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»Du bist Orplid, mein Land …«

»Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind!«

Mörike.

Marianne Römer ging mit sachten Schritten in ihrem Musikzimmer hin und her, vom Flügel zum Notenschrank, vom Fenster nach der Tür.

Eine zarte Unruhe war in ihr – die Unruhe des Glücks, das mit weitausgebreiteten Armen in den sonnigen Tag hineinlaufen und jauchzen möchte: »Seht! Seht, ich bin glücklich!« und das doch stille sein muß, heimlich, verschwiegen.

Wie lange noch – wie lange noch?

Sie trat an den Flügel und legte die Hände – sehr schöne, schmale, gütige Hände auf die Tasten. Das sanfte Licht der Ampel floß über ihr blondes Haar und das weiße Kleid.

Sie trug keinen Schmuck, obgleich die Zeitungen genug von ihren Perlen erzählt hatten, die ein Geschenk der Königin-Mutter von Spanien an die »Königin des Gesanges« gewesen, und von der berühmten Smaragdbrosche, mit der eine arme, kranke junge Fürstin Marianne Römer für ein paar Volkslieder gedankt. Sie trug nur die blaßroten Nelken an der Brust, die ihr Peter, der Bursche, strahlenden Gesichts mit einer Empfehlung vom Herrn Leutnant Delius gebracht – und mit drei, vier stürmischen Zeilen der Liebe, der Freude, der Ungeduld …

Er hatte noch Dienst am Nachmittag – Instruktionsstunde, hol's der Deibel! – und dann hatte er Sievert, der kurz vor dem englischen Dolmetscherexamen stand, versprochen, noch mal einen Sprung zu ihm auf die Bude zu kommen. Aber am Abend auf dem Feste sah er sie – endlich! Und wenn sie nicht zu angegriffen war, dann könnte er sie durch den verschneiten Römischen Garten nach Hause bringen, und dem Mütterchen durfte er vielleicht noch Guten Tag sagen? – Dem Mütterchen küßte er die zarten Hände und ihr – o Marianne, Marianne –!

Liebster du! dachte sie und schloß die Augen, die ihr feucht wurden in überströmendem Glück. Lieber, Liebster du!

Nie hätte sie geglaubt, daß sie einmal so denken würde.

Sie war im Kampf ums Dasein ein herber Mensch geworden, hatte es nie leicht gehabt im Leben von Jugend auf. Als man ihr den Vater nach Hause brachte mit zerfetzter Uniform, die rechte Schläfe zu Brei geschlagen vom Huf eines auskeilenden Gaules, da war die arme Mutter sinnlos zu Boden geschlagen, und die Tochter, die siebzehnjährige, hob sie auf und hob mit der stummen, jammervollen Last das Schicksal ihres ganzen Hauses auf die schmächtigen Arme.

Es war ein mühevoller Weg, den die kleine Gesanglehrerin Marianne Römer gehen mußte, bis in einem Kirchenkonzert ihre Stimme entdeckt wurde und dann auf das nüchterne, lahmlegende Studium der erste Rausch des Triumphes folgte. Und dann kam eine Zeit, die atemraubend war im jähen Aufstieg ihres Ruhmes. In allen Sprachen jubelten ihr die Menschen zu. An europäischen Fürstenhöfen und in den sinnbetörenden Palästen indischer Radschas, in den Gefängnissen sang sie und in den Krankenhäusern, und niemals schöner vielleicht als eben dort.

Ob sie glücklich war? Sie wußte es nicht. Sie war zu atemlos, um darüber nachzudenken. Als aber hier, in der fröhlichen, kunstgesegneten deutschen Stadt die Mutter, ihre treue Begleiterin, zu kränkeln begann und sie alle Verträge löste, um der geliebten Frau Ruhe zu gönnen und ihr ganz zu leben, da empfand sie die plötzliche Stille als etwas Köstliches. Sie besann sich auf sich selbst, hier, wo sie gleichsam zum ersten Male nicht nur als die berühmte Sängerin, sondern auch als Mensch gewertet wurde, wo zum ersten Male die Freundschaft an sie herantrat. Und die Liebe.

Wo hatten sie sich kennen gelernt?

Bei dem Gartenfest, das die Erbprinzessin zugunsten des Kolonialen Frauenbundes gab. Sie hatte zur Laute gesungen, uralte Volkslieder, Tanzweisen und Kinderreime. Und da hatte er plötzlich vor ihr gestanden, und Herr von Lossow sagte: »Mein gnädiges Fräulein, Leutnant Delius bittet um die Ehre, Ihnen vorgestellt zu werden.«

So einfach, so unsagbar alltäglich hatte es angefangen, was das Wunder ihres Lebens werden sollte. Mit einer knappen Verbeugung und einem kurzen Druck seiner Hand. Sie hatte lächeln müssen. Warum kam er zu ihr, wenn er ihr nichts zu sagen wußte? Und sie begriff nicht, weshalb sie ihn immer wieder mit den Augen suchen mußte – und warum sie stets seinem Blick begegnete, der unablässig auf ihr ruhte.

Zwei Tage später, als sie von einem Spaziergang nach Hause kam, saß er in ihrem Musikzimmer dem Muttchen gegenüber, und das Muttchen hatte feuchte, strahlende Augen und rief ihr gleich entgegen, daß sein Vater ein Regimentskamerad ihres Mannes gewesen sei und daß sie schon eine geschlagene halbe Stunde nur von alten Zeiten geschwatzt hätten …

Ja und dann?

Sie wußte nicht mehr, wie's dann gekommen war. Aber eines Abends, als sie die »Freundliche Vision« gesungen hatte:

»Und ich geh' mit einer, die mich lieb hat,
Ruhigen Gemütes in die Kühle
Dieses weißen Hauses, in den Frieden,
Der voll Schönheit wartet, daß wir kommen –«

da hatte er ihre Hände von den Tasten genommen und an die Lippen gezogen und »Liebe Marianne!« gesagt. Weiter nichts. Aber sie war aufgestanden und hatte ihn lächelnd und mit Augen voller Tränen angesehen und ihm den Mund zum Kusse geboten – ihren jungen Mund, der bis auf diesen Tag von Liebe nur gesungen hatte und nichts von ihr gewußt.

