ruhig und sehr klar: Du hast ihn schon verloren.
Er spürte ihre Nähe nicht; er sah nicht auf. Da ging sie wieder hinaus und tastete sich zu ihrem Lager. Sie spürte jedes Glied ihres Körpers wie eine Last und einen Schmerz.
Klarheit, dachte sie und preßte die Hände ineinander. Klarheit … das ist alles, was uns nottut. Wir schweigen, und an diesem Schweigen gehen wir zugrunde. Wir müssen den Mut zum Reden finden … Warum schweigt er?
Weil er an dir schuldig geworden ist, Karin. Weil dir sein Leben untertan geworden ist durch Schuld, und weil nun sein Leben in deinen Händen liegt. Gib es ihm wieder, Karin …
Nein, dachte sie. Nein, niemals …
Gib es ihm wieder, Karin. Jetzt taugt es nichts mehr. Es hat keine Seele mehr. Es ist ein armes, zerbrochenes, wertloses Ding, ein Wrack und ein Scherben. Du weißt, wodurch allein es wieder zu einem Ganzen, einem Lebendigen werden kann. Steh ihm nicht im Wege; gib sein Leben frei …
Das kann ich nicht, dachte sie und drückte die Fäuste vor die Stirn. Ich kann ihn nicht hergeben; ich hab' ihn zu lieb …
Du hast ihn lieb, Karin, und siehst es mit an, wie er ringt und sich wundreibt an den Ketten deiner Liebe? Du hast ihn lieb und denkst doch nur an dich? Er ist krank, und du heilst ihn nicht. Er ist gefangen, und du befreist ihn nicht. Er liegt vor dir am Boden mit seinem zerbrochenen Mannestum, und du schreitest über ihn hinweg …
Nein, nein, ich will ihn aufheben, ich will ihn heilen, ich will ihn erlösen mit meiner Liebe. Das ist's, was meine Liebe will!
Aber sie kann es nicht, Karin; das mußt du begreifen …
Warum nicht, mein Gott – warum nicht?!
Weil Ehre nur durch Ehre gesunden kann, Karin …
Ist ihm seine Ehre wichtiger als meine Liebe?
Hättest du ihn lieb, wenn es anders wäre, Karin?
Ich weiß es nicht … Ich weiß nur, daß ich ihm alles geopfert habe und alles opfern würde – nur das eine soll er mir ersparen.
Es ist eine Krämerliebe, Karin, die aufdrängt und bietet, was nicht verlangt wird, und das einzige, worauf es ankommt, verweigert …
Und wenn er seine Ehre wiedergewinnt und mit dem Leben bezahlen muß – was fang' ich dann mit meinem an? Ich kann – ich kann ihn nicht verlieren.
Karin, du hast ihn schon verloren … Du hast ihn verloren, weil du ihn angekettet hast. Gib ihn frei, um ihn wieder zu gewinnen …
Gib ihn frei!
Und wieder ein Glockenschlag: zwei Uhr.
Die Türe vom Wohnzimmer wurde leise geöffnet und geschlossen. Detlev war hereingekommen. Sie regte sich nicht, lag mit gesenkten Lidern, als ob sie schliefe. Es war ein letztes, hartes Kämpfen in ihr, das ihren Herzschlag flattern machte. Und dann lauschte sie auf seinen schweren Atem und wußte: Er kann nicht schlafen …
Da sprach sie, sehr leise: »Detlev …«
»Ja, Karin.«
»Ich möchte dir etwas sagen.«
Er richtete sich auf, beugte sich über sie. Ihre Augen, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, unterschieden im ruhigen Aufwärtsschauen jeden Zug des geliebten Gesichtes. Sie lächelte.
»Was willst du mir sagen, Karin?«
Sie hob die Arme, schlang sie um seinen Hals und zog seinen Kopf zu ihrem Herzen nieder. Und so sprach sie weiter, immer in dem gleichen sanften und eindringlichen Ton.
»Nun sollst du es tun, mein Liebling …«
»Was denn, Karin …«
»Nun sollst du hinübergehen.«
»Nach Südwest …«
»Karin!« schrie er auf.
