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»Drei Tage Frist? Sie sind vorbei.
Brich auf!«
K. F. Meyer.
Mit einem Seufzer der Ungeduld legte Frau von Wasdorff die Zeitung aus der Hand.
Es wirkte nachgerade lächerlich, dieses ewige Hin und Her zwischen Krieg und Frieden, das heute widerrief, was gestern für unabänderlich galt. Einmal schien es, als hätten die Truppen schon die scharfen Patronen im Lauf, und am nächsten Tage standen sie harmlos Gewehr bei Fuß oder übten Parademarsch, als wäre das der einzige Zweck des Daseins.
Aber wenn sich die Wogen der Aufregung eben wieder geglättet hatten und das Leben im ruhigen Strome des Alltäglichen hinfloß, dann zuckten hier und dort, wie Funken aus der Asche, die roten, ruhelosen Irrlichter auf, und ein hetzender Wind blies hinein, bis die Flammen lichterloh emporschlugen und der Völkerhimmel in allen Gluten der kriegerischen Feuersbrunst stand.
Und dann eine besonnene, eine knappe Meldung: »Blinder Lärm!«
Die Welt beruhigte sich …
Wahrhaftig, ein sinnloses Spiel – sinnlos und gefährlich wie das von Kindern, die über eine Streichholzschachtel geraten sind. Man sollte sie ihnen aus der Hand nehmen, diese kleinen, tückischen Zünder, ehe sie Unheil stiften konnten …
Brigitte von Wasdorff erhob sich und trat auf den Balkon hinaus, zu dem ein junger Apfelbaum die blühenden Zweige hob.
Ein schöner Frühlingstag, der Abschied nehmen wollte.
Der Himmel unaussprechlich rein und klar – goldüberhaucht von einem letzten, königlich verschwendenden Gluten der Sonne, die über den fernen Hügeln stand und die Türme der Stadt im Tale funkeln machte und die Fenster brennen.
Der Duft der dunklen, weichen Erde stieg wie ein feiner Opferrauch von Wiesen und Feldern auf, rosig, wo ihn die Sonne traf, zartblau im Schatten des Waldes. Der Fluß blitzte silbern zwischen den Weiden hervor, und überall an den Hängen blühten die Bäume und Hecken, und im Garten hatten die ersten Narzissen die unschuldigen Augen aufgetan.
So schön war die Erde und so friedevoll. Wie von den Armen einer grenzenlosen, heiteren Güte umschlungen.
Auf der Wiese jenseits der Straße, die von uralten Kastanien umschattet war, spielten die Kinder, Buben und Mädels, flochten sich Kränze von goldgelbem Löwenzahn und bliesen die silbernen Laternchen aus und sangen:
»Ich geh' mit meiner Laterne
Und meine Laterne mit mir!
Da oben leuchten die Sterne,
Und unten leuchten wir!«
Hinter dem Haus, im Hofe, pfiffen die Burschen und schwatzten …
Und der junge, schlanke, blühende Apfelbaum hob seine ahnungslose Schönheit zu der Frau empor, die hell und still in dem Sonnengefunkel stand.
Es gibt kein Bild des Friedens, das schlichter und vollkommener wäre als ein junger, blühender Apfelbaum.
Und Brigitte von Wasdorff mußte lächeln, wenn sie an das Kriegsgeschrei der Zeitungen dachte – an das zähneklappernde Gespenst, das sie heraufbeschworen.
Wie töricht – das alles …
Was wollte der Kriegsgedanke in einem Lande, wo jeder Windhauch Fruchtbarkeit war – jeder Baum eine Verheißung … wo alte, liebe Kinderreime mit den Vögeln um die Wette sangen?
Aber da waren noch andere Klänge in der Luft.
Im Walde hinter den Kasernen übten die Spielleute.
Und die kleinen, schneidigen Kerle von der zwölften Kompanie rückten vom Exerzierplatz herein, graubraun wie die Feldmäuse, ein Lied auf den Lippen:
»Soldatenleben, ja das heißt lustig sein!
Wenn andre Leute schlafen,
Dann muß ich wachen,
Muß Schildwach' stehn,
Patrouille gehn!«
Gott bewahre, wie die Leute aussahen … die Stiefel, die Fäuste, die den Kolben umklammerten, die Gesichter vom Staub überkrustet …
Achim würde bei diesem Anblick das Herz im Leibe gelacht haben. Frischer Dreck ziert den Soldaten, pflegte er zu sagen; für alten fliegt er ins Loch.
Hauptmann von Rombarth senkte grüßend den Degen vor der Gattin seines Kommandeurs. Auch er wie gepudert bis zu den starken Brauen. Er galt als der tüchtigste Offizier im Regiment, hatte eine glänzende Laufbahn vor sich. Davon verstand sie nichts. Für militärische Dinge hatte sie weder Urteil noch Interesse. Aber sie wußte, daß ihr Mann von seinen Offizieren Außerordentliches forderte und daß es viel bedeuten wollte, wenn er lobte.
Und wieder, wie so oft, wenn sie an dienstliche, soldatische Angelegenheiten dachte, wurde ihr klar, wie weltenfern ihr das alles lag. Wie unendlich gleichgültig es ihr war. Gleichgültig wie das meiste, das für ihren Mann Inhalt und Zweck des Lebens bedeutete.
Sie war ein Gelehrtenkind, die Tochter eines Philosophen, der, fanatisch wie alle Apostel, ein leidenschaftlicher Vorkämpfer für den Gedanken des Weltfriedens war. Es gab für ihn kein Volk und kein Vaterland; es gab nur die Menschheit und die Welt.
»Ein Volk, das entschlossen ist, Krieg zu führen, ist seines Jahrhunderts nicht wert …«
Diese Überzeugung gab er seiner Tochter als ein Erbe für die Zukunft mit. Es war fast das einzige Erbe. Vater- und mutterlos stand sie dem Leben gegenüber, das sie fürchtete, weil es ihr fremd war, mit dessen nüchternen Forderungen sie nichts anzufangen wußte, das ihr roh und gewalttätig und unbegreiflich schien.
In dieser Zeit hatte Achim von Wasdorff um sie geworben. Er war zwanzig Jahre älter als sie. Und sie sagte Ja. Sie täuschte ihn nicht; sie sagte ihm kein Wort der Liebe, aber jedes Wort des Vertrauens.
»Das ist mir heute genug,« antwortete er.
Es hatte ihm in den zwei Jahren ihrer Ehe noch immer genug sein müssen. Eines starken Gefühls war sie nicht fähig, weder in Liebe noch in Haß. Eine große, unerschütterliche Ausgeglichenheit beherrschte ihre Empfindungen. Das überströmende Jauchzen des Glücks war ihr ebenso fremd wie das Schluchzen des Jammers, der sich in Krämpfen schüttelt. Ebenmaß in allem, ging sie still, freundlich und kühl neben dem Manne hin, der sie liebte und der ihr fremd war in seinem ganzen Fühlen.