Nun blühte die Erkenntnis ihrer eigenen Weibesseele so mächtig in ihr auf, daß sie wie ein Kind in einem Wundergarten, scheu, mit geblendeten Augen stand und sich widerstandslos die Hände füllen ließ mit allem Glück und aller Innigkeit, womit der Mann sie überschüttete.

Mein Gott, so etwas gab es also auf der Welt? So eine besinnungslose, bedingungslose Liebe? Solch eine zarte Scheu, dem andern wehzutun, solch eine tiefe Sehnsucht, ihn zu beglücken? Und wer von ihnen gab, wer empfing am meisten – sie konnte es nicht unterscheiden. Sie fühlte nur, daß die Gewißheit dieser Liebe all das Bittere, woran ihr Leben wahrhaftig überreich gewesen, all das Schmerzliche und Harte aus ihrer Seele löste und sie stille machte.

Sie liebte alles an ihm, den mannhaften Ernst und den jungenhaften Übermut, die soldatische Straffheit und die grüblerische Träumerei – aber am meisten die frische, aufmunternde Güte, mit der er seine Untergebenen behandelte – wie er mit seinem Burschen sprach, den Gruß eines Landsers erwiderte.

Wenn sie ihm das sagte, dann lachte er sie aus und meinte, das sei selbstverständlich, und wenn sie weiter nichts an ihm liebte, dann sei es schlimm um ihn bestellt. Sie aber dachte, daß selbstverständliche Güte das Köstlichste in der Welt sei und ein Unverlierbares, weil es in den Grundfesten der Seele wurzelte. Und dieser Güte durfte sie sich anvertrauen, furchtlos, rückhaltlos …

Mein Gott, wie reich war das Leben!

Ein gläubiges Ausruhen kam über sie und dann der strömende Wunsch, ihm zu danken. Daß sie es konnte – mit ihrer Kunst, mit ihrem Reichtum, das kam ihr wie eine Gnade vor.

Sie hatte nie mit ihm von der Zukunft gesprochen, so oft er auch dazu drängte. Sie überließ sich ganz der traumschönen Gegenwart und hütete das Geheimnis ihrer Liebe vor jedem fremden Menschen mit einer fast abergläubischen Scheu. Sie wußte ja, wie alles kommen würde, kommen mußte, von dem Augenblick, da sie sich auch vor der Welt zueinander bekannten.

Seinen Beruf mußte er aufgeben, natürlich, denn er besaß nicht das erforderliche Vermögen, um als Offizier zu heiraten; sie aber konnte ihrer Kunst nicht entraten um ihrer Mutter, ihrer Geschwister willen, für die sie sorgen mußte. Eine Ehe des Offiziers mit der Künstlerin erschien ihr aber, selbst wenn alle formellen Schwierigkeiten überwunden wurden, sinnlos und entwürdigend, wenn sie die Gatten zur monatelangen Trennung zwang, da er durch den Dienst in der Garnison festgehalten wurde und sie in aller Herren Ländern ihr Wanderleben fortsetzen mußte.

Sie zweifelte auch nicht einen Augenblick daran, daß er den bunten Rock gern ausziehen würde. Warum auch nicht? Was sie ihm als Ersatz bot, war ja unendlich wertvoller als das, was er preisgab: ein Leben in Freiheit, in Schönheit, in Überfluß. Und in Liebe.

Bis zum Frühling wollten sie warten. Solange ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen sie zwangen, so oft unter fremden Menschen zusammen zu treffen, war ihre Begegnung harmloser und angenehmer, wenn niemand um ihr junges Glück wußte. Aber dann, im März, würde er den Abschied nehmen, und gleich nach der Hochzeit wollten sie reisen – irgendwohin, wo es schön war – wunderschön!

Ach Liebster! Liebster …

Marianne Römer breitete die Arme aus und atmete tief auf. Und die Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie nun zu singen begann, lächelnd, verhalten:

»Du bist Orplid, mein Land,
Das ferne leuchtet …«

Sein Lieblingslied – das Lied, um das er bat, so oft er kam, das sie ihm stets als letztes singen mußte, als einen köstlichen Ausklang der Stunde, die sie ihm schenkte.

Sie hatte ihn zu Anfang oft gefragt, warum er gerade dieses Lied schöner als alle anderen fand – schöner noch als die »Winterweihe« und »Feldeinsamkeit« und das innig deutsche »Heimweh«. Aber sie fühlte bald aus seiner Scheu zu antworten, daß sie mit dieser Frage an sein innerstes Wesen rührte, und ehrte die Keuschheit der Mannesseele, die sich auch dem geliebten Weibe nur zögernd preisgibt, indem sie schweigend wartete, bis er freiwillig sprach.

Auf einem Spaziergang war's, der sie am sinkenden Tage durch den Wald und über die Höhen führte, von denen sie niedersahen auf die Königsstadt und auf das Schloß, über schweigende Gärten hin zu der letzten Ruhestätte der Gekrönten: und da schlief einer, der Enkeln und Urenkeln das fürstliche Bekenntnis zum Erbe gegeben, daß der König der erste Diener seines Staates sei.

»Siehst du, Marianne,« hatte Wolf Delius gesagt, »das ist es, wovon du mir in meinem Lieblingsliede singst. Für mich ist es nicht Orplid, nicht die Trauminsel eines schönen Märchens. Es ist mein Land, mein Vaterland, dieses deutsche, geliebte Land, dem ich mit Leib und Seele gehöre – als Soldat, als Mann, als Mensch. Mein Allerheiligstes ist es … Das kann man keinem erklären, das muß man in sich haben …«

»Ich weiß schon, was du sagen willst, mein Liebling,« hatte sie erwidert und den festen Druck seiner Hand wie ein Geschenk empfangen.

