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Die Fahne

Ein Wort ist mächtig, wenn es eine
Idee umschließt, an die man sein
Leben gesetzt hat.

Jensen.

Es war Anfang Dezember und glühend heiß.

Die kleinen, bunten Papageien, die um Sonnenaufgang Marie Luise mit ihrem fröhlichen Spektakel geweckt hatten, duckten sich wie betäubt vom Licht in das sanfte Grün der Tamarisken und Mangobäume und schliefen, und die goldenen Webervögel und rosa geschnäbelten Sperlinge taten es ihnen nach.

Marie Luise fand es selber schwierig, die Augen offen zu halten. Das gleichmäßige Schwingen des Windfächers über ihrem Kopfe wirkte so einschläfernd wie ein Wiegenlied, und die Luft war schwer von fremden, weihrauchstarken Wohlgerüchen, als übte die Natur in dieser glühenden Schweigsamkeit einen feierlichen und rätselhaften Opferbrauch.

Die Straße, die schneeweiß und unabsehbar, ein breites, glattes Band, nach der neuen Pflanzung führte, warf das vom Himmel stürzende Licht wie ein silberner Spiegel zurück, und die wundervoll geschwungenen Zweige der Kasuarinen, die sie umsäumten, hingen regungslos, metallen in der flimmernden Luft, gegen das unwirkliche Blau der Ferne.

Die ganze Schöpfung stand unter dem Bann einer Stille, die vollkommener war als die Stille der Mitternacht; aber es war nichts Friedliches in ihr. Sie zwang, den Herzschlag einzuhalten und zu warten – auf etwas Namenloses, Fremdes und Furchterweckendes, das vielleicht kam, vielleicht fernblieb, aber immer im Verborgenen drohte.

Marie Luise war noch nicht lange genug in diesem schönen, diesem ungebändigten Lande, um den geheimen Schrecken seiner Größe gelassen zu begegnen. Aber sie liebte es zu sehr, um sich vor ihm zu fürchten. Sie gab sich ihm hin wie ein Boot dem Meere, wohl wissend, daß jede seiner Wellen es zertrümmern konnte, aber voller Hoffnung auf seine Großmut.

Ist es möglich, dachte sie und lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille hinein, daß uns ein Unbekanntes so tief vertraut sein kann durch Liebe? Oder hab' ich dies alles in einem früheren Leben schon gekannt und finde es jetzt nur wieder?

Sie erhob sich und trat an die Brüstung der Baraza, von der drei Stufen in den Garten niederführten. Das Haus lag hoch im Lande, mit einem beherrschenden Blick über Nähe und Ferne, und weiter, als sie schauen konnte, bis jenseits der grünumbuschten Hügel, war das gesegnete Erdreich ihres Mannes Eigentum.

Ist es seinetwegen, daß ich hier bin? fragte sie wieder, und dann hob sie den Blick zu der schwarz-weiß-roten Fahne, die schön entfaltet, ruhig und leuchtend in der regungslosen Bläue hing. Ist es um euretwillen, ihr geliebten Farben?

Sie hatte nie begriffen, warum man sie bewunderte, weil sie mit ihrem Manne in die Wildnis ging, und schüttelte den Kopf, wenn er ihr dafür wie für ein Opfer dankte. Sie folgte einfach der großen, gläubigen Sehnsucht ihres eigenen Herzens, das sie zwang, ein niegesehenes Land zu lieben und ihm zu dienen, indem sie es erschließen half; und nun war sie hier und spürte mit jedem neuen Tage stärker, wie ihre Sehnsucht sich erfüllte und wie sie glücklich war. Aber sie spürte auch: wenn Unheil über sie kommen sollte – Gott mochte wissen, aus welcher Wolke? – dann würde ihr Herz nur um so heißer an dieser Erde hängen. Denn in ihrer Liebe zu dem jungdeutschen Lande war etwas von der bedingungslosen Inbrunst derer, die berufen sind, mit ihrer Zeugenschaft einem neuen Glauben die Welt zu erobern – und um so gewisser, wenn sie selbst darüber zugrunde gehen.

Marie Luise fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn, auf der die klaren Tropfen perlten. Warum dachte sie an Unheil in dieser verwirrend hellen Stunde? Sie wußte, daß es nichts Törichteres gab, als am afrikanischen Hochmittag das Grübeln anzufangen; denn seine Glut und seine Schweigsamkeit waren stärker als alle Vernunft.

Sie atmete tief auf, als aus der lastenden Stille heraus die Stimme ihres Mannes nach Songoro rief.

Nichts auf der Welt war so geschaffen, Gespenster zu verscheuchen, als diese urgesunde, dröhnende Stimme, die gleichsam in alle Ecken hineinfuhr und vor sich herfegte, was ihr im Wege war. Das ganze leichtgebaute Haus schütterte unter ihrem Ruf; aber es kam keine Antwort.

»Bummelei verfluchte!« sagte Fritz Westerland durchaus gemütlich. Er schimpfte zuweilen herzhaft, aber ohne sich im mindesten aufzuregen. Das hatte ihm der Umgang mit den spröden und dumpfen Menschen der anderen Rasse abgewöhnt. Vielleicht lag das Geheimnis seiner tropischen Erfolge zum großen Teil in dieser vergnügten Ruhe, die durch nichts aus der Fassung zu bringen war und an Widerständen nur erstarkte. Wer ihn zuerst so sah, wie er jetzt aus dem Innern des Hauses kam: hünenhaft, blond und derb, mit den Händen eines Riesen und den Augen eines Kindes, der war sicherlich geneigt, ihn für das Sinnbild gutmütiger und unbeholfener Kraft zu halten, die mit sich selbst nichts anzufangen weiß.