Er war Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, seines Kaisers und Königs getreuester Vasall, deutsch wie die Erde selbst, auf der er lebte. Und sie war ihres Vaters weltweise, weltfremde Tochter, und völkische Heiligtümer waren ihr Schall und Rauch.
In den Tagen kriegerischer Erregung, die ja nun glücklich überwunden schienen, hatten sie wie von zwei meergetrennten Inseln zueinander gesprochen, Begeisterung zu Widerwille – Worte, die ins Wasser schlugen wie Rutenhiebe, anstatt eine Brücke zu bauen.
Nur eins konnte sie nicht vergessen. Was er zuletzt gesagt.
»Ich ginge gern in den Krieg, Brigitte, lieber heute als morgen, und um so ruhiger, als ich weiß, daß dir der Krieg nichts nehmen kann, um das du weinen würdest …«
Darauf hatte sie geschwiegen. Aber es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Heute zum ersten Male wartete sie auf ihren Mann und wunderte sich, daß er nicht kam. Sie trat ins Zimmer zurück, sah nach der Uhr. Es lag doch nichts Besonderes vor. Ein Tag im Dienst wie alle anderen …
Drunten auf der Straße verklang das frische Lied.
»Schildwach' zu stehen, das brauchest du ja nicht,
Wenn dich die Leute fragen,
So mußt du sagen:
Schatz, du bist mein,
Und ich bin dein …«
Und brach plötzlich ab, mitten in der letzten Zeile, in einem scharfen Kommando: »Achtung! Die Augen – links!«
Rrrm, rrrm, rrrm, rrrm …
Eine Minute später wurde unten die Haustür dröhnend ins Schloß geworfen.
Das war sonst nicht Achims Art. Er wußte, wie unangenehm ihr alles Laute und Formlose war, und pflegte in jeder Kleinigkeit Rücksicht zu nehmen. Wenn er das einmal außer acht ließ, mußte er den Kopf sehr voll haben.
Unwillkürlich blieb sie mitten im Zimmer stehen und lauschte – auf etwas, das kommen würde.
Jetzt war es im Haus, jetzt auf der Treppe … Jetzt riß ihr Mann mit einem Ruck die Tür auf – stand auf der Schwelle, suchte und fand sie mit einem einzigen Blick und grüßte sie nicht.
Und sagte: »Der Krieg ist erklärt.«
Sie verstand nicht, – gab keine Antwort. Zu ungeheuerlich war das, zu unwirklich riesenhaft und jäh, um aus vier Worten verstanden zu werden.
»Der Krieg ist erklärt …?«
Er gab ihr das druckfeuchte Extrablatt. Ihre Augen glitten über die weitgesperrten, schreienden Zeilen; aber was sie sagten, drang nicht in ihr Gehirn, in dem die flatternden Gedanken sich mühten, das eine Wort zu erfassen: Kriegserklärung …
»Die Truppen der Grenzgarnisonen haben mobil gemacht …«
Sie fühlte die Augen ihres Mannes auf sich ruhen, wie sie in den vergangenen zwei Jahren so oft auf ihr geruht hatten, mit dieser stummen, schweren Frage – und wußte: Er wartet – wartet auf einen Blick, auf ein Wort, das die Frau dem Manne sagt, der in den Krieg geht – in den Krieg …
Aber sie fand es nicht. Sie war wie gelähmt. Sie hörte ihn durch das Zimmer gehen, nach der Türe …
Du mußt ihn zurückhalten, dachte sie unklar. Und fragte: »Wann mußt du fort?«
»Übermorgen – Sonnabend.«
Als ob er vom Ausrücken zu den Herbstübungen redete …
»Kann ich dir etwas helfen?« murmelte sie und spürte das Gequälte, das sinnlos Lächerliche dieser Frage in dieser Stunde wie einen bitteren Geschmack im Munde.
»Danke, liebes Kind, bemühe dich nicht,« antwortete er freundlich. »Franz weiß mit dem Packen Bescheid und ist ganz zuverlässig.«
Sie schwieg, und er verließ das Zimmer, setzte sich nebenan vor seinen Schreibtisch. Es wurde still.
Brigitte stand noch immer mitten in der Stube, regungslos, das zerknitterte Blatt des Schicksals zweier Völker in der Hand.
Kriegserklärung …
Und plötzlich hatte sie ein Gefühl, als ob alles Blut ihres Leibes sich aus den Adern in ihr Herz verkröche, um es mit harten Stößen zu zersprengen. Ihre Zähne klirrten aufeinander … Ein Entsetzen packte sie, eine so jämmerliche, hündische Angst, als sei nicht der Krieg erklärt, nein, als sei in der Stadt die Pest ausgebrochen und sie wüßte: die nächste Stunde schleppt sie dir ins Haus …
Sie hob verstört den Kopf, als die Klingel anschlug. Sie hörte den Burschen mit ein paar Sätzen die Treppe nehmen, hörte seine Meldung im Nebenzimmer: »Der Herr Regimentsadjutant lassen fragen, ob Herr Oberst einen Augenblick zu sprechen sei …«
Und gleich darauf die Stimmen der beiden Männer, die sich begrüßten: »Na, Golditz, nu geht's also los!«
»Jawohl, Herr Oberst – endlich!«
Es geht los … Was denn? – Das Morden!
Brigitte setzte sich in der dämmerigsten Ecke des Zimmers auf einen Sessel und drückte die Hände über die Ohren. Sie wollte das nicht hören – wollte nicht …
Da sprachen zwei Menschen vom Kriege, als wär's eine Schnitzeljagd. »Es geht los!« Und die Meute bläfft und heult vor Ungeduld und zerrt an den Leinen …
Wie furchtbar war das – dies Handwerk der Soldaten … Wie es die Menschen verrohte …
Gab es denn etwas Grausameres, etwas Barbarischeres als einen Krieg – etwas Verwerflicheres, so weit die Erde reichte –!
War es denn möglich, daß in einem Jahrhundert voller Ideale, voll von Geisteskräften und edelstem Wollen zwei Völker, die beide zum Höchsten berufen waren, aufeinander losfahren durften wie die blutgierigen Bestien des Urwaldes, ohne daß die ganze übrige Menschheit sich haltgebietend dazwischen warf?
Zwei Völker, die – unerhört verschieden, wie sie waren – doch die prüfende Zunge der Weltwage gleichwertig in der Mitte hielten, die fanden mit all ihren Wissensschätzen keinen andern Weg, sich zu verständigen, als daß sie sich gegenseitig überfielen, sich ineinander verbissen, verkämpften und nicht eher abließen von ihrem greuelvollen Tun, bis eins von ihnen röchelnd am Boden lag.