»Und die letzten Worte dieses Liedes – sind die nicht das Tiefste, das Höchste, was der Begriff ›Vaterland‹ in sich schließt?

Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind!«

Nein, so hatte sie es nie zuvor empfunden. Sie hatte auch nie einen Wirklichkeitswert, einen Gedanken der Gegenwart in den Märchenworten gesucht. Sie, die durch ihr Studium frühzeitig von der deutschen Scholle fort in fremde Länder gekommen war und nun seit Jahren als Künstlerin, als Berühmtheit von Stadt zu Stadt, von einer Hälfte des Erdballs zur anderen gerufen wurde, sie hatte nirgends Wurzeln schlagen können und am wenigsten in der Heimat. Sie hatte sich auch nie danach gesehnt und fühlte, daß sie dem Manne an ihrer Seite auf dieses Gebiet nur mit ihrer Liebe, nicht mit dem eigenen Empfinden folgen konnte.

Das Land, das ihr zu Füßen lag, beruhigt und friedevoll, vom letzten Gluten der Sonne verklärt, das schien ihr lieblich, ja vielleicht auch liebenswert in seiner anspruchslosen und gesunden Zuversicht auf morgen. Aber daß diese Handvoll Erde dem heilig war, der darauf geboren wurde, ein Heiligtum, das Opfer fordern durfte nur um eines Begriffes willen – das konnte sie nicht ganz verstehen.

Sie wußte nicht, was Heimweh ist. Sie spürte nicht den mächtigen Pulsschlag, der, von einem großen, glühenden Herzen getrieben, ein ganzes Volk durchzuckt und jauchzen oder stöhnen läßt. Sie hatte in sich selbst kein Echo für ein Lied, das wie ein Schwur von hunderttausend Lippen klang, und ihr wurden die Augen nicht heiß vor Freude, wenn über irgendeiner jungen, starken Tat die schwarz-weiß-roten Fahnen flogen.

Ach mein verträumter Liebling du – was weißt du von der Welt?

Sie wollte ihm die Herrlichkeiten dieser Erde zeigen, ihm, der von ihr nichts kannte als seine schlichte, herbe Heimat. Die alte und die neue Welt zwischen beiden großen Meeren sollten ihm ihre Schätze offenbaren. Von Island bis zum Kap Horn würden sie wandern und suchen und genießen. Und sie – sie tat ihm die Tore aller Wunder auf und sprach: Komm und schaue!

Schau die silberne Keuschheit der nordischen Winternacht und den trunkenen Zauber der Tadj Mahal, das Lächeln der blumenbekränzten Kinder von Samoa und die tödliche Blässe des Mondlichts auf dem tragischen Munde der Sphinx.

Schön ist die Welt, mein Geliebter, und ich will dir ihre Schönheit schenken! Die Schönheit der fernleuchtenden Trauminsel, die dir zur Wirklichkeit werden soll – Orplid, von dem Weyla singt:

»Uralte Wasser steigen
Verjüngt um deine Hüften, Kind.
Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind!«

Mit sanftem, dunklem Gongschlag verkündete die Uhr im Nebenzimmer die siebente Stunde, und eine liebe Stimme fragte: »Kind, hast du ganz vergessen, daß du fortmußt?«

Ach nein, Mütterchen, ich hab's nicht vergessen. Ich hab' nur geträumt.

Eine Weile später stand sie im Vestibül des Römischen Hauses, in dem das Konzert zum Besten des Roten Kreuzes stattfinden sollte. Sie war im Nu umringt von Freunden und Bekannten, die einen Gruß, einen Händedruck, einen raschen Blick erhaschen wollten. Und sie dankte und nickte nach allen Seiten, gab hier eine fröhliche Antwort, schrieb da ihren Namen auf eine Karte und nahm den wundervollen Orchideenstrauß in Empfang, mit dem Exzellenz von Brügge der großen Künstlerin für ihre Mitwirkung dankte.

Und da stand Wolf Delius an ihrer Seite.

»Mein gnädiges Fräulein …«

Und seine Lippen ruhten auf ihrer Hand.

Wären sie allein gewesen, sie hätte ihn sofort gefragt: »Was hast du Schönes erlebt?« Sie kannte jede Regung seines Wesens: sie wußte, daß nicht nur die Wiedersehensfreude ihm so aus den Augen leuchtete. Aber zum Fragen oder Grübeln blieb ihr keine Zeit. Die Klingelzeichen schrillten durchs ganze Haus. Der kleine Conte da Spada riß vor ihr die Tür zum Künstlerzimmer auf; der Klavierspieler, der sie bei allen Konzerten begleitete, kam ihr entgegen – nun war sie im Dienst.

Und dann sang sie – die Lieder, die er sich gewünscht hatte. Für mich sollst du singen! sagte er. Sie lächelte nur als Antwort. Alles für dich, dachte sie. Gott im Himmel, was täte ich nicht für dich?

Weißt du noch, wann ich dir zum erstenmal die »Liebesfeier« sang? Als der erste Schneesturm an die Fenster schlug und wir uns den Frühling ins Zimmer zauberten … Und weißt du noch, wie du neben mir standest – ganz am Anfang unserer Bekanntschaft war's – und du hattest mir den Cornelius aufgeschlagen, und als die Stelle kam:

»So zaubrisch glänzt jedes Blatt!
Vielleicht steht auf einem geschrieben,
Wie lieb mein Herz dich hat …«

da hobst du den Kopf und schautest mir ins Gesicht … O du mit deinen klaren, starken Augen, weißt du, wie ich dich liebe?

Und wenn du's weißt, warum siehst du mich jetzt nicht an?