Aber es bedurfte nur eines einzigen Wortes, und die träumenden Germanenaugen wurden klar und kühl und sehr bestimmt, und um den Mund erschien ein Zug kaltblütiger Entschlossenheit, die nicht irre zu machen ist. Es gab sehr wenig Menschen, mit denen er ernsthaft rechnete, und ganz gewiß keinen, dem er sich unterwarf. Er war gewohnt, von sich und den Leuten, die mit ihm arbeiteten, rücksichtslos das Äußerste zu fordern, und wer sich dabei nicht bewährte, den schied er ohne Gnade aus. Aber er gewann sich das Herz der Frau, die er liebte, durch die Sorgfalt, mit der er einen fremden kranken Hund von der Straße aufhob.

Was weich und zart war an diesem Manne, das gehörte dieser Frau, und gerade darum dankte sie's ihm mit glücklichem Stolz, daß er sie hoch und stark einschätzte und nicht nach ihr fragte, wo sein Werk auf dem Spiele stand.

»Sag mal, Marlis,« begann er noch unter der Tür, »hast du Songoro Rukhsa erteilt?«

»Songoro?« wiederholte sie mit einem leisen Zittern der Lider, die gegen die Helligkeit kämpften. »Aber lieber Schatz, wie käme ich dazu, ohne dein Wissen deinen Diener zu beurlauben.«

»Also ist der Kerl wahrhaftig durchgebrannt – einfach verschwunden und verduftet! Scheint 'ne neue Epidemie hierzulande zu sein. Drüben bei Gottschalk sind auch vor kurzem erst ein paar über Nacht ausgerückt, und wenn man die übrigen von der Schwefelbande nach dem Verbleib ihrer werten Brüder fragt, dann grinsen sie wie die Nachtaffen und wissen von garnischt.«

»Ja aber … was soll das bedeuten?« fragte Marie Luise und schlang die Hände ineinander, um ihrer plötzlichen Unruhe Herr zu werden.

»Wird nicht viel zu bedeuten haben. Wahrscheinlich hat irgendwo so 'n alter Jumbe zu viel Pombe gesoffen und benutzt die Gelegenheit, um 'nen europäischen Weltuntergang zu prophezeien. Oder der Maji-Maji-Zauber spukt wieder mal in ein paar unternehmenden Köpfen. Na, Kunststück! Wir sind den Herrschaften unbequem. Wir tun das Menschenmögliche, um die schwarzen Kerle zur Tätigkeit zu erziehen, aber hast du schon mal 'nen Neger freiwillig arbeiten sehen? Ich nich. Und da taucht so 'n wolliger Schlaukopf auf und hält ihnen 'ne schöne Rede: Wenn ihr zum Medizinmann lauft und euch Zauberwasser geben laßt, dann seid ihr unverwundbar und könnt die verfluchte Bande aus Uleia hinausschmeißen und kriegt Mais und Sorghum und was ihr euch nur träumen könnt in Hülle und Fülle, ohne daß ihr einen Finger zu rühren braucht. Das ist natürlich für die Gesellschaft, die die Faulheit als Wissenschaft betreibt, vollkommen genug, um sie für 'nen kleinen Aufstand zu begeistern, aber die Herrlichkeit dauert gewöhnlich nicht lange; dann kehren sie reumütig zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurück.«

Marie Luise stand noch immer an die Brüstung der Baraza gelehnt und ließ die verschlungenen Hände niederhängen. Aber sie war ganz ruhig geworden. Sie wurde immer ruhig, wenn eine Gefahr greifbare Gestalt annahm.

»Wollen's hoffen,« meinte sie. »Doch wenn sie es nicht tun – was dann?«

Fritz Westerland zuckte die Achseln. »Zeit zu langen Unterhandlungen haben wir nicht,« sagte er knapp und nachdrücklich. »Mit unzuverlässigen Menschen kann man meines Erachtens überhaupt nicht unterhandeln, denn sie bieten nicht die geringste Sicherheit dafür, daß sie abends noch zu halten gedenken, was sie am Morgen versprechen. Und da wir leider Gottes ausschließlich auf die schwarzen Kerle als Arbeiter angewiesen sind, so wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben, als ihren Herren Verführern die Wasserzauberei sehr kräftig zu verbieten.«

»Und dadurch die Empörung erst recht hervorrufen,« vollendete Marie Luise. Wenn sie hartnäckig einen Gedanken verfolgte, der dem Schaffen ihres Mannes galt, dann sah sie ihm so ähnlich, als sei sie seine Schwester.

Vielleicht wollte er irgend eine gleichgültige Antwort geben. Aber als er dem Blicke seiner Frau begegnete, fühlte er, daß diese aufrichtigen und gelassenen Augen ein Recht darauf hatten, klar zu sehen.

»Das ist möglich, Marlis,« gab er unumwunden zu. »Wir dürfen nicht vergessen, daß wir in gewissem Sinne hier noch immer in Feindesland leben, daß wir unsere Stellung als Herren dieses Bodens mit jedem Tage, den Gott werden läßt, von neuem erobern müssen. Das ist an und für sich eine ganz gesunde Sache; hält den Willen munter und den Verstand in Schwung. Aber es ist durchaus nicht harmlos und ungefährlich, und manchmal denke ich, daß es unrecht von mir war, dich in dieses unsichere Gebiet zu verpflanzen.«

»Ich bin hier so glücklich, wie ich nirgends sonst sein könnte,« antwortete die Frau.

»Das fühl' ich, Marlis, und das macht mich sehr froh. Nur –«

»Ich weiß, was du sagen willst, Fritz. Ich habe bis jetzt noch nichts Schweres durchmachen müssen, nicht wahr? Darin hast du Recht. Aber glaub mir, du, ich habe dich und dieses Land so lieb, daß ich um euch zwei auch böse Stunden stark und freudig auf mich nehmen würde. Und du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst.«

»Das weiß ich, Marlis,« sagte er, und sie gaben sich die Hände, wie Freunde tun. Damit war für den Mann die Sache erledigt.

»Ich will heute gegen Abend mal nach der Boma, um mit Hauptmann Engers zu reden. Kommst du mit?«

»Selbstverständlich – gern.«

Als sie ins Haus traten, um zu Tisch zu gehen, schlug im Arbeitszimmer Westerlands die Klingel des Fernsprechers an, ungeduldig und ruckweise, daß es schrillte.