»Still! Still! Wecke die Kinder nicht! Und bleibe so liegen, ganz dicht an meinem Herzen. So kann ich es dir am besten sagen. Du sollst hinübergehen, ja … Du sollst dir deinen Säbel wieder holen …«
»Karin – Karin …!«
»Und dein Leben soll wieder Wert und Inhalt bekommen,« fuhr sie mit zitternden Lippen fort, »und ich, Detlev, ich will deine Liebe wiedergewinnen. Deine Liebe, die ich schon fast verloren hatte …«
»Das ist nicht wahr, Karin!«
»Doch, doch, mein Herz – doch! O wir wollen uns jetzt nicht belügen! Wir wollen in dieser Stunde, die vielleicht die beste und innigste unseres Lebens ist, so wahrhaftig gegeneinander sein, wie die Menschen nur sein können, wenn jeder von der Liebe des anderen so überzeugt ist, daß ihm keine Wahrheit mehr schmerzlich sein kann. Vielleicht kommt alles Schmerzliche in der Liebe nur daher, daß Mann und Weib in Wahrheit so wenig von einander wissen. Es scheint ihnen genug zu sein, daß sie sich lieben, und doch ist das im Grunde nicht so wichtig, als daß sie versuchten, sich ganz zu verstehen und nichts zu fürchten, was wahrhaftig ist.«
»Haben wir das getan, Karin?«
»Ja, Detlev, wir beide. Wir haben zuviel geschwiegen, weil wir uns vor den Worten scheuten, die doch nur aussprachen, was wir beide fühlten. Es kann auch sein, wir hofften beide, vom andern erraten zu werden, und das ist auch sicherlich das Süßeste, weil es nur aus vollkommenem Verstehen möglich ist … Ich hab' in meinen vielen einsamen Stunden Zeit genug gehabt, über all das nachzudenken. Und jetzt hab' ich eingesehen: Ich war im Unrecht gegen dich.«
»Du – du, Karin?«
»Ja, ich. Ich hab' geglaubt, ein Recht auf dich zu haben, weil ich dir das und jenes geopfert habe, und das ist schlimm. Liebe darf nichts erkaufen wollen, wenn sie opfert. Und ich wollte dich erkaufen, Detlev … für mich, für mich allein.«
»Da hast du einen schlechten Kauf getan, meine arme kleine Seele,« sagte der Mann. »Ich bin nicht mehr der Mensch, den du geliebt hast, als er noch aufrecht durchs Leben ging.«
»Der sollst du wieder werden, Detlev – o Gott sei Dank, daß es dazu noch nicht zu spät ist! Du sollst wieder aufrecht durchs Leben gehen und sollst wieder froh sein und lachen können. Darum sag' ich dir: geh hinüber!«
»Meine liebe Karin! Du hast ganz Recht: wir haben zu lange geschwiegen und uns niemals ganz erkannt. Ich bin jahrelang neben dir hergegangen und habe dich lieb gehabt und mich an deiner Liebe gefreut. Aber wer du eigentlich bist, das sehe ich jetzt erst – und sehe, wie wunderschön du bist, meine kleine Karin. Dafür danke ich dir – und für die Freiheit, die du mir geben willst, so herzlich und inbrünstig, als wenn ich sie annehmen dürfte.«
»Warum – warum darfst du das nicht?«
»Wer soll für dich und für die Kinder sorgen?«
»Ich, Detlev.«
»Und du glaubst im Ernst von mir, daß ich, der dich arm gemacht hat, dir nun auch noch den Kampf ums Dasein und die Sorge ums tägliche Brot auf die Schultern legen würde? O Karin, konntest du das von mir denken?«
»Es wäre mir keine Last, Detlev; ich täte es so gern! Ich kann arbeiten, besser, als du denkst! Du würdest mit mir zufrieden sein, wenn du wiederkämst …«
»Das weiß ich, du Liebe. Aber sehr wahrscheinlich wäre, daß ich nicht wiederkäme … Was dann?«
Er spürte das Stocken ihres Herzschlages unter seiner Hand und wie sie den Atem in der Brust verhielt. Er richtete sich auf und sah ihr ganz nahe in das stille weiße Gesicht mit den halbgeöffneten Lippen.