Sie suchte seinen Blick, aber sie fand ihn nicht. Sie fühlte, daß eine große Aufregung, eine leidenschaftliche Freude ihn erfüllten, aber sie hatte keinen Teil daran. Sie rief ihn – sie rief ihn mit dem Liede, um das er sie gebeten: »Wer in die Fremde will wandern, der muß mit der Liebsten gehn …«

Ach warum batest du mich um dieses Lied?

»Was wisset ihr, dunkle Wipfel,
Von der alten, schönen Zeit?
Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie von hier so weit!

Der Morgen, das ist meine Freude,
Da steigt ich in stiller Stund'
Auf den höchsten Berg in die Weite,
Grüß' dich, Deutschland, aus Herzensgrund!«

In den jubelnden Schluß des Liedes hinein fühlte sie: das hättest du nicht singen dürfen – heute nicht. Und während sie den stürmischen Dank der Zuhörer mit einer Art von Beklommenheit entgegennahm, suchten ihre Augen immer wieder das sonnenbraune, schmale, scharfkantige Gesicht, das in so strahlender Begeisterung leuchtete und dessen Blicke ein Unsichtbares, Fernes, Heiliges zu grüßen schienen.

Nicht sie. Nicht sie.

In dein stillen, palmengrünen Künstlerzimmer stand sie nun und drückte die Hände an die Schläfen. Sie war ja kindisch … ganz gewiß, kindisch war sie! Aber die Erkenntnis nahm ihrem Herzen nicht seinen fiebernden Schlag.

Kann Liebe so hilflos machen? so wehrlos? grübelte sie. So jedem Hauch, ja, einem Schatten preisgegeben? Wie furchtbar ist Liebe, wenn schon ein Blick, den wir vergebens suchen, uns so verstört und traurig werden läßt …

Ruhe … Ruhe … Ruhe –!

Sie war als Künstlerin gewöhnt, ihren Nerven zu befehlen und sich zusammenzuraffen, sobald sie in der Öffentlichkeit stand. Haltlosigkeit vorm Publikum – pfui Teufel!

Sie wurde auch bald genug von allen Seiten in Anspruch genommen und fühlte die Pflicht zu lächeln, den Zwang zur Liebenswürdigkeit als einen wohltuenden Halt. Und sie war dem langen Hauptmann Petzold von der Maschinengewehrabteilung im stillen dankbar, daß er so vergnügt und frisch auf sie einsprach und so ansteckend zu lachen wußte.

Dann kam Exzellenz von Brügge, um sie zu Tisch zu führen, und während sie durch das lorbeerumbuschte Treppenhaus gingen, suchten ihre Augen von neuem und fanden ihn. Er sprach mit einem Kameraden, lachte übers ganze Gesicht … Wie sie dieses herzliche Lachen, diese raschen, straffen Bewegungen an ihm liebte …

Der General war ihrem Blick gefolgt; er schmunzelte.

»Ganz famoser Mensch, dieser kleine Delius – Sie kennen ihn auch, gnädiges Fräulein, nicht wahr? Der ist Soldat, weil er nicht anders kann. Eine gute Rasse. Wissen Sie, warum der Kerl so polizeiwidrig vergnügt aussieht? Weil er denkt, nächstens geht's los … Na, Delius? Haben Sie den Marschbefehl schon in der Tasche?«

»Leider nein, Exzellenz!«

Und ein ritterlicher Gruß für die geliebte Frau.

Marianne ging die Treppe hinauf wie im Nebel.

»Exzellenz …«

»Meine Gnädigste?«

»Was meinten Sie bitte vorhin mit dem: nächstens geht's los.«

Ein scharfer Blick flog unter den weißbuschigen Brauen über sie hin.

»Hm. Ja denken Sie denn, mein gnädiges Fräulein, wir machen solche Zauberfeste wie heute nur zum Privatvergnügen? Nu nee. Da steckt ein ganz gediegener Ernst dahinter. Damit das Rote Kreuz gerüstet ist – für alle Fälle und im weitgehendsten Sinne.«

»Sie meinen – für den … Krieg?«

»Selbstverständlich.«

Marianne Römer blieb mitten auf der Treppe stehen; sie war fast so weiß wie ihr Kleid.

»Gibt es denn Krieg?« fragte sie tonlos und mit einem Gefühl, als griffe ihr eine würgende Faust nach der Kehle.

»Wer kann das sagen, meine Gnädigste? Niemand wünscht ihn; am wenigsten der, der ihn kennt. Denn es ist eine furchtbare, eine ganz furchtbare Sache um den Krieg. Ich weiß es. Ich hab' die Kerle neben mir hinfallen sehen wie die abgeschossenen Hasen. Ich war damals ein blutjunger Leutnant, frisch vom Korps weg vor den Feind. Aber ich höre heut' noch das heimtückische Geräusch, mit dem so 'ne gutgezielte Kugel dem Nebenmann ein Loch ins Leben reißt. Und glauben Sie mir, es gibt nichts Erschütternderes auf der Welt als ein Schlachtfeld – nach der Schlacht … Nein, nein, wir wünschen den Krieg nicht. Höchstens grüne Jungen und Börsenspekulanten wünschen ihn. Aber wenn man ihn uns aufzwingt – – Himmeldonnerwetter, dann sollen sie uns nicht zweimal bitten müssen. Na! Im übrigen sind wir noch nicht so weit …«

»Gott sei Dank,« murmelte sie.