»Mir scheint, da hat einer 'nen Sonnenstich,« meinte der Pflanzer und nahm den Hörer ab. Marie Luise blieb unwillkürlich stehen und horchte.

»Hallo! – Hier ist Westerland. Ja, ich selbst … Wer ist dort? Wer am Apparat ist, will ich wissen. Was? – Ich verstehe keine Silbe …« Und plötzlich ins Kisuaheli übergehend: »Kuna nani? – Wer ist dort? … Risgalla? Was willst denn du am Apparat – warum ruft mich Bana Hartmann nicht an? – Was ist los? … Rede langsamer, Kerl! Wo ist Bana Hartmann? – Er ist krank? Teufel noch mal, seit wann denn?« Und dann eine Weile nur das aufgeregte Summen in der Membrane.

Fritz Westerland schüttelte ein paarmal den Kopf und brummte etwas. Dann sagte er im kürzesten Ton: »Ich komme sofort!« und hängte den Hörer an.

»Du willst doch um Gottes willen nicht in die Mittagsglut hinaus!« sagte Marie Luise, die im Nebenzimmer die Suppe austeilte.

»Dat helpt nu nich, min Deern!« antwortete er, nahm den Revolver aus dem Schreibtisch und schob ihn in die Tasche. »Ich nehme das Auto und bin in 'ner guten Stunde an Ort und Stelle.«

»Ist es so dringend?«

»Scheint so. Konnte aus Risgalla nicht recht klug werden, der Kerl quasselte alles durcheinander. Hartmann muß plötzlich krank geworden sein; wundert mich von dem Manne, der zwölf Jahre im Lande ist, ohne das Fieber zu kriegen. Will nur hoffen, daß es nicht das perniziöse wird; wäre schade um den Menschen. Er ist der tüchtigste Maat unter der Sonne. Sowie er dazu fähig ist, bringe ich ihn hier herauf; dann kannst du ihn gesund pflegen.«

»Soll ich mit dir fahren, Fritz?«

Er sah kurz auf und ihr ins Gesicht, das ihm ruhig und freundlich zugewendet war. Er überlegte einen Augenblick.

»Nein, Marlis,« sagte er dann. »Es wäre vielleicht nicht ratsam, wenn wir beide jetzt das Haus verließen. Köhler ist auf Urlaub. Und ich weiß nicht, wann ich wieder hier sein kann; es mag immerhin zwei Tage dauern. Während dieser Zeit könnte uns die aufsichtslose Gesellschaft hier allerhand Überraschungen bereiten.«

»Du hast Recht,« antwortete sie.

»Wirst du dich ängstigen, Marie Luise?«

»Nein,« sagte sie und sah ihm ernsthaft in die Augen. »Ich danke dir, daß du mir so viel anvertraust.«

»Ich weiß, daß ich es darf,« meinte er einfach.

Während der Mahlzeit schwiegen sie beide. Ardili und Schefatuma, in roten Westen über dem schneeweißen Kanzu, gingen auf nackten Sohlen lautlos wie die Geister Aladdins zwischen dem Eßzimmer und der Küche hin und her, die sich als offene Bogenhalle an der Nordseite des Hauses befand. An dem kleinen indischen Bronzetisch stand Khamisi und ließ den Saft einer Ananas ins Eiswasser tropfen.

»Sage Ramassan, er solle das Auto zur Fahrt bereit machen,« sagte Westerland, als ihm der Diener das Glas mit dem kühlen Tranke bot.

»Hewallah, Bana! – Zu Befehl, Herr!«

Khamisi verschwand und kam nach zehn Minuten mit der Meldung wieder: »Yote tayari, Bana! – Alles fertig, Herr!«

»Vema – gut!«

Fritz Westerland stand auf, und auch Marie Luise erhob sich, um ihn durch den Garten zu begleiten, aber er hielt sie zurück.

»Geh lieber nicht in die Sonne, Kind; versprich mir, daß du daran denken wirst, während ich nicht da bin: niemals vor sechs Uhr abends ins Freie gehen. Bis jetzt hast du dich famos gehalten, aber wie du siehst, muß manchmal sogar ein alter Afrikaner dran glauben, der bisher aufs Klima gepfiffen hat. Also nimm dich recht in acht, hörst du? Nicht in die Sonne gehen und kein Wasser trinken. Verstanden, kleine Frau?«

»Ja, mein Schatz,« sagte sie und lächelte, weil sie ihm nicht zeigen wollte, wie seine derbe Sorgfalt sie rührte.

»Im übrigen lege ich alles in deine Hände,« fuhr er fort und nahm dem bewegungslos wartenden Khamisi Mühe und Brille ab. »Solltest du wirklich keinen Rat wissen oder irgendwas vorfallen, das dich beunruhigt, so rufst du mich einfach auf Pflanzung 4 an. Aber ich glaube nicht, daß es nötig sein wird, du weißt ja mit allem Bescheid.«

»Du kannst ganz ohne Sorge sein,« entgegnete Marie Luise und bot ihm die Lippen zum Kusse. »Hoffentlich findest du Hartmann nicht gefährlich krank und kannst ihn bald mitbringen.«

»Gott geb's,« sagte Fritz Westerland, aber es klang nicht sehr zuversichtlich. Dann war er gegangen, und Marie Luise trat auf die Baraza hinaus, um ihn noch einmal zu grüßen. Sie hörte seine Stimme im Hofe, wo das Auto stand, hörte das ruckweise Ankurbeln und wie der Motor ansprang, und gleich darauf glitt der weiße Kraftwagen, an dem die deutschen Fähnchen flatterten, um die Ecke des Hauses an der Baraza vorüber und bog in weicher Kurve nach dem Torweg ein.

»Auf Wiedersehen, Marlis,« rief der Mann zurück und grüßte mit der Hand.