»Karin – ich will dich nicht belügen. Es hat für mich Stunden gegeben, in denen ich dachte: Jetzt machst du Schluß. Jetzt erträgst du's nicht mehr … Stunden, in denen ich ganz ernstlich den Gedanken erwog, dich und die Kinder heimlich zu verlassen und da drüben die Scharte auszuwetzen – oder nicht wiederzukommen. Denn ein Mensch wie ich, der hat im Gefecht seinen Platz unter denen, die nichts mehr zu verlieren haben, die ihr Leben wegwerfen, um es zu gewinnen. Mir liegt nichts am bloßen Dasein. Ich würde, wenn ich hinüberginge, das Recht zum Freiatmen dem Tode stückweis aus dem Rachen holen. Ob ich ihn dabei unter die Knie zwänge oder ob er mir die Zähne in die Adern schlüge – das wäre ganz gleichgültig. Siegen oder Unterliegen – das ruht in Schicksals Hand. Der Kampf ist's, worauf es ankommt. Der entsühnt. Aber ich will, daß du weißt, was deine Liebe auf sich nimmt, ehe du mich gehen heißest.«
»Geh,« sagte sie leise.
»Karin?«
»... Um deines Sohnes willen – geh!«
Da widersprach er nicht mehr; er legte seinen Kopf in ihre Hände und sie fühlte: Ich hab' ihn wieder. Ich habe seine Liebe wieder. Gott mag uns gnädig sein …
»Dann werde ich mich morgen im Kriegsministerium melden, Karin.«
»Ja, Liebster. Und wie lange wird es dauern, bis die Entscheidung kommt?«
»Drei, vier Wochen vielleicht.«
Sie gab keine Antwort. Es ging ihr in dieser Stunde wie allen gütigen Menschen, die sich verschwenden, wo sie opfern, und lächeln, wo sie sich verbluten.
Und in den Wochen, die nun kamen, wuchs ihre Liebe, ihre große Liebe über sich selbst hinaus zu jener schweigsamen Verklärtheit, die aus dem Allerheiligsten des Weibes, aus dem Muttertume stammt. Denn sie hatte dem Manne, den sie liebte, in Not und Schmerzen ein neues Leben gegeben.
Sie brach auch nicht zusammen, als der Abschied kam, und hielt sich aufrecht, als der Mann zum letztenmal, zum letzten Male ihre Hände an seine Lippen riß und sie mit weit offenen Augen das liebe, geliebte Gesicht umfaßte und auf den Ton seiner Stimme horchte, die ihren Namen stammelte: »Karin – Karin!«
»Leb wohl, mein Liebling!« sagte sie. »Leb wohl! Auf Wiedersehen … auf Wiedersehen –« Und dann, in einer jähen Angst: »Geh, Detlev … geh!«
Und er ging.
Und wo sie gestanden hatte, fiel sie nieder, warf die Arme über einen Stuhl und schlug mit dem Kopfe darauf und schrie; wie ein armes Tier schreit, das keinen Ausweg mehr weiß.
Aber als sie sich aufrichtete – nach Minuten, nach Stunden … sie wußte es nicht – da sah sie in die ratlosen Augen ihrer Kinder, und auf den Knieen liegend streckte sie die Arme nach ihnen aus und rief sie zu sich.
Um euretwillen! dachte sie und zwang das Weinen nieder, das ihr glühend in die Augen stieg. Um eurer Zukunft willen …
Und als sie aufstand, war in ihr die Ruhe der Entschlossenheit, das Leben auf sich zu nehmen mit all seinen kleinen, ruhmlosen und nie erschöpften Kämpfen und Pflichten, von denen niemand spricht, weil sie alltäglich sind, und die doch von den Frauen zuweilen mehr an Kraft und Willen fordern als die großen Befehle des Schicksals.
Freilich, auch diese blieben nicht aus.
Es kam ein Abend, an dem sie eine halbverwischte Karte in Händen hielt: »Bin im Gefecht bei Heirachabis verwundet, zum Militärehrenzeichen eingegeben worden. Alles wird noch gut. Detlev.«
Und zwei Tage später fuhren die Kinder, die schon eine Weile schliefen, schreckhaft in den Betten auf und lauschten, und der Bub fing zu weinen an, bis ihn das Schwesterchen in die Arme nahm und flüsternd zu trösten versuchte. So saßen sie eng aneinander geschmiegt, und ihre kleinen Herzen zitterten vor Angst. Aber es blieb alles still, und sie schliefen wieder ein, während im Nebenzimmer die Mutter am Boden lag und mit ihrem Gotte rang.
Es war eine wortkarge Meldung des Kabels:
»Der Aufstand der Bondelzwarts gilt als beendet. Der Feind ist in dreitägigem Gefecht bei Uhabis vollständig aufgerieben worden. Die beiderseitigen Verluste sind sehr groß. Auf deutscher Seite fielen: Hauptmann Krafft, Oberleutnant von Putlitz, Leutnant Werner, Leutnant Graf Oßwege …«
Weiter las sie nicht.