»Hm.« Exzellenz von Brügge knurrte mißbilligend. »Wundert mich, daß Sie so denken … Ich habe Ihren Herrn Vater gekannt … Schade um den Mann! Jammerschade! Der hätte jetzt nicht ›Gott sei Dank!‹ gesagt. Im Gegenteil! Dessen höchster Wunsch war immer, mal im Ernstfalle beweisen zu können, was Königstreue heißt. Er war auch einer von denen, die von den Kerls vergöttert werden. Er konnte von ihnen verlangen, was er wollte, sie hätten für ihn den Teufel aus der Hölle geholt. Ja. Und so was wird von einem störrischen Biest aus der Welt geschafft; – patsch, erledigt …«

Der alte Offizier schüttelte den Kopf und brummte etwas Unverständliches. Sie waren nun an der Tür des weißgoldenen Saales angelangt, in dem die blumengeschmückte Tafel auf die Gäste wartete. Mit dem Eintritt des Generals begann die Militärkapelle das Vorspiel zu den »Meistersingern«. Aber Exzellenz von Brügge stand noch und musterte mit seinen durchdringenden stahlblauen Augen, die zupackten, wohin sie trafen, das frische, lebendige Bild und die straffen Gestalten der jungen Leute.

»Aber,« sagte er plötzlich scharf und knapp, »es gibt in unserer Armee zum Glück noch Männer genug, die Geist von seinem Geiste sind. Männer, die bereit sind, ihre Pflicht zu tun bis zum äußersten. Und dieses Pflichtbewußtsein, das sie im Ernstfall alle haben, vom obersten Kriegsherrn bis zum jüngsten Mann, das durch nichts zu erschüttern ist und nicht irre zu machen, das ist Deutschtum im besten Sinn. Und unsere heiligste Wacht am Rhein.«

Marianne konnte nicht antworten. Sie sah eine schlanke, nervige, geliebte Gestalt in ihrer Nähe und sah in dem sonnverbrannten Gesicht mit der weißen Stirn die strahlenden Augen, die bei den Worten des alten Soldaten lachten und funkelten.

»Nicht wahr, Delius?« fragte General von Brügge und nickte ihm zu.

»Befehl, Exzellenz!«

»Da haben Sie's, gnädiges Fräulein! Der sagt ganz gewiß nicht ›Gott sei Dank!‹, wenn morgen in den Zeitungen steht, daß der ewige Völkerfrieden unterzeichnet wurde. Wofür zunächst keine Aussicht vorhanden ist … Und nun kommen Sie, mein gnädiges Fräulein, jetzt wollen wir mal sehen, daß wir was zu essen kriegen. Und was zu trinken. Sie sind mir ja ganz blaß geworden! Fühlen Sie sich sehr angegriffen?«

»Durchaus nicht, Exzellenz, danke vielmals,« sagte sie mit einem zitternden Lächeln.

Aber sie war froh, als ihr der Diener den Stuhl zurechtschob und sie für Sekunden die Augen schließen und sich sammeln konnte.

»Wenn der Krieg ausbricht,« dachte sie mit schmerzhafter Deutlichkeit, »dann ist Wolf Delius der erste, der seinen Zug marschbereit hat … Dann geht er … Seine Pflicht über alles … Und ich? – Und ich?«

Er saß an der linken Seite der Hufeisentafel, sie konnte ihn mit jedem Blicke streifen, und jeder stumme Gruß von ihm traf ihre Züge.

Er hob das Glas an die Lippen, sah sie an.

»Mein Liebling,« sagten seine Augen.

Sie trank den roten, starken Wein. Wie Blut war er. Sie hörte die Worte, mit denen die schneidige Kommandostimme des alten Generals ihr den Dank aller Anwesenden aussprach; sie lächelte und tat ihm Bescheid und dachte: Wofür dankt mir der Mann? Dafür, daß ich mein Glück hergebe? Nein. Nein, ich will nicht. Ich will nicht, das ist ja Unsinn.

»Exzellenz,« sagte sie plötzlich, »Sie hatten vorhin ein Thema angeschlagen, das mich lebhaft interessiert. Sie müssen etwas Nachsicht mit mir haben … ich bin durch mein Wanderleben rund um den Äquator in nationalen Dingen ziemlich verwildert. Aber … ich möchte gern mehr davon wissen …«

»Bitte sehr, meine Gnädige?«

»Wenn ein Offizier – nun bleiben wir bei Leutnant Delius – wenn er jetzt seinen Abschied nähme – wäre er dann im Falle eines Krieges von der Dienstpflicht befreit? Oder müßte er sich dennoch stellen?«

Die weißen Buschen über den stahlblauen Lichtern sträubten sich.

»Delius – den Abschied nehmen? Aber um Gottes willen, Kind – pardon! – wie kommen Sie auf diese Kateridee?«

»Eine Doktorfrage, Exzellenz …«

»Hm. Natürlich. Na – ich will Ihnen was sagen, gnädiges Fräulein: Wenn Delius durch irgend eine verfluchte Geschichte gezwungen würde, den Waffenrock auszuziehen, und der Krieg bräche aus – als gemeiner Soldat würde er wieder ins Heer eintreten und nicht eher ruhen, als bis er seine Epauletten wieder hätte oder mit einem ehrlichen Soldatentod den Eid auf die Fahne zur Tat gemacht. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich meinte nicht, daß er gezwungen würde,« widersprach Marianne mit einem Blick ins Leere. »Ich dachte daran, wenn er freiwillig aus dem Heere scheiden würde …«

»Delius? Da kennen Sie ihn schlecht! Eher fällt der Mond in die Nordsee. Und nun gar jetzt, wo die Möglichkeit der Kriegserklärung jeden Tag drohender erscheint! Wo's mehr als je heißt: Alle Mann an Deck!«

»Ich habe nicht gewußt,« sagte Marianne lächelnd, »daß ein Leutnant so eine wichtige Persönlichkeit ist. Ein Offizier mehr oder weniger …«

»Das ist 'n Irrtum – ein Irrtum, meine Gnädige! Natürlich geht das Deutsche Reich nicht aus dem Leim, wenn ein Leutnant den Abschied nimmt. Aber Schockschwerenot, wenn jeder so denken wollte, wohin kämen wir dann mit der Armee?! Und was heißt wichtig? Wichtig ist jeder, der seinen Posten ausfüllt. Der Generalstab macht's nicht allein. Die von der Großen Bude führen die Schlachten, aber der Frontsoldat schlägt sie. Und gewinnt sie. Und solche Kerle, wie der da drüben – die stehen an der Spitze! Möchte wissen, ob er Ihnen auch so verklärte Augen machen würde, wenn er wüßte, daß Sie ihn eben pensionieren wollten … Warum eigentlich? Es geht ihm doch ganz gut bei uns?«

»Exzellenz,« sagte Marianne Römer freundlich, »ich spreche nur von der Theorie. Und griff nur das nächste Beispiel heraus, weil mich, wie gesagt, das Ganze lebhaft interessiert … Gesetzt den Fall, er wollte heiraten …«

»Denkt ja gar nicht dran.«

»Gesetzt den Fall, Exzellenz,« betonte sie liebenswürdig. »Ich möchte mich nur belehren.«

»Meine Gnädigste, wenn's Ihnen nichts ausmacht, wollen wir den Fall lieber nicht setzen,« meinte der alte Soldat.