O, welches Volk war unseliger – das besiegte, das verlorene, das duldete und litt, was kein menschlicher Geist in seiner ganzen Grauenhaftigkeit auszudenken vermochte … oder das siegreiche, das verdammt war zum Massenmord, verdammt und verflucht, sein Menschentum und seine Menschenwürde wegzuwerfen um einen Begriff, so lächerlich klein wie dieser: Vaterland – das siegreiche, das die Zukunft erkaufen mußte mit dem Blute von Hunderttausenden, deren qualverzerrtes, gespenstisches Bild die Träume seiner Kinder vergiftete …
Und warum – warum –?
Weil es gezwungen wurde zum Krieg, gezwungen durch eiserne Gesetze, die einem Nebelworte dienten, einem leeren Gedanken, einer längst erstorbenen Idee …
Vaterland – was hieß das für die Menschheit, die keine Grenze hatte innerhalb der Erde, die über alle Berge einen Weg fand und sich die Meere untertan gemacht?
Warum wehrst du dich nicht, du Menschheit, gegen das Ungeheuerliche? Warum weigert ihr euch nicht, ihr großen, ihr starken, freien Völker, dem Zwang des Widernatürlichen zu gehorchen?
»Brigitte …«
Sie ließ die Hände sinken. Sie hatte das Eintreten der beiden Männer nicht gehört. Achim stand vor ihr – der Adjutant in der Türe nahm die Hacken zusammen, daß die Sporen klangen.
»Herr von Golditz möchte dich begrüßen, Brigitte.«
Sie stand auf und ging dem jungen Offizier entgegen, reichte ihm die Hand, die er an die Lippen zog.
Aber sie konnte nicht sprechen.
»Gnädige Frau,« sagte eine frische, helle Stimme mit einem schwingenden Ton, »ich wollte Sie bitten, daß Sie sich meiner Frau ein wenig annehmen – in den kommenden Zeiten … Sie ist freilich sehr tapfer – hat das Herz auf dem rechten Fleck, aber – ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar, gnädige Frau …«
»Selbstverständlich, Herr von Golditz, ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht,« antwortete sie und sah über ihn fort.
Sie hörte noch immer das: »Es geht los – endlich!«
Und dabei hatte der Mann ein junges, zartes, glückliches Weib … und sie trug sein Kind unterm Herzen …
»Meinen innigsten Dank, gnädige Frau …«
Und abermals sangen die Sporen.
»Ich gehe ein Stück mit Ihnen, lieber Golditz,« sagte der Regimentskommandeur. »Du beurlaubst mich wohl, Brigitte, nicht wahr? Ich möchte – meiner Mutter Lebewohl sagen und weiß nicht, ob ich morgen noch Zeit dazu finde.«
Sie fühlte, es lag ihm auf den Lippen, zu bitten: Geh mit mir! Aber er unterdrückte es. Er hatte zu oft umsonst gebeten. Zwischen ihr und der alten, strengen Soldatenfrau gab es keine Gemeinschaft.
Oder doch – vielleicht? Jetzt, in dieser Stunde, da sie den Sohn hergeben mußte und der mörderische Wahnsinn in ihr eigenes Leben hineingriff …
Nein, sie konnte jetzt nicht hinunter in die Straßen der Stadt, die das Entsetzliche nun auch begriffen hatte, konnte es nicht mitansehen, wie das Gespenst des Krieges in alle Häuser drang und die Lichter darin auslöschte und die Fenster verhängte. Sie konnte nicht – sie wollte nicht … ihr war, als müßte sie den stumpf ergebenen Menschen, die den Sichelwagen über ihre Leiber und Seelen sich hinwälzen ließen, in die Ohren schreien: So wacht doch auf! So wehrt euch doch! Ihr Männer, die ihr zum Mord gezwungen werdet, ihr Weiber, denen man die Gatten, die Söhne, die Brüder rauben will – ihr Kinder, die ihr vaterlos durchs Leben gehen sollt um eines Irrtums willen …! Empört euch doch! Empöre dich, du ganzes, ganzes Volk! …
»Also – auf Wiedersehen, Brigitte!«
»Auf Wiedersehen …«
»Gnädige Frau …«
»Leben Sie wohl, Herr von Golditz.«
Und eine Tür fiel sacht ins Schloß.
Und nun wieder Stille – Stille, so atemlos und herzbeklemmend, als sei das Leben lebend in die Gruft gesenkt und eine unerbittliche Hand fügte den letzten Stein in die Wölbung über seinem Grabe.
Minuten vergingen. Endlose, schleppende, schwerbeladene Minuten – und tiefe Stille …
Und plötzlich – aus der Stille des Todes heraus – ein Ton … ein tiefer, summender, schwingender Ton …
Was war das …?
Glocken …
Die Glocken läuteten …
Aber das war nicht das schlichte, friedliche Geläut der Abendstunde, das war ein wogender, wallender, strömender Klang, von allen Türmen hinflutend über die ganze Stadt …
Was war das? – Was war das, das so gewaltig in die Glockenseile griff, daß die erzenen Münder dröhnten wie nie zuvor? War das Sturm? War das – Empörung?
Und da stand plötzlich der Bursche in der Türe, das rote, ehrliche Gesicht von einer heißen Freude übergossen.
»Gestatten gnädige Frau, daß ich die Fahne aufziehe?«
»Die Fahne …«
»Weil schon die ganze Stadt geflaggt hat, gnädige Frau …«
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Ja,« sagte sie hilflos und wußte nicht, daß sie es tat. Und dann stand sie auf dem Balkon und sah und hörte … und konnte es nicht fassen …
Die ganze Stadt, so weit sie blicken konnte von ihrer hochgelegenen Warte, ein Meer von Fahnen, schwarz-weiß-rot …
Von allen Dächern flogen sie, von den Türmen des Rathauses, von den Zinnen der alten Burg, von den Fenstern und Altanen nieder, daß die Straßen nicht mehr zu erkennen waren, wogten und stiegen im Winde und leuchteten mit ihrem kraftvollen Dreiklang, und immer mehr wurden es, immer mehr …
Und jetzt hatten die Burschen im Garten die Schnüre entwirrt, und langsam, sich königlich entfaltend, rauschte die schöne deutsche Fahne auf, schmiegte sich, vom Wind geschwellt, für kurze, herzdurchbebende Augenblicke um die Gestalt der Frau und schwang sich dann, weit ausgreifend, zu feierlicher Höhe empor, grüßte die Schwestern – die tausend Schwestern im Tale.
Und die Glocken, die Glocken wuchsen zum Meer – zu einem uferlosen Meer von Tönen, daß die Luft erbebte unter dem Überschwang, daß der ganze Himmel ein Echo zu werden schien für diesen erschütternden Sturm des erzenen Jubels.