»Inshallah!« antwortete sie. »Wenn Gott will!« Es war das Lieblingswort ihrer schwarzen Untertanen, und sie wußte nicht, warum es auf ihre Lippen gekommen war.

Eine Weile stand sie noch und sah dem hellen, kraftvollen Dinge nach, wie es weiß auf der weißen Straße dahinflog und schließlich gleich einem flinken, kleinen Tier unter den Kasuarinen verschwand. Und dann überkam sie mit einem Male das Gefühl einer so grenzenlosen, herzbeklemmenden Verlassenheit, daß ihr die Zähne aufeinanderklirrten und sie spürte: wenn sie sich ihm nur für die Dauer eines Herzschlags überließ, dann würde sie darin ertrinken wie in einem Strudel, der sie in die Tiefe zog.

Es ist die Hitze, die mich so verstört, dachte sie und riß die Brauen zusammen. Und diese furchtbare helle Lautlosigkeit. Ich bin es noch nicht gewohnt; das ist alles. Hauptsache ist, daß ich mir eine vernünftige Beschäftigung suche. Ich werde Maua rufen und sie im Nähen unterrichten. Dann wird's wohl vorübergehen.

Aber es ging nicht vorüber.

Während sie, auf dem indischen Liegestuhl ausgestreckt, die Arbeit ihrer kleinen, schwarzen Zofe überwachte und lächeln mußte, wenn ein lobendes Wort aus ihrem Munde tausend Lichter in den samtdunklen Augen anzündete und ein Tadel sie alle verlöschte, während sie dem schüchternen Geplauder des jungen Geschöpfchens lauschte und ihm freundliche Antwort gab, blieb doch immer die flatternde Unruhe in ihr und eine gespannte Hellhörigkeit, die alle Geräusche verdreifachte.

Sie hörte den behutsamen Schritt eines fremden Dieners auf der Treppe und das Klopfen einer fremden Hand an ihrer Türe.

»Karibu – tritt näher!« sagte sie. Der Mann kam herein und blieb auf der Schwelle stehen. Es war der Boi von Leutnant von Oster; sie erkannte ihn an der Narbe, die ihm über die Stirn lief und die das Ehrenmal einer wütenden Verteidigung seines Herrn gegen einen rebellischen Bantu war.

»Salaam von meinem Bana, Bibi,« grüßte er feierlich, mit der angeborenen Würde tausendjährigen Blutes. »Der Bana läßt fragen, ob die Herrin zu sprechen sei.«

»Bitte deinen Herrn in die Baraza, Jussuf, und sage, ich käme gleich.«

Der Araber verbeugte sich und ging. Marie Luise folgte ihm auf dem Fuße und schickte Maua zu Ardili in die Küche, um Tee und Eiswasser zu bestellen.

Als sie aus dem Hause auf die Baraza trat, kam ihr Leutnant von Oster mit seinem raschen, festen Schritt entgegen und nahm die Hacken zusammen, während er ihre Hand an die Lippen zog.

»Jambo, Bibi!« grüßte er vergnügt. Er war immer vergnügt und ganz besonders dann, wenn es um Kopf und Kragen ging.

Sie hielt seine Hand fest und prüfte mit einem mütterlichen Blick die sonnverbrannten, knabenhaften Züge ihres Gastes.

»Sie haben wieder Fieber gehabt, Herr von Oster,« meinte sie kopfschüttelnd, »und sollten was Besseres tun, als jetzt draußen herumzujagen.«

»Das Fieber macht mir nichts, Bibi,« behauptete er liebenswürdig; »das ist mir nachgerade zur lieben Gewohnheit geworden und beehrt mich nur noch stundenweise. Und ich jage leider Gottes gar nicht zum Privatvergnügen in diesem schönen Lande herum, sondern rein dienstlich …«

Sie lud ihn zum Sitzen ein.

»... Dienstlich?« wiederholte sie und sah ihn an.

»Jawohl … Ihr Herr Gemahl ist nicht zu Hause?«

»Nein, mein Mann ist mit dem Auto nach der Pflanzung 4, wo Hartmann plötzlich erkrankt ist.«

»Wissen Sie zufällig, wann er zurückkommt, gnädige Frau?«

»Darüber hat er nichts Bestimmtes hinterlassen; er wollte Hartmann mit herbringen, weil er hier oben doch bessere Pflege und gesündere Luft hat. Wahrscheinlich hängt also seine Rückkehr zum großen Teil vom Befinden des Kranken ab.«

»Hm … Verzeihen Sie mir noch eine Frage, Bibi: Könnten Sie Ihren Herrn Gemahl auf irgend eine Weise benachrichtigen, wenn seine Anwesenheit hier notwendig werden sollte?«

»Ich kann ihn telephonisch zurückrufen,« antwortete sie etwas zögernd.

»Dann tun Sie das, gnädige Frau,« sagte der junge Schutztruppler kurz und ernst.

Sie faltete die Hände im Schoße.

»Und warum?«

»Es hat keinen Zweck, Ihnen was vorzutäuschen, Bibi,« fuhr er fort, »und wir alle kennen und achten Ihre Tapferkeit. Also auf deutsch: in Mapatano ist der Aufstand ausgebrochen. Ein Trupp von mehreren hundert schwarzen Kerlen ist in der Nacht vom dritten zum vierten in die Besitzung des Pflanzers Gustav Böhme eingebrochen, hat ihn und seine Familie niedergemacht, die deutsche Fahne in Fetzen gerissen und dann verbrannt, was brennen wollte. Der Feuerschein hat die Besatzung von der Boma Hemaya alarmiert, aber es war nichts mehr zu retten. Bei der Verfolgung ist zwar ein Teil der Mordbrenner in die Hände der Askari gefallen, aber die Rädelsführer sind entwischt, und nach Aussagen der Gefangenen hat die Aufstandsbewegung in aller Stille schon viel weitere Kreise ergriffen, als sich bis jetzt überblicken läßt – wobei man freilich nicht vergessen darf, daß der Neger gewohnheitsgemäß übertreibt.«

»Und was glauben Sie, daß nun geschehen wird?« erkundigte sich Marie Luise mit stillem Gesicht.