Sie brach auf die Knie nieder und streckte die Hände empor wie ein Mensch, der ertrinkt, und ihre Seele stöhnte auf mit einem Laut, der nichts Menschliches mehr hatte: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!?«
Alles wird noch gut …
O Jesus, Jesus –!
Was konnte nun noch gut werden!
Der Tod warf alle Pforten zu und schob den Riegel vor. Und Liebe und Sehnsucht, Reue und Verzweiflung lagen umsonst vor den dunklen Toren auf den Knieen und schlugen sich die Hände wund an dem unerschütterten Erz.
Es gab nur einen Weg, der durch die Pforte führte. Nur einen. Sterben …
Ja, sterben …
Eine Welt voll Ruhe, Frieden und Erlöstsein lag in diesem Wort. Nicht mehr fühlen, nicht mehr leiden, nicht mehr denken müssen … wie schön war das … wie schön …
Und die Kinder, Karin?
Die Kinder …
Wie konntest du die vergessen? Warst du es nicht, die zu dem Manne sprach: Um deines Sohnes willen – geh!
Er war für sie gestorben. Du mußt leben – für sie.
Sie stand auf, sehr langsam, sehr mühsam – und sank wieder zusammen.
Was ist denn? dachte sie schwerfällig und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, zweimal, dreimal. Sie tat ein paar Schritte nach dem Zimmer, in dem ihre Kinder schliefen. Sie hörte das Brausen eines ungeheuren Sturmes näher und näher kommen, hörte das Rauschen eines ungeheuren Stromes, der schwoll und schwoll, hörte seine mächtigen dunklen Wogen über ihrem Haupte zusammenbranden – und dann nichts mehr.
Wochen vergingen. Wochen, in denen ihr Leben flackerte wie ein Licht im Sturm. Und Tage, in denen ihr Bewußtsein sich Schritt um Schritt durch eine große Dunkelheit zurücktastete bis zur Erkenntnis dessen, was geschehen war; Tage, in denen sie dachte: Du bist krank, sehr schwer krank … vielleicht hat Gott Mitleid mit dir und läßt dich sterben.
Und an einem dieser Tage schlug sie die Augen klar und wissend auf und sah in das gütige, kluge Gesicht ihres Arztes, der ihr Handgelenk umschlossen hielt und auf die Uhr schaute.
»Herr Geheimrat –?«
»Guten Morgen, Verehrte … Sehr brav! Ganz vernünftige Augen hat sie wieder. Da können wir ja mal ein bißchen Luft holen. Was macht denn Ihr Köpfchen, wie?«
»Ich glaube – ich glaube, es geht ihm ganz gut … Habe ich Ihnen Sorge bereitet, Herr Geheimrat?«
»Hm. Es macht sich. Gehabte Schmerzen, die hab' ich gern, sagt Wilhelm Busch, und das war ein großer Weltweiser.«
»Was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Karin mit unruhigen Augen. Ein rascher Blick des Arztes unter hochgezogenen Brauen hervor traf sie. »Nein,« murmelte sie, »was vor meinem Krankwerden liegt, das weiß ich … aber was dann wurde …«
»Na. Zunächst hat Ihr kleines Mädel wahrscheinlich einen Mordsschrecken gehabt, als sie ihre Frau Mama am Boden liegend fand und nicht recht gescheite Antworten von ihr bekam. Es hat ihr aber nichts geschadet, der jungen Dame, wenigstens benahm sie sich höchst vernünftig, weckte die Nachbarin und beruhigte ihren brüllenden Herrn Bruder, und dann dachte sie zum Glück an den guten, alten Onkel Hopfen, und so haben sie mich geholt. Es war weiß Gott das beste, was sie tun konnten. Tscha, meine sehr Verehrte, und darauf haben wir Sie sehr fein gepflegt und Ihnen allerhand dumme Sachen ausgeredet, und ich muß sagen, daß ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin.«
»Mein lieber, guter Freund,« flüsterte Karin und schloß ihre matten Finger um die feste, feine Arzthand, die in der ihren lag. »Und wo sind jetzt die Kinder?«
»Die Kinder? – Da, wo sie hingehören, beim Großvater – väterlicherseits. Oder bei der Großmutter, wie man's nehmen will. Ich habe alle Gründe, anzunehmen, daß es ihnen da ausgezeichnet geht und daß sie blödsinnig verzogen werden …«
Karin stemmte die Hände in die Kissen und richtete sich auf.