Und zu dem Branden der Glocken, dem Wogen der Fahnen gesellte sich, unklar zuerst, dann immer klarer, immer mächtiger, ein unermeßlicher Gesang aus zehntausend Kehlen, ein Lied, das wie Frohlocken klang, wie Kraft und Trotz und höchste, heiligste Zuversicht, das Lied vom Rhein, vom deutschen Rhein:
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland, magst ruhig sein!
Lieb Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!«
Krieg war's – und über dem deutschen Land flogen die deutschen Fahnen …
Krieg war's – und das deutsche Volk ließ seine Glocken dröhnen: »Gott mit uns! – Gott mit uns!«
Krieg war's – und wie ein Schwur aus Millionen Herzen klangs hinein in den himmelansteigenden Glockenchor: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«
Wie sie aus dem Haus und auf die Straße in die Stadt hineingekommen war, das wußte Brigitte nicht. Sie fühlte nur, daß ihre ungläubige, zweifelnde Seele danach dürstete, diesem Wunder nahe zu sein – diesem unfaßlichen, unsagbar schönen Wunder opferfreudiger Begeisterung …
Sie verstand es nicht, nein, sie wehrte sich dagegen, wollte es zergliedern und mit ruhiger Vernunft zersetzen. Es gelang ihr nicht. Wie eine Woge alles überspült, was in ihre Nähe kommt, so riß der heilige Aufschwung dieser Stunde auch sie widerstandslos mit sich fort. Und sie ließ sich tragen von ihm und schaute, lauschte, als sei sie blind und taub geboren und nun auf einmal geheilt …
Noch immer dröhnten die Glocken, brausten die Lieder um die wogenden Fahnen her. Mit einem Schlage flammten die Lichter in den Straßen auf, wie leuchtende Demantschnüre über das Dunkel gespannt.
Aber es gab kein Dunkel an diesem Abend. Ein Fenster nach dem anderen wurde hell, kleine Lampen, bunte und weiße Kerzen reihten sich auf den Borden, als sei eine neue Weihnacht gekommen über die deutsche Erde.
Heut aber hieß es nicht: »Friede auf Erden!«
Heut hieß es: »Krieg!«
Und dennoch – dennoch –!
Warum war diese Stunde eine Verklärung und ein Fest?
Weil ein Volk sich erhob, einmütig und zuversichtlich, ein Volk in Waffen, zur Wacht, zur Wacht am Rhein …
So – nein, so hatte sie sich's nicht gedacht …
Daß sie gehorchen würden, wenn das Gesetz sie zu den Waffen rief, das hatte sie gewußt; hatten sich doch in den zwei Jahren ihrer Ehe alle Gespräche um die Erziehung des Volkes zur Wehrhaftigkeit gedreht. Und dieses Volk war erzogen.
Aber daß es gehorchen würde mit diesem ernsten Jubel, mit dieser starken, bedingungslosen Freudigkeit – das war ein Wunder … nein, das war mehr als ein Wunder, das war eine Offenbarung.
Brigitte kannte das Volk nicht – wußte nichts von ihm, wußte nicht, wie wundervoll einfach und groß dieses einfache und große Volk seine Pflichten begriff und zu erfüllen bereit war.
Nun kam diese Stunde wie ein Bote aus einer anderen Welt zu ihr, nahm sie bei der Rechten und führte sie in ein fremdes Land, wies ihr mit hochragender Leuchte die Wege, die des Volkes Seele ging und sein Wille – jetzt, da der Krieg an seinen Grenzen rüttelte. Zum ersten Male ergriff sie der Strom von Menschen, die eines Blutes sind – zum ersten Male fühlte sie sich selbst als eine Welle in diesem Strom, der ihr Ich auflöste, sie ein Tei! des Ganzen, Allgemeinen werden ließ, und spürte den Herzschlag dieser Tausende als ihres eigenen Herzens Schlag.
Sie sah den entschlossenen Ernst der Mannheit, das fröhliche Draufgängertum der Jugend sich schließen zu einem eisernen Ring. Sie sah – o immer deutlicher, je weiter die Stunde schritt! – wie hier eine Frau an der Seite ihres Mannes ging, das Gesicht von Tränen überronnen, wie dort eine Mutter die harten Fäuste ihres Sohnes streichelte und vor sich hinsah mit einem jammervollen Blick – und sah ein junges, kindjunges Weib schluchzend, schluchzend am Halse eines Burschen hängen – sah mit den Augen ihrer Seele den Schmerz und die Tränen der Ungezählten, die sie nicht sah.
Aber dieser Schmerz empörte sich nicht.
Er war lauter; er war gut; er war heilig.
Und in der Frau, die auf den Stufen der Kirche im Schatten stand und über das Fluten und Wogen der Menge hinsah, in dieser Frau erwachte plötzlich eine große Sehnsucht: teilzuhaben an diesem verklärten Schmerz, der die Menschen über sich selbst hinaushob mit starken, stolzen Armen.
All ihre ruhige Gelassenheit, ihr ausgeglichenes seelisches Ebenmaß empfand sie jetzt als eine unerträgliche Leere, als eine Armseligkeit in dieser von allem Großen erfüllten, überreichen Stunde. Sie dachte an die Frau von ihres Mannes jungem Kameraden und an seine Worte: »Sie ist sehr tapfer …«
Und eine Ahnung dämmerte in ihr, als ob all der kampfbereite Mannesmut, der sich zur Wacht am Rheine scharte, seine beste Kraft aus dieser sanften Tapferkeit der Frauen schöpfte, aus ihrem Lächeln, über das die Tränen rannen, aus ihrer umklammernden, schluchzenden Liebe, die sich selbst bezwang und sagte: Keine Klage, keine Not – ein Segen will ich dir sein …
Seine beste Kraft – und seine Freudigkeit.
Den Willen zum Siege.
Und da fühlte sie: nicht um Abschied zu nehmen, war ihr Mann zu seiner Mutter gegangen – um sich den Segen ihrer Liebe zu holen – den Segen der Liebe, die spricht: »Geh mit Gott und komm mir wieder!«
Ihr wurden die Augen heiß. Sie wandte sich und ging nach Hause. Was sie dazu trieb, wußte sie nicht. Aber sie wollte daheim sein, wenn er wiederkam.
Und wie sie durch die Straßen ging, schollen ihr von allen Seiten die Lieder entgegen, die schon hundertmal in heißen, wilden Tagen mit einem derben Lachen das Grauen überwunden hatten:
»Nu adje, Lowise, wisch ab dein Gesicht!
Eine jede Kugel, die trifft ja nicht.