»Und warum, Exzellenz, wenn ich fragen darf?«

»Warum? Tja. Das ist so 'ne Sache. Geld hat der Junge keins. Schwindelt sich so eben mit Gehalt und Zuschuß durch. Also müßte er die berühmte reiche Heirat machen. Na schön. Aber es ist nicht jedermanns Sache, der Mann seiner Frau zu sein.«

»Es kann der Fall eintreten, Exzellenz, wo sich das ausgleicht. Wenn der Mann einer Frau zuliebe seinen Beruf aufgibt und sie ihm dafür das Leben reich und herrlich macht …«

»Hm.« General von Brügge lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stemmte die Hände gegen den Tisch. Er sah sie an. Durchdringend. Es war, als schätze er sie ab mit seinem Blick.

In diesem Augenblick wußte Marianne, daß er alles erriet. Aber es war ihr gleichgültig. Nein, es war ihr lieb! Mochte er wissen, warum sie fragte. Mochte er wissen, daß sie um ihr Glück kämpfte mit jedem Wort …

»Hm … Mein liebes Kind – Sie nehmen mir ein väterliches Wort nicht übel, wie?«

»Nein, Exzellenz!«

»Sie sagten da vorhin: wenn der Mann für eine Frau seinen Beruf aufgibt und sie ihm dafür das Leben reich und herrlich macht … Gut. Aber das liegt nicht in der Macht einer Frau.«

»O Exzellenz –!«

»Nein. Wenigstens nicht auf die Dauer. Keine Liebe, auch nicht die größte und herzlichste, vermag das Leben eines Mannes auszufüllen. Das kann nur die Arbeit, der Beruf – die Pflicht. Und je mehr er Mann ist, um so gewisser. Nehmen wir einmal an – Sie sehen, jetzt bin ich es, der Fälle setzt – Sie selbst heirateten einen Mann, der vollkommen von Ihnen abhängig wäre. Wie denken Sie sich dessen Existenz? Soll er Ihnen die Notenmappe tragen? Ihre Hotelrechnungen bezahlen – aus Ihrem Portemonnaie? Ihnen, wenn Sie gesungen haben, den Pelz umlegen? Nicht wahr, das ist grotesk. In der Theorie. In der Praxis ist es verteufelt ernst. Die Frau, die einen Mann veranlaßt, um ihretwillen seinen Beruf aufzugeben, nimmt eine so ungeheure Verantwortung auf sich, daß sie ihr nur in den seltensten Fällen gewachsen ist. Wenn die Stunde kommt, in der sie fühlt, daß den Mann die Reue packt – und die Stunde kommt ganz gewiß – dann bricht sie einfach unter der Last zusammen.«

»Und wenn es nun sein eigener Wunsch und Wille ist?« fragte sie und hörte sich selbst wie aus weiter, weiter Ferne reden.

General von Brügge beugte sich vor und füllte ihr das Glas, das sie hastig an die ausgetrockneten Lippen führte.

»Mein liebes Kind, muß ich alter Mann Ihnen, der Klugen, Guten, Warmherzigen sagen, was eine Frau zu tun hat, wenn der Mann, den sie liebt, sein Leben verpfuschen will?«

Marianne Römer richtete sich auf.

»Nein, Exzellenz,« sagte sie.

Er nickte. Und dann meinte er: »Wenn Sie wüßten, wie Sie in diesem Augenblick Ihrem Vater ähnlich sehen …«

Ein jammervolles Lächeln ging über ihre Züge. Der alte Soldat räusperte sich heftig.

»Eine blödsinnige Hitze!« murmelte er.

Sie fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Ja,« sagte sie mechanisch, »es ist sehr warm.« Wenn ich nur erst zu Hause wäre, dachte sie. Wenn ich nur erst das Lachen der vielen, fremden Menschen nicht mehr hören müßte. Wenn diese Stunde erst vorüber wäre … Und gleich darauf: Nein, mein Gott, jetzt hab' ich ihn ja noch, sehe ihn noch – das liebe, frische, fröhliche Gesicht. Und die geliebten Augen, die mich suchen. Du lachst und winkst mir zu und weißt es nicht, daß ich dich in dieser Stunde schon verloren habe … Und warum, Gott im Himmel! Warum? Weil Mannespflicht vor Frauenliebe geht …

Wie im Traume erhob sie sich mit den anderen, ließ sich die Hand küssen, ließ sich noch einmal danken und Gute Nacht wünschen. Gute Nacht …

Der weiße Kopf des Generals neigte sich vor ihr; er zog ihre fieberheiße Rechte an seine Lippen, aber er sagte nichts. Wozu auch? Sie hatten sich ausgesprochen.