»Sagen Sie mir alles, bitte!« drängte sie. Und sie war in diesem Augenblick, der für sie über ihrer Kinder Zukunft entschied, blasser als in der schwersten Stunde ihres Lebens.
Geheimrat Hopfen sah etwas mißtrauisch aus.
»Das ist 'ne riskante Geschichte,« meinte er. »Mit den Frauen nämlich. Sachen, die einen ausgewachsenen Mann kaput machen, die bewältigen sie so zwischen elf Uhr und Mittag mit einem kreuzfidelen Gesicht. Und ganz einfache, glatte und erfreuliche Dinge schmeißen sie bums! über'n Haufen. Und das muß ich Ihnen schon ehrlich sagen, Hochverehrte: einmal hab' ich Sie glücklich und vergnügt wieder hochgepumpt, und das war mir ein Privatgenuß. Aber wenn Sie jetzt Geschichten machen und 'nen Rückfall kriegen, dann könnte ich Ihnen eklig aufs Dach steigen, verstanden?«
»Ja, Herr Geheimrat … Aber ich bekomme keinen Rückfall.«
»Ehrenwort?«
»Ehrenwort.«
»Schön. Dann werd' ich Ihnen mal was anvertrauen. Einen Brief … Na, na, na – Haltung, meine Gnädigste! Sonst fliegen wir alle beide 'rein. Wollen Sie tapfer sein oder nicht?«
»Ja, Herr Geheimrat.«
»Na also! Hier.«
Und er legte den Brief in ihre ausgestreckten, blassen Hände, erhob sich und ging sachte hinaus.
Karin lag ganz still, ohne den Kopf zu heben, ohne zu lesen. Und sie dachte, daß nichts auf der Welt so trostlos zugleich und tröstlich sei, als die Briefe eines Toten in Händen zu halten.
Erst als sie die Adresse ansah, entdeckte sie die fremde Schrift. Und der Stempel auf der südwestafrikanischen Marke war acht Tage nach Detlevs Tod gegeben. Aber beim Öffnen des Umschlags erkannte sie auf dem einen engbeschriebenen Bogen die geliebten Züge, und die Tränen schossen ihr in die Augen.
Ich will zuerst den andern lesen, dachte sie. Vielleicht gibt mir das ein wenig Kraft …
Und sie las:
Feldlazarett Zwartfontein, 28. Januar.
Hochverehrte Frau Gräfin!
Die Erfüllung einer sehr schmerzlichen Freundespflicht führt mich heute zu Ihnen, und ich kann wohl sagen, daß mir in meinem ganzen Leben noch kein Brief so schwer gefallen ist wie dieser, den ich im Auftrage meines lieben Kameraden, Ihres Herrn Gemahls, an Sie schreibe. Wenn ich mich ungeschickt ausdrücke und Ihnen, meine hochverehrte gnädige Frau, sehr wider meinen Willen wehtun muß, so rechnen Sie es mir bitte nicht an. Ich bin Soldat und weiß mit der Büchse besser Bescheid als mit der Feder, und es geht mir leider sehr oft so, daß mir die rechten Worte fehlen, wenn ich sie gerade am nötigsten brauchen könnte.
Die Nachricht von dem Heldentode Ihres Herrn Gemahls wird Ihnen durch die Zeitung und auf amtlichem Wege natürlich schon längst bestätigt worden sein, und ich weiß auch, daß kein Mensch mit aller Teilnahme einen andern trösten kann, der sein Liebstes verloren hat. Aber wenn es etwas gibt, das Ihnen den Verlust Ihres Gatten tragen hilft, dann ist es die Art und Weise, wie er den Tod gefunden hat, und die beispiellose freudige Tapferkeit, mit der er bis zum letzten Augenblick uns alle mit sich riß und in einer Minute der höchsten Gefahr durch sein selbstvergessenes Draufgehen den Sieg, den wir schon halb an die Übermacht des Feindes verloren hatten, auf unsere Seite riß.
Wir alle kannten seine Geschichte, und wir alle schätzten ihn hoch und suchten ihm das zu zeigen, trotzdem er es uns in seiner Zurückhaltung höllisch schwer machte. Aber hier im Busch und ganz besonders im Kriege verwischen sich die Grenzen zwischen Untergebenen und Vorgesetzten so leicht, daß es eigentlich nur noch ältere und jüngere Kameraden gibt. Und daß wir ihn immer als einen der Unseren betrachtet haben, das zeigte ihm wohl am besten unsere Freude bei seiner Beförderung zum Unteroffizier.