Denn träf' jede Kugel apart ihren Mann,
Woher kriegte der König die Soldaten dann?« –
Und ein Trupp schlanker, wehrhafter Bürschchen – lieber Gott, wie jung! – zog mit ihr den gleichen Weg und hatte grüne Zweige an den Mützen und sang aus voller Kehle:
»Dort haben sich im offnen Feld, valleri juchhe!
Noch rote Hosen aufgestellt, valleri juchhe!
Was haben sie da 'rumzustehn? Valleri juchheirassa!
Drauf los, die müssen wir besehn! Valleri juchhe!«
Einer erkannte sie, riß im Singen die Mütze herunter, lachte sie an mit dem rotübergossenen Knabengesicht, in dem die Augen wie die Lichter flammten …
Du Jugend du, dachte sie, und das Herz wollte ihr überströmen, du holde, törichte, heilige Jugend du …
Und noch in ihr stilles, dunkles Zimmer klang es herüber mit wuchtigem Schritt:
»Lieb Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!«
Wie die ferne gewaltige Brandung des Meeres …
Es war beinahe Mitternacht, als sie ihren Mann nach Hause kommen hörte. Sie wartete eine lange Zeit; aber er kam nicht zu ihr. Da ging sie, im Dunkeln tastend, nach seinem Zimmer, öffnete sacht die Tür und trat über die Schwelle.
Er saß am Schreibtisch, den Kopf in die Linke gestemmt, die Feder in der Hand. Aber er schrieb nicht. Als er sie kommen hörte, wandte er sich um und stand auf. Nie hatte sie in einem Menschengesicht so viel ungläubige Freude gesehen.
»Du bist noch wach, Brigitte?«
»Ja,« sagte sie und fühlte eine jähe Schwäche über sich herfallen, daß sie nach einem Halt verlangte. Und sie griff nach der Hand ihres Mannes. »Ich wußte nicht, warum du nicht kamst.«
»Ich wollte dich nicht stören … Es war dunkel bei dir – ich glaubte, du schliefest schon. Und dann muß ich morgen früh sehr zeitig in Dienstangelegenheiten nach Berlin …«
»Morgen –?«
»Ja,« – er konnte sich den Ton ihrer Frage nicht deuten und stockte.
Sie hielt noch immer seine Hand umklammert; ihre Augen glitten durch das Zimmer, über den Schreibtisch, über das weiße Blatt, neben dem die Feder lag.
Drei Worte standen darauf, weiter nichts:
Es war still zwischen ihnen. Und dann sagte sie: »Nimm mich mit!«
»Wie denn – nach Berlin?«
»Ja, Achim.«
»Aber liebes Kind, – wie kommst du auf diesen Gedanken?«
»Ich möchte bei dir sein,« sagte sie.
Er antwortete nicht. Und sie sah zu ihm auf. Er wandte die Augen fort.
»Es ist sehr freundlich von dir,« meinte er nach einem scharfen Räuspern. »Aber ich glaube nicht, daß diese Fahrt etwas für dich wäre. Du liebst es nicht, im Gedränge zu sein. Und morgen sind ganz gewiß alle Millionen, die Berlin hat, auf der Straße, um den Kaiser zu begrüßen, der von Homburg kommt.«
»Achim,« sagte sie, »ich bin vorhin in der Stadt gewesen – nein, nein, unterbrich mich nicht! – ich weiß so schon nicht, wie ich es dir sagen soll. Du weißt, was mein Vater vom Krieg für eine Meinung hatte. Ich habe ihm geglaubt. Jetzt weiß ich nicht mehr, ob er Recht hatte. Ich will meine Klarheit wiederfinden … Darum nimm mich mit. Ich möchte morgen bei dir sein und es mitansehen, wie das Volk seinen Kaiser begrüßt, der es in den Krieg führt.«
»Weil er dazu gezwungen wird, Brigitte – weiß Gott, er hat es vermieden, solange es möglich war. Jetzt blieb ihm keine Wahl …«
»Davon verstehe ich nichts … was weiß ich von Politik? Aber was ich heute gesehen habe – es war wie ein Wunder, Achim – wie ein unfaßbares Erlebnis. Ich hab' es auch jetzt noch nicht begriffen … in mir ist alles wie losgelöst und treibt in einem breiten, tiefen Strome … und ich treibe mit und weiß noch nicht, wohin. Aber mir ist, als könntest du es mir sagen, wenn ich morgen bei dir wäre …«
»Gott gebe es, Brigitte,« antwortete der Mann. Und dann standen sie schweigend voreinander. Die Minuten rannen.
»Also – du nimmst mich mit?«
»Ja, mein Kind – gern!«
»Und wirst mich rechtzeitig wecken?«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Dann gute Nacht, Achim.«
Sie bot ihm die Stirn zum Kusse. Aber er küßte sie nicht. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und preßte ihren Kopf an seine Brust; zwei, drei Herzschläge lang. Dann ließ er sie los.
»Gute Nacht, Brigitte. Schlaf wohl!«
Und sie ging aus dem Zimmer, tastend, wie geblendet von einem jähen, sehr starken Licht.
Und das Gefühl verließ sie nicht mehr.
Achim Wasdorff brauchte seine Frau nicht zu wecken. Als er an ihre Tür pochte, kam sie ihm schon reisefertig entgegen. Er sah sie prüfend an. Die tiefe Röte ihres Gesichts und der Glanz in ihren Augen fielen ihm auf.
»Ich fürchte, du hast Fieber, Kind,« sagte er beunruhigt.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Achim, nein –« Und der Ton ihrer Stimme schwang heller und rascher als sonst. »Aber mir ist, als ob dieser Tag noch viel Großes, Schönes und Erschütterndes für mich in Bereitschaft hätte.«
In den stillen Straßen, durch die sie schritten, schlief noch das menschliche Leben. Aber die Fahnen flogen im frischen Winde. Königlich purpurn leuchtete das Rot in der aufsteigenden Sonne.
Von den Kasernen klang der Weckruf herüber.
Auf allen Giebeln, allen höchsten Wipfeln saßen die Amseln und sangen, und aus den lichtgrünen Feldern, auf denen der Tau im Morgenlichte sprühte, stiegen die Lerchen jauchzend empor in die reine, goldflirrende Luft.
In den Kartoffeläckern arbeiteten die Frauen und Mädchen; wie große, lebendige Blumen nickten die fröhlichen Farben ihrer Kopftücher herüber. Und hier und da schritt ein Bauer mit leuchtend weißer Schürze über die wartenden Schollen und streute mit ruhigem Wurf die goldenen Körner aus.
Mein Gott, dachte Brigitte, und ein tiefes Staunen kam über sie, ist es denn möglich, daß diese Menschen wissen: der Krieg ist erklärt?