Sie schritt die Treppe hinab, um ihren Pelz aus dem Künstlerzimmer zu holen. Da stand Wolf Delius schon an der Tür, legte ihr den Mantel um die Schultern mit einem leisen, zärtlichen Wort. Sie fand keine Erwiderung dafür. Sie dachte an die vergangene Stunde. Und an das, was der alte Offizier gesagt. Soll er Ihnen, wenn Sie gesungen haben, den Pelz umlegen? Heute war's noch eine ritterliche Aufmerksamkeit – später war's … ein Amt – das einzige Amt des Mannes, der im Dienst, im härtesten Dienst sein Glück, seine Befriedigung gefunden – und seine Zukunft. Dem die Augen strahlten, wie sie in Liebe nie gestrahlt, weil der Krieg vor den Toren des Landes dröhnte und das Vaterland nach ihm rief.

Wie eine Erscheinung tauchte plötzlich ein Bild vor ihr auf. Das Schlachtfeld. Ein brennendes Dorf … verwüstete Felder … Schützengräben … dunkle Massen, lebendige, die sich über die zerfetzte Erde schieben, näher und näher … grauweißer Pulverdampf, vom trägen Wind hin und her gewälzt … rauchgeschwärzte Gesichter … das Brüllen der Geschütze, das rasende Knattern des Gewehrfeuers – und über den keuchenden Lärm hinweg eine helle, stahlschneidige Stimme: »Die Kompanie hört auf mein Kommando!«

Vorüber …

»Warum bist du so still, mein Liebes?« fragte Wolf Delius, als sie zusammen in die schöne, klare Winternacht hinaustraten. »Hat es dich so angestrengt? Soll ich dir lieber einen Wagen holen?«

»Nein. Nein.« Sie schüttelte erschreckt den Kopf. Die nächste Stunde, die gehörte ihr noch. Und dann keine mehr. »Ich bin nur so benommen. Die vielen Menschen und das laute Reden, die Musik … Die Stille wird mir schon gut tun. Wir wollen recht langsam gehen.«

Er schob seinen Arm in den ihren und faltete die rechte Hand um ihre Linke. So gingen sie über die weißen, glitzernden Wege, durch das friedliche Schweigen der Februarnacht, in der die Sterne funkelten.

Wie soll ich es anfangen? dachte sie gequält. Wie soll ich es anfangen?

»Worüber hast du dich denn mit Exzellenz so lebhaft unterhalten?« fragte er nach einer Weile vergnügt. »So gesprächig habe ich den alten Herrn überhaupt noch nicht gesehen.«

»Wir sprachen von dir,« antwortete sie sanft.

»Von mir? Ach nee! Ist's ein Staatsgeheimnis?«

»Im Gegenteil. Er machte gar kein Geheimnis daraus, daß er große Stücke auf dich hält.«

»Du, das freut mich! Das freut mich ganz kolossal! Also darum klopfte er mir eben so herzhaft auf die Schulter … Aber warum macht mein Schatz ein so toternstes Gesicht dabei? Ist es dir nicht recht, daß die hohen Herren mit mir zufrieden sind?«

»Doch, mein Liebling. Aber soll mir nicht das Herz schwer werden, wenn ich daran denke, daß der Krieg von vielen schon als beschlossene Tatsache angesehen wird – und an allen Jammer, der damit hereinbricht …«

»Marianne, daran darf der Soldat nicht denken. Wir haben uns weiß Gott redlich dagegen gewehrt, haben mehr an Überhebung und Anmaßung von unseren Nachbarn eingesteckt, als manchem gut dünkte. Es gibt für uns jetzt keinen ehrenvollen Frieden mehr, wenn ihre letzten Übergriffe nicht nachdrücklich geahndet werden. Und ich glaube nicht, daß sie das in Absicht haben. Sie fordern den Krieg heraus. Gut, so sollen sie ihn haben! Daß er für uns siegreich werde, dafür laß uns nur sorgen. Eine Armee, an deren Ausbildung bei jedem einzelnen Manne so gearbeitet wird wie bei uns, in der die Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen so erprobt und zum höchsten gesteigert wird, in der jeder Einzelne mit so viel Vertrauen in seine Führer, so viel persönlichem Pflichtbewußtsein und Verantwortlichkeitsgefühl seinen Dienst tut, die kann mit voller Zuversicht auf den Sieg in jeden guten Kampf gehen.«

»Und du würdest glücklich sein, wenn es dazu käme.« Sie fragte nicht, sie stellte es nur fest.

»Kannst du mir das nicht nachfühlen, Marianne? Wozu hab' ich den Eid auf die Fahne geleistet? Um wenn es nottut mit Blut und Leben, mit allem, was ich habe, für Kaiser und Reich einzustehen.«

»Und ich?« fragte sie lächelnd.

Er blieb stehen.

»Aber Marianne – du Soldatenkind! Möchtest du einen Mann lieben, der hinterm Ofen kleben bleibt, wenn die anderen ins Feld ziehen?«

Sie gab keine Antwort.

»Du bist also wirklich, wie man so sagt, mit Leib und Seele Soldat,« sprach sie dann und schaute im Weiterschreiten vor sich hin.

»Das weißt du, Marianne!«

»Und könntest dich nie entschließen, freiwillig den Dienst zu quittieren …« fuhr sie langsam fort. »Auch nicht um meinetwillen.«

Er schwieg zunächst. »Was meinst du mit dieser Frage?« entgegnete er schließlich.

»Ich meine, wenn du die Wahl hättest zwischen mir und deinem Beruf, dann würdest du lieber mich aufgeben.«

Er ließ unwillkürlich ihre Hand los und verhielt den Schritt. Und auch sie blieb stehen und sah mit großen, klaren Augen zu ihm auf. Sie spürte die Sekunden dieses Schweigens wie glühende Tropfen auf ihr Herz fallen.

»Das wäre eine furchtbare Wahl, Marianne,« sagte er endlich gepreßt. »Die furchtbarste, vor die mich das Leben stellen könnte …«

»Das ist keine Antwort, mein Liebling,« mahnte sie leise.

»Gott bewahre mich, daß ich je im Ernstfall eine Entscheidung treffen müßte … Denn ich glaube, ich könnte dir jetzt nicht mehr entsagen – seit ich weiß, wie du mich liebst, Marianne …«

Nun habe ich dein Schicksal in meinen beiden Händen, dachte sie. Nun muß ich es tun.