Zwischen ihm und mir bestand mehr als Kameradschaft. Ich war sein Freund und er der meine, und hätten wir länger zusammen sein dürfen, vielleicht wäre diese Freundschaft das Beste in meinem Leben geworden. Was er mir schon jetzt gewesen ist, das kann ich keinem Menschen sagen. Aber wenn aus mir noch mal ein Kerl wird, der zu was Gutem taugt, dann danke ich es ihm.
Für seinen famosen Erkundungsritt gegen die Bondels, bei dem ihm die Kokarde vom Hut geschossen wurde und ein zweiter Schuß das Schlüsselbein durchschlug, hatte er das Portepee bekommen. An diesem Tage bat er mich, da er verwundet war, an seinen Vater zu schreiben und ihm von der Entwicklung der Dinge zu berichten. Der Brief war mir eine persönliche Genugtuung; denn die Stellungnahme seiner Familie zu Detlevs Verabschiedung war der einzige Punkt, in dem wir uns nicht verstanden. Vielleicht war ich zu sehr sein Freund und sah in ihm zu sehr den prächtigen Menschen, um dem Edelmanne ganz gerecht zu werden.
Kaum, daß er wieder die Zügel halten konnte, meldete er sich zum Dienst, und zwei Tage später kam der Befehl zum entscheidenden Schlag gegen die Aufständischen. Wir standen zusammen bei der Kompanie von Kröchert und kamen sofort ins Gefecht. Ich hatte schon früher oft beobachtet, was für einen großartigen Einfluß Oßwege auf die Leute hatte, und ich weiß nicht, was bei ihm stärker und bezwingender war, seine Kaltblütigkeit oder seine Kühnheit, für die es keine Widerstände gab. Aber was er als Führer bedeutete, das zeigte sich erst in diesen heißesten Tagen bei Uhabis.
Wir hatten gegen die schwarzen Kerls eine verhältnismäßig günstige Stellung, die es uns ermöglichte, sie aus guter Deckung heraus nachdrücklich unter Feuer zu nehmen. Sie zogen sich auch schließlich mit starken Verlusten zurück und ließen uns Zeit, selber zu Atem zu kommen. Wir waren neun Stunden im Gefecht.
Plötzlich aber merkten wir, daß sich die Bondels mit außerordentlicher Verstärkung gegen unsern rechten Flügel warfen, der unter der Führung von Oberleutnant Graf Wesperg und Leutnant Mahrmann die Wasserstellen besetzt hielt und die feindlichen Linien mit dem Maschinengewehr bestrich. Gleichzeitig aber erhielt die deutsche Abteilung heftiges Feuer in den Rücken, und Mahrmann meldete durch Funkenspruch, daß sie die Stellung nicht zu halten vermöchten, wenn das rückwärtige Feuer nicht zum Schweigen gebracht würde.
Im nächsten Augenblick hieß es: »Freiwillige vor!«
Und da – sehen Sie, meine gnädige Frau, es ist ein merkwürdiges, ein unerklärliches Ding um Krieg und Soldatentum. Wir alle, vom Kompaniechef bis zum jüngsten Mann hinunter, wußten, um was es sich handelte, wußten, daß den, der aus der sicheren Deckung heraus gegen das Doppelfeuer des Feindes vorging, schon beim ersten Schritt der Teufel beim Genick hatte. Es war kein Befehl, den's zu erfüllen galt, es war nicht Gehorsam, der gefordert wurde, es war ein freiwilliges Sicheinsetzen für die Kameraden, für die Sache, bei dem das Leben keinen Heller mehr wert war.
Und da hätten Sie unsere Leute sehen sollen!
Vielleicht muß man selbst Soldat sein, um die Freude zu begreifen, die einem die Augen heiß macht, wenn man sieht, wie die Kerls bei solchen Gelegenheiten vorgehen. Ich weiß es nicht. Ich kann Ihnen das auch nicht beschreiben; aber als ich in die rauchgeschwärzten, wilden, entschlossenen Gesichter um mich her sah und spürte: es ist kein Muß, es ist der Wille, der die Leute treibt, dem Tode an die Gurgel zu fahren … da fuhr es mir durch den Kopf: Jetzt hast du den größten Augenblick deines Lebens erlebt. Und so war es auch.