Und als sie dann durch die fahnenüberwogten Straßen der Riesenstadt hinfuhr, fragte sie sich immer wieder: Ist es möglich, daß über dieser Stadt die Kriegsgefahr – nein, die Kriegsgewißheit schwebt, und ihr Pulsschlag kommt nicht einen Augenblick ins Stocken … schwillt nur noch mächtiger, noch lebensvoller an?
O ja, sie wußten es, die Millionen der deutschen Kaiserstadt: der Krieg ist ausgebrochen. Das Wort war auf allen Lippen, die Druckberichte in jeder Hand.
Und dennoch keine Unruhe, kein Geschrei, keine Kopflosigkeit …
Nur daß es war, als ob die gigantische Maschine des Verkehrs plötzlich eine Legion geheimer Hilfskräfte erhalten hätte, als ob ihre Räder unter dem gewaltigen Hochdruck der Stunde ihre rasenden Schwingungen verdoppelten und verdreifachten. Und doch spürte man, es war noch nicht das Höchste, was sie leisten konnten. Das letzte, das stärkste Wort war noch nicht gesprochen – noch lange nicht …
Es war nur ein Auftakt zu der ungeheuren Sinfonie der Kriegsbereitschaft.
Nur der tiefe, machtvoll schwingende Orgelpunkt, auf dem sich das Riesenwerk der Mobilmachung aufbaute.
Der Krieg war erklärt? – Gut. Das brachte die Gesamtheit nicht aus der Fassung; sie war darauf vorbereitet. Wer immer darauf gefaßt sein muß, sich seiner Haut zu wehren, der wird wachsam und kaltblütig. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Mit einer Selbstverständlichkeit, die etwas Großartiges war, traten mit einem Schlage alle persönlichen Interessen zurück vor der Notwendigkeit, dem Ganzen zu dienen; alles Nebensächliche war ausgeschaltet. Alle geistigen, wirtschaftlichen und goldbedeutenden Kräfte sammelten sich, einander ergänzend, in dem einen Punkte: Kriegspflicht.
Zum ersten Male ging der Frau die Bedeutung des Wortes auf: das Volk in Waffen. Zum ersten Male erfaßte sie seine Notwendigkeit.
Sie war mehr als zehn Jahre lang nicht in dieser Stadt gewesen, die zugleich das starkblütige Herz und der geniale Kopf des mächtigen Reichskörpers war. Jetzt, in den zwei Stunden, da ihr Mann seinen dienstlichen Auftrag erledigte und sie sich selber überlassen blieb, jetzt entrollte sich vor ihr das Bild und Wesen einer beispiellosen Entwicklung, von der sie begriff, daß sie die Welt in Atem hielt.
Die ganze unermeßliche Summe von Intelligenz, Unternehmungsgeist und Willenskraft, die eine große, wachrüttelnde Zeit aus dem Volke hervorgeholt hatte, offenbarte sich in dieser Stadt, die ihre Weltbedeutung in ebensoviel Jahrzehnten erworben wie andere in Jahrhunderten.
Und es war nicht das jache Hochschießen einer ungesunden Treibhauskultur. Es war bodenständige, junge, wurzelechte Kraft, die sich planmäßig betätigte, die den Mut zum Lernen hatte, zum Versuchen und Einreißen und von neuem Anfangen, die sich den Blick in allen Zonen schärfte und weit ausholen wollte zum großen Wurf und zupackte, mit eisernen Fäusten zupackte, wenn der rechte Augenblick gekommen war.
Und dabei über allem das Bewußtsein: Es ist nur erst der Anfang! Wir sind ja kaum erst aufgewacht; es ist noch frühester Morgen über den deutschen Landen …
Wahrlich, ein Volk, das so in junger Blüte stand, das für den Acker seiner Zukunft so reiche Saat in Händen hielt – das hatte nicht das Recht, nein, es hatte die Pflicht, seine heiligen Grenzen machtvoll zu befestigen.
Und wer mit bewaffneter Faust an seine Tore pochte, dem gab bewaffnete Faust eine kräftige Antwort.
Das war der Wille des Volkes.
O du armer, alter deutscher Michel mit der Zipfelmütze, die du so gerne über beide Augen zogst – wo haben sie dich begraben?
Gott schenk' ihm die ewige Ruh' und eine fröhliche Urständ am Jüngsten Tage, wenn er kein Unheil mehr anrichten kann …
Aber ein anderer war aufgewachsen aus dem deutschen Volk: Sankt Michael mit den ruhigen, gewaltigen Flügeln, die das Land beschirmen, und den ruhigen, gewaltigen Händen, die sich stützen auf das Schwert. Und der hielt Wache.
Und das Volk vertraute ihm. Das war das große Geheimnis seiner Ruhe.
Nun hob er sein Schwert mit beiden Händen hoch über sein Haupt, ausholend zum fürchterlichen Schlage, und schritt wider den Feind und sah sich nicht einmal um. Er wußte, die das Schwert ziehen konnten wie er, die folgten ihm alle – alle!
Mit bunten Bändern, mit Blumen und grünen Zweigen geschmückt, singend zogen sie aus in den Krieg. Und die Fahnen, die heiligen Fahnen, auf die sie den Treueid geleistet, wogten über ihren Häuptern, daß ein Rauschen war in der Luft wie von unsichtbaren Schwingen. Und die Frauen, die Kinder gingen an ihrer Seite, und das leise Weinen ihrer bitteren Not verstummte in dem brausenden Jubel der Menge, die den ausziehenden Truppen das Geleite gab.
Ja, sie jubelten ihnen zu und grüßten und winkten, und frische, derbe, zuversichtliche Worte flogen herüber und hinüber …
Brigitte hatte, in Schauen und Lauschen versunken, das Kommen ihres Mannes überhört. Nun stand er plötzlich neben ihr, bot ihr ein Büschel Fliederzweige. »Die hat mir ein Kind geschenkt,« sagte er.
Sie nahm die Blüten und drückte das Gesicht hinein.
Die Kinder – die Kinder wußten, daß Krieg war, und füllten ihre kleinen Hände mit Blumen und hielten sie den Männern hin, die ihre Heimat schützen wollten mit Gut und Blut und Leben …
»Sie wissen,« sagte der Offizier, der auf die wachsenden Menschenfluten niedersah, »daß sie sich auf uns verlassen können.«
Die Wacht! ging es Brigitte durch den Sinn, die Wacht am Rhein …
Und dann klammerten sich ihre Finger in jäher Erschütterung um den Arm ihres Mannes.
Denn hoch über ihnen, sturmgewaltig, unwiderstehlich hinreißend mit ihrem erhabenen Ruf, fingen die Glocken zu läuten an, wogten und wogten auf und nieder, riefen die Schwestern von allen Türmen wach, daß auch sie zu dröhnen begannen, daß die Mauern zu beben schienen, daß es war, als gingen die Menschen nicht mehr auf steinernen Straßen, nein, als würden sie umschlungen und getragen von dieser meeresstarken, donnernden Brandung der Glocken.