Wortlos gingen sie weiter. Sie kamen an das Haus, in dem Marianne wohnte; es brannte noch Licht im Zimmer ihrer Mutter.

»Darf ich ihr noch Guten Abend sagen?« bat er behutsam.

Sie hielt seine Hände in den ihren und sah ihn unablässig an. »Nein,« sagte sie mit einer merkwürdig hellen Stimme. »Es ist spät, und ich bin müde. Wir wollen uns jetzt hier trennen.«

Sie sah, wie enttäuscht er war, wie ernst sein offenes Gesicht wurde.

»Habe ich dich gekränkt?« fragte er.

»Nein, mein Liebling. Nein. Leb wohl. Gott behüte dich!«

»Gute Nacht, Marianne.« Er küßte ihre Hände, die leise in den seinen zitterten. »Darf ich morgen nachschauen, wie es dir geht?«

»Ich schreibe dir, Wolf … Gute Nacht.«

»Schlaf wohl, Marianne.«

Er wartete noch, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte; dann ging er und ahnte nicht, daß sie da drinnen an der dunklen Tür lehnte und mit einem wimmernden Schluchzen auf seine Schritte lauschte, die sich so rasch entfernten. Sie fror, daß ihr die Zähne aufeinanderschlugen, daß ihre flatternden Finger den Schlüssel nicht im Schlosse umdrehen konnten. Im Dunkeln schleppte sie sich die Treppe hinauf. Wenn nur die Mutter sie nicht hörte. Sie konnte jetzt nicht mit ihr reden. Ruhe wollte sie haben, eine halbe, eine Viertelstunde Ruhe. Nur Atem holen. Dann mußte sie den Brief schreiben. Und die Koffer packen. Ja, gleich mußte das alles geschehen.

Lautlos drückte sie die Tür zum Musikzimmer auf und schloß sie hinter sich. Alles war still. Ihr Kommen war unbemerkt geblieben. Sie ließ den Mantel von den Schultern gleiten und duckte sich in den nächsten Sessel. Wie ein verkrochenes, wundes Wild kauerte sie da und schloß die Augen, drückte die Hände an die Schläfen, in ihr schneekühles Haar. Und dachte nur immer das eine: Zu Ende … zu Ende … zu Ende …

Minuten vergingen. Die Uhr im Nebenzimmer schlug elf. Sie hörte, wie die Mutter leise hin und her ging, das Schlüsselbund abzog, das Licht ausschaltete. Sie würde sich schlafen legen. Das war gut. Nun konnte sie ungestört mit allem fertig werden.

Sie ging in ihr Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, legte den Bogen vor sich hin und nahm die Feder auf. Aber sie wußte nicht, was sie ihm schreiben sollte. Denn eine Lüge mußte es sein. Dazu zwang er sie selbst.

Das war das Schwerste, das Bitterste – das nahm ihrer Liebe auch noch das letzte, arme Glück: zu wissen, daß er gut und herzlich an sie denken würde, in einer ruhigen Dankbarkeit für das Opfer, das sie ihm gebracht.

Ach, ihm schreiben dürfen, oder besser noch: ihm sagen, wie es in ihr aussah! Wie ihre ganze Seele fieberte und litt unter der Erkenntnis der Notwendigkeit. Mit einem letzten Händedruck, einem letzten Kusse Abschied nehmen: »Weil ich dich liebe, darum verlasse ich dich!«

Dann hätte sie nicht so viel von ihrem Leben zerstört, diese Trennung.

Aber das wußte sie: dann gab er sie nicht frei. Dann warf er seine Zukunft, sein ganzes Leben hin und folgte ihr nach.

Auch seine Pflicht?

Nein. Seine Pflicht würde er nicht verletzen. Aber so lange er atmete, würde er die Schmerzen, die sie um ihn trug, als eine Schuld auf seiner Seele spüren. Unfrei würde er sein. Unfrei und freudlos durch sie.

Was half ihm dann ihr Opfer? Es war nur eine Last für ihn. Das durfte nicht sein. Und darum mußte er sie vergessen.

Du kannst nicht von mir lassen, weil du weißt, daß ich dich liebe? Nun, so wisse: ich liebe dich nicht mehr …

Und sie schrieb:

»Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß unsere Liebe ein Irrtum war. Wir sind uns innerlich fremd, und unsere Ansichten gehen so weit auseinander, daß wir uns niemals wahrhaft finden könnten. Darum lebe wohl. Ich reise morgen früh. Schreibe mir nicht mehr, ich würde Dir die Briefe uneröffnet zurückschicken. Vergiß mich, wie ich Dich vergessen werde.

Marianne.«

Sie schloß den Brief und schrieb die Adresse. Dann erhob sie sich, um das Notwendigste zu packen und zu ordnen. Nun begann das Wanderleben von neuem …

Sie legte die Noten aus dem Schrank auf den Flügel. Der Gesang Weylas lag oben auf. Und Marianne wußte: erst jetzt würde sie das Lied singen können; erst jetzt verstand sie seinen Sinn: »Du mein Land …

Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind!«

Jetzt tat sich das Geheimnis, das machtvoll und keusch um Kronen und Reiche schwebt, in seiner ganzen Schönheit vor ihr auf und zeigte ihr das Land – das Vaterland als eine Gottheit, der Könige mit gebeugten Knien huldigen und dienen.

War sie nicht auch eine Königin in ihrem Reich? Und hatte sie nicht königliche Pflichten? War es nicht auch eines Königs Wort: »Und wer nicht lächelnd opfert, der opfert nicht …«

Sie hob den Blick zu dem Bilde ihres Vaters. Dein Kind bin ich, dachte sie, Soldatenkind; bist du mit mir zufrieden, Vater?

Klar und unverwandt in seine stummen Augen schaute sie.

Und lächelte …


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