Der erste, der vorsprang in die Front, war Oßwege. Nie in meinem Leben vergesse ich sein Gesicht in dieser Stunde, diese flammende, diese lodernde Begeisterung – und den Blick, mit dem er die kleine Schar der Auserwählten überflog: »Kerls – jetzt gilt es!«
Seite an Seite gingen wir vor, sprungweise, niedergeworfen und hochgerissen, und da blieb einer liegen, und dort brach einer zusammen mitten im Sprung. Die Kugeln pfiffen uns um die Ohren wie die Stechfliegen. Ein Streifschuß riß Oßwege eine Schramme über die Stirn; das Blut lief ihm in die Augen – er sprang vorwärts. Und er war es, der uns mit sich fortriß. Es war etwas Unwiderstehliches in ihm. Ich habe ihn leidenschaftlich bewundert.
Und in dieser Stunde war es, als wir, einen Augenblick Atem schöpfend, keuchend und halb betäubt in dem glühenden Sande lagen, daß er zu mir sagte: »Wörnitz, wenn ich falle, schreiben Sie an meine Frau und schicken Sie ihr den Brief, der in meiner Brusttasche steckt.«
Ich hab's ihm versprochen; aber Gott weiß, wie sehr ich mir wünschte, mein Versprechen nicht einlösen zu müssen.
Nach einer halben Stunde unerhörter Anstrengung hatten wir's geschafft und konnten das Feuer der Kameraden kräftig unterstützen. Aber auch der Gegner verdoppelte seine Anstrengungen, und unsere Mannschaften waren so zusammengeschmolzen, daß wir vor der Gefahr standen, einfach überrannt und erdrückt zu werden.
Das erkannte Oßwege eher als wir alle. Und plötzlich sprang er auf und gegen die feindliche Schützenlinie vor.
»Drauf, meine Kerls!« schrie er.
Und wir folgten ihm alle. Kein Schuß fiel mehr; wir arbeiteten mit den Kolben. Wie die Wahnsinnigen hieben die zu Tode erschöpften, braven Leute auf die schwarzen Wollköpfe ein. Es war ein Kampf Brust gegen Brust, Faust gegen Faust, ein knirschendes Niederringen des Feindes. Und als so ein verfluchtes schwarzes Biest, fünf Schritte von ihm entfernt, auf Oßwege anschlug und der im Feuer zusammenbrach, da ließ Unteroffizier Kramer sein Gewehr fallen und warf sich mit einem Gebrüll wie ein verwundeter Stier auf den Mordbuben, würgte ihn mit den Fäusten und rang ihn zu Boden: »Hund, elender, du hast mir meinen Leutnant erschossen!«
Es war wie ein Sturmzeichen für alle, und dem rasenden Anpralle dieser rachedürstenden Wut widerstanden die Schwarzen nicht. Sie rannten wie die Hasen.
Oßwege war nicht tot. Der Schuß hatte ihm das eigene Gewehr an den Kopf geschlagen und ihn minutenlang betäubt. Er richtete sich wieder auf, sagte: »Es ist nichts! Es ist nichts!« und lachte. Die Freude dieses Lachens vergess' ich nie.
Eine Stunde später lagen wir wieder im regelrechten Schützenfeuer. Durch das fortwährende Schwanken des Gegners hatte sich die Gefechtslage am späten Nachmittag so verschoben, daß wir schließlich mit der Abteilung Loewe zusammen fochten, die ursprünglich südöstlich unsrer Hauptstellung in Reserve gestanden.
Links von mir lag Rittmeister von Krugk, rechts Oßwege, der sich das Taschentuch um die blutüberkrustete Stirn gebunden hatte und fortwährend aufstand, um besseren Überblick über die Stellung des Feindes zu gewinnen.
Ein Verwundeter lag ziemlich weit vor unserer Schützenlinie, dem feindlichen Feuer vollkommen preisgegeben. Oßwege sprang vor und schleppte ihn zurück, wobei er einen Schuß in die linke Schulter bekam.
»Oßwege, jetzt haben Sie Ihre Epauletten wieder!« sagte Rittmeister von Krugk.
Einen Augenblick sah ich das Gesicht Oßweges, wie es sich seinem Vorgesetzten zuwandte. Ich weiß nicht, ob er eine Antwort gab. Ich sah nur das Leuchten in seinen Augen. Und ein paar Minuten später hörte ich sein ruhiges Ermahnen: »Langsamer feuern!«
Als ich unwillkürlich zu ihm hinschaute, hatte er den Kopf gesenkt und lag, Gewehr im Anschlag, regungslos. Er war tot. Die Kugel hatte ihn in die Schläfe getroffen. Er hat nicht gelitten.