Und doch – und doch waren die Glocken nicht das Mächtigste in dieser Stunde.
Von fern, fernher, undeutlich, körperlos – ein Ton … kein Rufen, kein Schreien – ein unbeschreibliches, hochanschwellendes Brausen und Tosen – jetzt ein Sturm und jetzt ein Orkan … die Stimme von Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden – die Stimme eines ganzen Volkes hineingeschmolzen in einen, einen erzenen Laut …
Der Willkommengruß des Volkes an seinen Kaiser …
Und aus dem ungeheuren, namenlosen, stürmischen Schwall von Tönen wuchs immer klarer, immer sieghafter ein Lied hervor, ein Lied, in dem der Herzschlag und der waffenklirrende Schritt des ganzen Heeres, des ganzen Volkes war:
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall …«
Der Kaiser, der Schirmherr, der Friedenshort der Welt zog ein in seine Stadt – in die Hauptstadt des Reiches, das ihm anvertraut war. Und es war Krieg. Nicht eigener Wille – nein, fremder Übermut und streitsüchtige Willkür hatten ihm das Schwert in die Hand gezwungen. Und auf seinem tiefernsten Gesicht lag die ganze Tragik, die furchtbare Verantwortung des Mannes, auf dessen Befehl ein Heer von Hunderttausenden zu den Waffen greift und den Kampf mit dem Untergang aufnimmt – bis zum Siege oder zur Vernichtung.
Was es ihn gekostet hatte, diesen Befehl zu geben, das wußte sein Volk und wußte auch, daß nur die unentrinnbare Notwendigkeit ihn dazu zwingen konnte. Und es hatte die Notwendigkeit eingesehen.
Darum drängte es sich zu seinem Kaiser hin und jauchzte ihm zu.
»Du hast uns gerufen! – Da sind wir!«
Und der Kaiser verstand sein Volk.
In den stählernen Hohenzollernaugen stand groß und unerschütterlich ein herrliches Vertrauen.
Das Vertrauen zu dem Herrn der Heerscharen, dessen Glocken über ihm frohlockten: »Gott mit uns!«
Das Vertrauen zu seinem Volke, mit dem er sich nie zuvor so eins gefühlt wie in dieser gewaltigen Stunde.
Und ein Hauch von der Größe des Augenblicks rührte auch an die Seele der Frau, die atemlos, mit stürzenden Tränen auf das großartige Bild der Einheit niedersah.
Sie fühlte in einer jähen, strahlenden Erkenntnis, daß dieses Volk in seiner bedingungslosen Kriegsbereitschaft auf einem Gipfel stand, den keiner überragte. Ja, sie wußte plötzlich, daß nichts auf der Welt den Wert und die Größe eines Volkes klarer zeigt als die Entschlossenheit zum Kriege, wo seine Ehre auf dem Spiele steht.
Denn der Adel eines Volkes wächst in dem Maße, in dem es sich selbst der Allgemeinheit zum Opfer bringt. Und das ist es, was den Kampf ums Vaterland verklärt: die Selbstlosigkeit der Hingabe, die keine Grenzen hat.
Nein, Vater, du hattest nicht Recht, dachte die Frau. Nicht wie ein Volk sich zu der Menschheit stellt, weist ihm den Platz auf dem Erdball an; sondern wie die Menschheit sich zu dem Volke stellt. Und wie in den zwei Tagen so vieles Neue, Niegeahnte über sie gekommen war, so spürte sie auch jetzt zum ersten Male das stolze, erschütternde Glück, das Kind eines innerlich starken, innerlich großen Volkes zu sein und teilzuhaben an seinem Werden …
Sie nahm die Hand ihres Mannes und spürte seine ruhige Kraft.
»Jetzt begreif' ich euch,« sagte sie. »Jetzt begreif ich, daß ihr gerne in den Krieg zieht, um das Volk und das Land zu schützen. Ja, ich begreife, daß ein Mann lieber Blut und Leben und Weib und Kind verliert als die Erde, auf der er geboren wurde. Warum hast du es mir nie so gesagt?«
»Du hast mich nur nicht verstanden, Brigitte,« antwortete der Mann.
Sie sah zu ihm auf. »Ich weiß es. Ich war schuld. Aber nun mußt du mich belehren.«
»Hm!« Ein merkwürdiges Lächeln ging über sein Gesicht. »Mein liebes Kind, dazu werd' ich wohl nicht mehr viel Zeit haben.«
Und da erst begriff sie. Das hatte sie vergessen: es war ja Krieg. Morgen um diese Zeit ging der Mann von ihr fort – wohin? Das mochte Gott wissen. Und auch daran dachte sie, daß sie niemals zuvor, denn gestern und heute, mit diesem Manne, der sie liebte, Hand in Hand gestanden – und nun vielleicht niemals mehr.
Das packte sie, wie der Sturm einen jungen Baum packt, warf sie mit harten, mitleidslosen Fäusten aus ihrem dumpfen Gleichmut heraus und in die Arme, an das Herz des Mannes, dem sie in ihrer armseligen Gleichgültigkeit nichts, nichts von allem gegeben, was Frauen schenken können an Schönheit, an Güte, an Freude und Verstehen …
»Du …! Du …!« und weiter nichts, kein Wort, keine Bitte, kein Erklären, nur immer dies fassungslose, schluchzende »Du –!«
»Kind!« sagte er und hielt sie fest. »Kind, liebes, geliebtes –! Mein Lieb … mein Weib …«
Und während sie seine Lippen auf ihren Augen, ihrem Munde fühlte, dachte sie wie im Fieber nur immer das eine: noch vierundzwanzig Stunden … Herr, mein Gott, noch vierundzwanzig Stunden –!
Von der Straße unten klang wuchtiger Gleichschritt herauf und brausender Jubel, Rufen und Lachen, und noch immer dröhnten die Glocken, und die Burschen sangen: »O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt …«
»Komm!« sagte der Mann und richtete sich auf. »Wir müssen nach Hause, Brigitte … In drei, vier Stunden kann man sich auf keinen Zug in westlicher Richtung mehr verlassen.«
Sie ging dicht an seiner Seite, hielt seine Hand umklammert – ach Gott, wer fragte danach in diesen Tagen, ob ein Mensch seine Tränen sah und daß zwei Hände sich nicht lösen konnten … Sie drückte den kleinen Fliederzweig an ihre Augen. Tapfer sein! schrie es in ihr, tapfer sein …
Noch vierundzwanzig Stunden …
Nur Güte sein, nur weiche, liebe Zärtlichkeit … und nicht weinen, nicht weinen … das quält den Menschen, der dich liebt …
Wie sie mit einem Male alle die Menschen verstand, die ihre Brüder, ihre Schwestern waren – eins geworden mit ihr in der machtvollen Schicksalsstunde. Wie sie mit einem Male sich allen nahe fühlte, ihre Not, ihr Glück, ihren heiligen Stolz in sich selber empfand …
Mein Gott, nein, es lohnte sich nicht, über den Menschen zu stehen … Mitten unter ihnen, Seite an Seite mit ihnen leben und kämpfen und fühlen – das war besser.