»Verehrte Bibi, da fragen Sie mich bedeutend mehr, als ich oder sonst jemand beurteilen kann,« meinte der junge Offizier. »Ich möchte mir nur ganz gehorsamst den Rat erlauben, daß Sie Ihren Herrn Gemahl zurückrufen und zwar mit der höchsten Geschwindigkeit von dreißig Pferdekräften. Vielleicht ist jede Sorge überflüssig und die ganze Geschichte verläuft im Sande, sobald die Übeltäter von Mapatano ihre Strafe haben. Aber vielleicht ist nicht gewiß, und mir will's den Anschein erwecken, als ob dem Treiben der schwarzen Kerle ein ganz bestimmter Plan zugrunde läge.«

»Meinen Sie, daß sie die Absicht haben, die Herrschaft der Weißen abzuschütteln?«

»Ich meine, daß die Zauberer und Medizinmänner die Hand im Spiele haben, deren Ansehen – und Einkünfte – durch die Verbreitung europäischer Kultur immer mehr zurückgehen und deren Haß gegen alles, was aus Uleia stammt, nach einer Betätigung sucht. Aus den Reden eines Gefangenen hat man erfahren, daß ein Bokero, so ein Zauberkerl in der Nähe von Pahali Pazuri, die Lehre ausgesprengt hat, der Geist, der die Deutschen beschütze, wohne in ihrer Fahne, und wenn diese sämtlich vernichtet wären, würden das Land und sie von den Deutschen und von aller Arbeit befreit sein. Ob diese Nachricht auf Wahrheit oder Erfindung beruht, weiß ich nicht. Tatsache aber ist, daß wiederholt beobachtet wurde, mit welcher abergläubischen Scheu in letzter Zeit die deutsche Fahne von den Negern betrachtet wird, und daß bei dem Überfall in Mapatano der erste leidenschaftliche Angriff der schwarz-weiß-roten Flagge galt, als ob sie erst mit deren Verschwinden an den siegreichen Ausgang ihres Unternehmens glaubten.«

Unwillkürlich wandte Marie Luise den Kopf und sah zu der Fahne empor, die jetzt, vom leisen Wind des Nachmittags umspielt, sich sanft im Dunkelblauen wiegte.

»Bibi, rufen Sie Ihren Herrn Gemahl zurück,« sagte der junge Schutztruppler, der ihrem Blick gefolgt war.

»Mein lieber Herr von Oster,« antwortete sie sehr ruhig und freundlich, ohne sich zu rühren, »würden Sie einen kranken Kameraden verlassen, wenn Sie wüßten, daß Sie ihn dadurch einfach preisgäben – noch dazu, wenn Sie als sein Vorgesetzter eine Art von gesteigerter Verantwortung für den Mann trügen?«

»Nein, gnädige Frau. Aber Ihr Herr Gemahl hat auch für Sie die Verantwortung übernommen. Und wenn Sie ihn aus Rücksicht auf Hartmann durchaus nicht zurückholen wollen, dann halte ich es für meine Pflicht, Sie zu bitten, auf der Boma Schutz zu suchen. Wenn möglich heute noch. Es könnte ganz plötzlich zu spät dazu sein.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Sorge, lieber Freund, aber Sie verkennen die Sachlage. Sie ist für uns so ungünstig wie nur möglich. Köhler, der meinen Mann hier gewöhnlich vertritt, ist auf Urlaub in Deutschland und kommt vor März nicht wieder. Durch die Neuanlage der dritten und vierten Pflanzungen haben wir jetzt auf jeder Shamba nur einen einzigen Deutschen als Betriebsleiter, von denen der beste, wie Sie wissen, durch das Fieber außer Gefecht gesetzt und der zweite erst vor ein paar Wochen in meines Mannes Dienste getreten ist. Wir sind also vollkommen auf uns selber angewiesen, und augenblicklich liegt die Verantwortung für alles, was hier geschieht, allein auf meinen Schultern. Meine Leute sind mir ergeben; sie sind beschränkt, und sie haben keine Spur von unserem Pflichtgefühl im Leibe, aber sie hängen an mir. Solange ich hier bin, werden sie bei mir ausharren. Aber was es für die Pflanzung und das Haus bedeuten würde, wenn ich sie verließe, das wissen Sie ebensogut wie ich, Herr von Oster.«

»Gewiß, gnädige Frau. Aber ich weiß auch, daß im Ernstfalle Ihre Anwesenheit das Haus nicht vor dem Schicksal von Mapatano retten könnte, und damit wäre auch das Ihre besiegelt.«

»Sicherlich haben Sie recht, Bana. Aber gerade Sie als Offizier kennen die Notwendigkeit der Pflicht, auch auf verlorenem Posten auszuharren, und wäre es nur um des Beispiels willen.«

Er öffnete die Lippen zu einer Entgegnung, sagte aber nichts.

»Wir sind die äußersten Vorposten des Deutschtums in der Welt, lieber Herr von Oster,« fuhr sie fort. »Und die Welt sieht auf uns und urteilt nach uns. Die Würde und Ehre unserer Farben ist in unsere Hand gelegt. Wenn ich Ihnen jetzt folgte, um mein Leben in Sicherheit zu bringen, so würde ich damit nicht meines Mannes Eigentum preisgeben, sondern ein Stück deutscher Erde, das mir anvertraut war. Wenigstens fühle ich es so. Und darum darf ich's nicht tun. Das sehen Sie ein, nicht wahr?«

»Ja,« sagte er nach einer Weile in beinahe grimmigem Ton. Sie lächelte und schwieg.

Ardili hatte den Teekessel gebracht, in dem das Wasser summte, und den eisgekühlten Limonensaft bereitgestellt. Marie Luise erhob sich, um ihres Amtes als Wirtin zu walten; aber sie konnte es nicht hindern, daß die zarten japanischen Tassen in ihren Händen leise klirrten. Herr von Oster sah ihr zu.