Meine hochverehrte gnädige Frau, mehr habe ich Ihnen nicht zu erzählen. Nur eins kann ich Ihnen noch sagen: Wir sind hier alles junge, straffe Menschen, die das Leben lieb haben und noch viel von ihm erwarten. Aber um diesen Tod haben wir unsern Kameraden beneidet.
Aufrichtiger kann keiner betrauert werden als er. Und sein Name wird in der Geschichte dieses Landes unvergänglich sein. Ich aber, der ihn zum Freunde hatte, ich weiß besser als sonst einer, was wir mit ihm verloren haben.
Verzeihen Sie mir, daß mein Versprechen mich zwang, Ihnen von neuem wehzutun. Wenn ich Ihnen in irgendwelcher Weise dienen kann, so bitte ich Sie, ganz über mich zu verfügen.
Ich bin, hochverehrte Frau Gräfin, mit gehorsamstem Handkuß
Ihr ganz ergebenster
von Wörnitz
Leutnant in der
Kaiserlichen Schutztruppe
für Deutsch-Südwestafrika.
Karin legte die Blätter zusammen und hielt sie in der Hand. Ihr schmales, weißes Gesicht, das ganz von Tränen überronnen war, schien leuchtend hell, und ihre Lippen lächelten. Und dieses verklärte Lächeln blieb auch auf ihrem Gesicht, als sie den Brief des Toten nahm und zu lesen begann. Sie las ihn ganz ruhig, und an einer Stelle hob sie die sinnenden Augen und dachte lange nach, und dann las sie zum zweiten Male:
»Du hast meinen Vater hart genannt, weil er mir Wappen und Adel verbot. Jetzt weiß ich, er hatte Recht, und auch Du wirst ihm Recht geben, Karin.
»Der deutsche Adel und die deutsche Armee sind unzertrennlich. Man kann das eine nicht verletzen, ohne dem andern zu schaden. Und wer durch Leichtsinn oder andere Schuld dazu beiträgt, das Ansehen unseres Heeres zu beflecken, der ist nicht wert, zu ihm zu gehören.
»Im Vertrauen unseres Volkes zu seinem Heere und dessen Führern liegt die Sicherheit seiner Entwicklung. Und es ist die vornehmste Aufgabe unseres Offizierkorps, dieses Vertrauen zu festigen und zu bewähren.
»Du hast wie ich, wie Hunderte und Tausende die Schmähartikel gelesen, die von der regierungs- und heerfeindlichen Presse infolge des Spielerskandals gegen den Adel und das deutsche Offizierkorps losgelassen wurden. Daß ihre maßlosen Anwürfe und Schmähungen aus einer Mücke einen Elefanten, aus dem Einzelfall die Regel machten, das war nicht unsere Schuld – wohl aber, daß die Gegner unserer Staatsverfassung überhaupt einen Anlaß zu ihren Angriffen bekamen.
»So hat es mein Vater auch aufgefaßt. Und daß er mich, der unsern guten Namen in diesen Dreck hineingezerrt hat, nicht mehr kennen wollte, das war eine verflucht harte Strafe; aber sie war gerecht.
»Und ich habe den Flecken abgewaschen, Karin. Ich bin wieder wert, den Säbel zu tragen. Und ich kann meinem Sohne frei in die Augen blicken, wenn ich ihn wiedersehe, denn ich habe meine Schuld auch gegen ihn gesühnt.
»Und wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte, dann kannst Du ihm mit freiem Herzen von seinem Vater erzählen. Und wenn er zum Manne herangewachsen ist, wird er stolz an mich denken dürfen.
»Dir aber, die Du mir den Weg zur Sühne freigabst, Dir danke ich, wie ich Dir nie gedankt habe. Du hast das Größte an mir getan, was ein Mensch dem andern tun kann: Du hast mir mich selber wiedergegeben …«
Da schloß Karin Oßwege die Augen und fühlte: »Es ist alles gut!«
Und als eine Stunde später der Arzt wieder zu ihr ins Zimmer trat und sagte: »Graf Oßwege möchte der tapferen Frau seines Sohnes zur Genesung gratulieren, Verehrte. Was meinen Sie dazu?«
– da sah sie mit hellen Augen zu ihm auf und antwortete: »Ich warte auf ihn.«