Wie der stoßende Pulsschlag der Zeit auch ihre kleine, verträumte Stadt durchzuckte … wie ihr wachgerütteltes Leben sich mühte, alles, was gut und nützlich schien, zu sammeln und herzugeben … es wollte so viel Liebe, so viel Sorglichkeit hineingedrängt sein in drei Tage Frist.
Ach, es waren längst keine drei Tage mehr – es waren nicht einmal mehr vierundzwanzig Stunden, die ihr blieben.
Und sie lernte doch alles, was ein Weib lernen muß, dem der Krieg nach dem Herzen greift: die tiefste Demut und den höchsten Stolz, die weichste Hingabe und das härteste Sichzusammenraffen, das Schluchzen, das mit gerungenen Händen fleht: »Verlaß mich nicht, du! Mein Glück, mein Alles, verlaß mich nicht!« und das Lächeln, das die Tränen aus den Augen schüttelt und sagt: »Ich lasse dich fröhlich ziehen – ich weiß, du kommst mir wieder …«
Sie hatte sich zu denen melden wollen, die unter dem Roten Kreuz mit hinausgingen auf die Schlachtfelder und die Wunden zu heilen suchten, die der Krieg der Menschheit schlug. Sie wollte dem Manne, den sie liebte, so nah als möglich sein … Aber er hatte den Kopf geschüttelt.
»Hier ist dein Platz, Brigitte … Du bist Soldatenfrau, die Frau des Kommandeurs. Du weißt, was Golditz dich gestern bat – du möchtest dich seiner Frau ein wenig annehmen. Rufe diese armen, jungen Dinger zu dir und hilf ihnen über den Abschied fort mit deiner eigenen fröhlichen Kraft und Ruhe.«
Mein Heiland, dachte sie und biß die Zähne über die Lippen, wo sind meine Kraft und meine Ruhe hin? Tapfer sein … tapfer sein –!
Und wenn du dich zehnmal jeder einzelnen Minute in den Weg werfen möchtest und betteln: Noch nicht – noch nicht! Es wird doch Morgen, und der Tag kommt herauf – und der Tag muß dich gewappnet finden … für den Abschied und für deine Pflicht.
Und als der Augenblick des Abschieds dann wirklich gekommen war und sie halb besinnungslos in den Armen des Mannes lag, da hörte sie aus seinen tonlosen, kämpfenden Worten nur immer die gleichen heraus: »Ich danke dir, du – ich danke dir … du hast mir viel Glück gegeben – Gott behüte dich … auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, Brigitte!«
»Ja,« murmelte sie. »Auf Wiedersehen, Achim!«
Aber als er gegangen war, mit einem Ruck sich von ihr reißend und fort aus dem Zimmer, da schrie sie laut auf: »Nein, nein, nein –!«
Ich hab' dir ja noch nicht ein Wort gesagt von allem, was ich dir sagen wollte … Bleib noch – du hast noch Zeit! Nur armselige fünf Minuten schenk mir noch –!
Unten fiel die Haustür ins Schloß …
Vorüber.
Als sie mit schleppenden Schritten durchs Zimmer ging, ihm nachzusehen, entdeckte sie auf dem Tisch in der Mitte einen Brief. An sie. Mit Achims Hand. Sie riß ihn auf …
Es war das Blatt, auf dem er vor zwei Tagen an sie zu schreiben begonnen hatte. »Meine liebe Brigitte!« stand darauf. Und weiter unten, mit Bleistift hingeworfen: »Gott segne Dich!«
Sie starrte auf diese Worte nieder und fühlte jeden Schlag ihres Herzens wie den Schlag auf eine Wunde.
Mein Gott, habe Mitleid mit mir! betete sie halb bewußtlos; habe Mitleid mit uns, mein Gott …
Und eine halbe Stunde später stand sie neben der zarten, todblassen Kameradenfrau auf dem Balkon und hatte den linken Arm um die zuckenden Schultern des jungen Weibes geschlungen und wartete auf den Vorbeimarsch des Regiments. Sie hielt sich ganz aufrecht, und ein Lächeln war auf ihrem Gesicht, und eine Ruhe, die etwas Bezwingendes hatte mit ihrer harterkämpften Kraft.
Und dann kam es heran, das schöne, liebe, stolze Regiment – mit klingendem Spiele kam es heran:
»Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus, Städtele naus,
Und du, mein Schatz, bleibst hier?
Wenn i komm', wenn i komm', wenn i wiederum komm', wiederum komm',
Kehr' i ein, mein Schatz, bei dir!«
»Hören Sie's, Sie mutlose, kleine Frau?«
Und sie ließ ihr Tuch im Winde flattern und beugte sich nieder zu dem Manne, der sie grüßte mit frohen, entschlossenen Augen, und lächelte, während ihr die ganze, schöne, frühlingshelle Welt in funkelnden Tränen verschwamm.
»Auf Wiedersehen!« rief sie mit heller, schwingender Stimme. »Auf Wiedersehen …!«
Und das Schmettern der Trompeten, das Wirbeln der Trommeln, der Hufschlag der Pferde und der dröhnende Gleichschritt der Soldaten, das alles wurde leiser und leiser – verhallte mit dem jubelnden Zuruf der Menge.
Nichts blieb zurück als über den beiden Frauen das breite, ruhige Wogen der schwarz-weiß-roten Fahne.
Und dann saß Brigitte in ihrem Zimmer und hielt das Haupt des jungen, gesegneten Weibes, das vor ihr auf den Knien lag, mit sanfter Kraft umschlungen und flüsterte Worte der Hoffnung, des Trostes, der Zuversicht und wußte nicht, zu wem sie sprach – ob zu der weinenden Frau in ihren Armen oder zu ihrem eigenen Herzen.
Gott segne dich! dachte sie unablässig. Gott segne dich!
Und als sie kein Wort des Trostes mehr fand und das Schluchzen der vereinsamten Frau nicht linder werden wollte, da summte sie, wie man ein Kind besänftigt, die schlichte alte Weise vor sich hin:
»Übers Jahr, übers Jahr, wenn mer Träubele schneid't
Stell' i wiederum mi ein.
Übers Jahr, da ist mein' Zeit vorbei,
Dann gehör' i mein und dein …«