»Versprechen Sie mir wenigstens so viel, Bibi,« begann er plötzlich von neuem, »daß Sie Ihren Herrn Gemahl von der Sachlage unterrichten und daß Sie, sobald Ihnen Gefahr im Anzuge scheint, nach der Boma telegraphieren.«

»Gewiß werde ich meinen Mann benachrichtigen,« antwortete sie und bot ihm die Tasse und die Zitronenscheiben. »Es ist ja sehr leicht möglich, daß auch er einer Warnung bedarf, um sich rechtzeitig vorzusehen. Und nach der Boma depeschiere ich sofort, wenn ich die Pflanzung bedroht glaube. Diese Sorgfalt bin ich der Arbeit so vieler Jahre schuldig.«

»Wir haben leider wie gewöhnlich viel zu wenig Leute für das Riesengebiet, das wir schützen sollen,« meinte er. »Aber was getan werden kann, das wird getan. Es sollte mir einen persönlichen Genuß bedeuten, der verfluchten Mordbande das schwarze Fell zu verledern, wenn ich auch hoffen will, daß Sie's nicht nötig haben, uns um Hilfe anzurufen, Bibi.«

»Inshallah!« sagte sie zum zweiten Male, mit einem etwas nachdenklichen Lächeln, und bot ihm, der aufgestanden war, die Hand zum Abschied.

»Zu schade, daß Sie kein Mann geworden sind, Bibi,« meinte er in seiner knabenhaften, frischen Offenheit. »Was wären Sie für ein famoser Kamerad!«

»Ich hoffe, das bin ich auch so,« entgegnete sie ernsthaft.

Er nickte. »Weiß Gott, ja!« Dann zog er ihre Hand an die Lippen. »Leben Sie wohl, meine verehrte gnädige Frau, und empfehlen Sie mich bitte Bana Westerland!«

»Danke, lieber Freund. Ich werde es gleich ausrichten, wenn ich ihn anrufe. Und hoffentlich auf ein frohes Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, gnädige Frau!«

Damit war er gegangen, und seine helle Kommandostimme, die nach Jussuf rief, brachte das ganze Haus in Aufruhr. Marie Luise sah nach der Türe, die sich hinter ihm geschlossen hatte, und dachte: Wenn ich ihm jetzt nacheilte und den Dogcart anspannen ließe … wenn ich Maua helfe, sind wir in zehn Minuten mit dem Packen fertig … und ich könnte in aller Ruhe auf der Boma bleiben, bis Fritz zurückgekommen wäre …!

Aber sie stand regungslos, bis im Hause wieder alles still geworden, bis Ardili erschien und die Teetassen zusammenstellte. Das weckte sie auf und gab ihren Gedanken eine andere Richtung. Sie ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und rief Pflanzung 4 an.

Sie bekam keine Antwort.

Sie klingelte ein zweites, ein drittes Mal – schließlich, in steigender Ungeduld, mit immer kürzeren Pausen. Ohne Erfolg.

Sonderbar …

Ihr Mann hatte noch vor wenigen Stunden mit Risgalla gesprochen; der Apparat mußte also in Ordnung sein. Um sich davon zu überzeugen, schaltete sie nach Shamba Johari um, der ältesten Besitzung Westerlands, die, aus einem uralten Maurenkastell aufgebaut, selbst eine kleine Festung und verhältnismäßig am sichersten war.

Es dauerte keine Minute, so antwortete ihrem Zeichen der Gegenruf: »Hier Godesberg.«

»Hier ist Frau Westerland. Sagen Sie, Bana, hat man Sie von den Ereignissen in Mapatano benachrichtigt?«

»Jawohl, gnädige Frau. Unteroffizier Weinert ist mit zwanzig Askaris hier.«

»Auf der Shamba?«

»Ja. Seit heute früh.«

»Warum haben Sie meinen Mann nicht davon unterrichtet, Herr Godesberg?«

»Selbstverständlich habe ich das getan, gnädige Frau. Ich habe ihn sofort angerufen und Bericht erstattet.«

»Meinem Manne?!«

»Jawohl, gnädige Frau.«

Das ist ganz ausgeschlossen, dachte Marie Luise. Er hätte es mir gesagt.

»Wann haben Sie ihn denn angerufen?« fragte sie weiter.

»Heute vormittag gegen zehn Uhr.«

»Um diese Zeit war mein Mann überhaupt nicht zu Hause, sondern draußen in der Kautschukplantage.«

Godesberg sagte nichts.

»Waren Sie denn sicher, mit meinem Manne zu sprechen?« fuhr sie fort.

»Ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, daß er es nicht sein könnte,« antwortete der Beamte. »Herr Westerland macht nie viel Worte am Telephon, und darum fiel es mir nicht weiter auf, daß er meine Meldung nur mit einem ›Es ist gut!‹ entgegennahm und dann das Gespräch abbrach.«

Marie Luise überlegte einen Augenblick.

»Mein Mann ist nach Pflanzung 4 gefahren, weil Herr Hartmann krank geworden ist,« erklärte sie dann. »Das beste wird sein, Sie rufen ihn einmal dort an und melden den Vorfall. Geben Sie mir aber dann bitte Bescheid, denn ich möchte auch mit meinem Manne sprechen und habe ihn bis jetzt nicht erreichen können.«

»Jawohl, gnädige Frau.«

Marie Luise hängte den Hörer an und setzte sich in den Schreibtischsessel.

Godesberg hatte heute früh selbstverständlich deutsch gesprochen. Der einzige von der Dienerschaft, der diese Sprache ziemlich gut verstand und selber leidlich beherrschte, war Songoro gewesen – Songoro, der seitdem spurlos verschwunden war. Stand sein Fortlaufen mit der Nachricht vom Ausbruch des Aufstands in Zusammenhang? Und wenn das der Fall war – was hatte es zu bedeuten?

Marie Luise fühlte, wie ihr das Wasser auf die Stirne trat. Mit Tatsachen fand sie sich ab und richtete sich nach ihnen; aber das Unbestimmte ängstigte sie. Das wartende Stillsitzen ertrug sie nicht mehr. Sie stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Sie sah das Schwingen des Uhrpendels über dem Schreibtisch, und dennoch glaubte sie mehrmals, die Zeiger stünden still.

So verging fast eine halbe Stunde, dann schrillte die Klingel am Telephon.

»Hallo! – Ja, hier ist Frau Westerland …«

»Hier ist Godesberg. Gnädige Frau, ich kann mit Pflanzung 4 keine Verbindung bekommen.«

Marie Luise stand wie betäubt.

Sie haben die Leitung zerstört, fuhr es ihr durch den Kopf.

»... Danke, Bana,« sagte sie nach einer Pause, in der sie um den Atem rang. »Wahrscheinlich ist niemand in der Nähe oder man hat aus Rücksicht auf den Kranken den Hörer abgehängt. Ich werde es später selbst noch einmal versuchen, und Sie geben mir bitte morgen frühzeitig Nachricht, wie es bei Ihnen steht.«

»Jawohl, gnädige Frau.«

Und wieder Stille.

Marie Luise glaubte selbst nicht an die Erklärungen, die sie dem Beamten gegeben hatte, aber sie wußte keine bessere und fühlte, daß ihr nichts weiter übrig blieb, als auf das zu warten, was die Ereignisse bringen würden.

Ich werde mit Abdallah nach der Rodung gehen, beschloß sie. Das bringt mich ganz bestimmt auf frohere Gedanken. Und die Zeit geht darüber hin.

Als sie aus dem Zimmer ihres Mannes trat, um den Diener zu rufen, sah sie sich einem kleinen, verwachsenen Kerl gegenüber, der in der Tür der Baraza stand und mit den raschen, listigen Kopfbewegungen eines Vogels Umschau hielt. Sobald er sich entdeckt sah, kam er auf Marie Luise zu und begrüßte sie mit einem Schwall von unverständlichen Worten.

Unwillkürlich wich die Frau zurück.

»Nani we – wer bist du?« entfuhr es ihr.

Ob er die Frage begriffen hatte, wußte sie nicht, denn sie konnte weder seine Reden noch seine Zeichen enträtseln. Darum rief sie nach Ramassan, der ihren Mann auf allen seinen Reisen ins Innere des Landes begleitet hatte und mit den Negerdialekten vertraut war.

Ramassan erschien. »Labeka, Bibi!« meldete er sich zur Stelle.

»Frage diesen Menschen, wie er hierher kommt und was er will,« sagte Marie Luise, worauf Ramassan den Fremden einem Verhör unterwarf, in dessen Verlauf sein stolzes Arabergesicht den Ausdruck tiefster Verachtung annahm.

»Er ist ein alter Taugenichts, Bibi,« erklärte er zuletzt mit einer Handbewegung, die den Verwachsenen von der Liste der Menschen strich. »Er ist seinem Herrn davongelaufen und will hier unterkommen. Aber er wird nicht arbeiten, sondern fressen wie eine Hyäne, und dann wird er stehlen und ausreißen.«

»Sage ihm, daß der Bana nicht zu Hause sei und daß wir allein ihn nicht aufnehmen könnten,« entschied Marie Luise. »Dann laß ihm zu essen geben und schicke ihn fort. Aber sieh zu, daß er sich wirklich entfernt. Ich mag den Menschen nicht auf der Pflanzung haben.«

»Hewallah, Bibi! – Zu Befehl,« sagte Ramassan, und dann schob er den Verwachsenen, der ganz willig mittrottete, vor sich her nach der Küche.

Marie Luise sah ihm nach und war mit sich selber unzufrieden, ohne zu wissen, warum. In den Augen des Fremden, die aus dem verschrumpften gelbbraunen Gesicht wie die Flammen hervorstachen, hatte zuletzt eine starke, heimliche Genugtuung gestanden, und Marie Luise konnte sich plötzlich des Gedankens nicht erwehren, daß der alte Halunke ihr Gespräch mit Ramassan recht gut verstanden hatte, obgleich er sich den Anschein gab, nicht Suaheli zu können.

Ich sehe wahrhaftig am hellen Tage Gespenster, dachte Marie Luise und schüttelte unwillig den Kopf. Es wird Zeit, daß ich unter freien Himmel komme …

Für sie gab es kein Gefühl, das der stolzen und fast heiligen Freude glich, mit der sie dem Wachsen von ihres Mannes Schöpfungen zusah. Als sie in Abdallahs würdevoller Begleitung durch die Negershamba ging, auf der nur Bananen, Guyaven und Ölstauden wuchsen, und dann über das grenzenlose Meer von Fruchtbarkeit hinschaute, das aus der bescheidenen Quelle entstanden war, da wurde ihr das Herz in der Brust zu groß, daß sie das Glück wie einen Schmerz empfand und die Tränen in ihre Augen traten.

Land der Zukunft! dachte sie und stand in Schauen versunken. Land unserer Kinder und Kindeskinder …

Sie ging über die Grenze der Pflanzung hinweg auf das jüngste Gebiet, in dem ein halbes hundert Arbeiter am Roden war; in ihre einfachen, uralten Lieder hinein klang das ermunternde »Haya! Haya!« der schwarzen Aufseher. Einer von ihnen kam herbei, als er sie entdeckte, und bot der Herrin eine Kokosnuß, die Abdallah mit dem Buschmesser öffnete.

Sie dankte mit einem Lächeln und trank. An den Stamm einer riesigen Mangrove gelehnt saß sie, die Hände ums Knie geschlungen, und blickte mit den Augen ganz erfüllter Sehnsucht über das Land, das sie liebte, bis Abdallahs Stimme mahnend zu ihr sprach.

»Du wirst das Fieber bekommen, Bibi,« warnte er, »wenn du den Hauch der frischen Erde atmest.«

Sie wußte, daß er Recht hatte, und machte sich auf den Heimweg. Sie fürchtete sich nicht vor dem Krankwerden, aber einen Wächter, der im Fieber lag, konnte das Haus nicht brauchen. Und sie mußte auf Posten sein.

Es war schon beinahe Nacht, als sie die Gartentüre hinter sich schloß. Die Sonne nahm von dieser Erde nicht sanft und behutsam Abschied; es war, als versänke sie in einem Abgrund, der seinen Rachen über ihr schloß, und wie am Tage das Licht, so stürzte nun die Dunkelheit wie ein See vom Himmel herab über Nähe und Ferne.

Die hellen Gartenwege schimmerten in der tiefen Dämmerung; und über diesen Schimmer glitt ein Schatten, schnell und lautlos, verschwand im Gebüsch.

Marie Luise blieb stehen.

»Abdallah, was war das?« fragte sie mit unterdrückter Stimme.

Der Diener hatte nicht achtgehabt. »Ein Nachtaffe, Bibi,« meinte er gleichmütig.

Marie Luise schwieg. Sie trat ins Haus und rief nach Ramassan.

»Ist der fremde Mensch fort?« fragte sie.

»Ja, Bibi.«

»Weißt du das ganz genau?«

»Ganz genau, Bibi.«

»Und ich glaube, er ist noch da. Geh mit Abdallah und Khamisi in den Garten und seht nach, und wenn ihr ihn findet, bringt ihn zu mir.«

Die drei gehorchten, aber sie fanden nichts.

»Er ist wirklich fort, Bibi,« beteuerte Ramassan. Marie Luise wußte es besser, wenn sie auch nicht weiterforschte, um ihre Leute nicht zu beunruhigen. Aber die deutlich empfundene Gegenwart dieses Menschen, der ihr unheimlich war, jagte sie immer tiefer in eine fieberhafte Unrast hinein, deren sie vergebens Herr zu werden suchte. Sie hatte die Nerven aus der Hand verloren. Was sie empfand, war Furcht – ganz erbärmliche, zähneklappernde Furcht, die dadurch nicht geringer wurde, weil sie sinnlos zu sein schien.

Sie hatte noch nie in ihrem Leben Furcht empfunden. Jetzt, als sie zum zweiten Male versuchte, Pflanzung 4 anzurufen und keine Antwort bekam, als sie sich klar wurde, daß sie, von jeder Verständigung mit ihrem Manne ausgeschlossen, allein mit einer Handvoll halbwilder Menschen und einer ungeheuren Verantwortung war, da sprang ihr die Angst ins Genick, daß ihr das Blut in den Adern gefror und sie minutenlang nicht wagte, ein Glied zu bewegen.

Mit einem Gesicht so weiß und so still wie Schnee traf sie ihre Vorbereitungen für die Nacht, schickte die jungen Leute zur Ruhe und teilte die Wache unter die älteren. Dann ging sie hinauf in ihr Schlafzimmer und legte sich in den Kleidern nieder. Maua, deren kinderhaftes, zärtliches Herz empfand, daß ihre Herrin traurig war, kauerte sich auf den Teppich zu ihren Füßen wie ein treuer Hund. Und die Stunden schlichen.

Mitternacht mußte nahe sein.

Da hob Marie Luise den Kopf und lauschte; sie richtete sich auf und wandte das Gesicht nach dem Fenster, das offen stand und nur mit einem feinen Gewebe zum Schutz gegen die Moskitos bespannt war.

Aus weiter, weiter Ferne her durch die Stille der Nacht klang etwas; es war wie das dumpfe Murren vieler wilder Tiere, wurde deutlicher, aber nicht laut und brach plötzlich ab, um bald darauf von neuem anzufangen.

Marie Luise kannte den Laut; es war das Trommeln der Eingeborenen.

»Hörst du es, Maua?« flüsterte sie.

Die kleine Schwarze duckte den Kopf an das Knie ihrer Herrin.

»Eine Ngoma, Bibi!« sagte sie tröstend.

Aber Marie Luise wußte, daß der Tanz, zu dem der wilde Rhythmus da drüben lockte, ein Totentanz war.

Sie stand auf und tastete sich aus dem dunklen Zimmer über die Treppe zu dem flachen Dach des Hauses hinauf. Sie wollte Umschau halten.

Die Nacht war kühl und sehr klar. Es stand kein Mond am Himmel, jedoch die wenigen und weit ins Blau verstreuten Sterne leuchteten mit großer Kraft und einer Reinheit, die etwas Gebietendes hatte.

Tief im Südosten aber lohte der Himmel im Widerschein einer düsterroten Glut, und das dumpfe, atemlose Pulsen der Trommel war wie der Herzschlag dieses Fieberbrandes.

In dem herben, langwehenden Winde, der von den Bergen niederstrich, flog die Fahne hoch am Mast mit breitem Schwunge.

Und unter ihr, halb in den Schatten der Tamarisken geduckt, da hockte etwas … eine Gestalt, ein Mensch, regungslos wie ein Klumpen Erde.

War das einer von denen, die Wache hielten?

»Kuna nani – wer ist dort?« rief sie halblaut.

Beim Ton ihrer Stimme war das Geschöpf verschwunden, wie von der Dunkelheit verschluckt. Nichts rührte sich. Nicht einmal das Rascheln eines Blattes war zu hören …

Marie Luise glitt die Treppe hinunter und beugte sich über das Geländer der Ngazi, die zur Halle führte.

»Khamisi!«

»Hewallah, Bibi!«

»Wer von euch ist im Garten?«

»Niemand, Bibi,« antwortete der Diener scheu.

»Es ist jemand im Garten, und ich will wissen, wer es ist!«

Sie bekam keine Antwort, aber sie hörte die Leute miteinander flüstern.

Sie ging die Stufen hinab.

»Macht Licht!« befahl sie.

Khamisi brannte die Lampe an und stellte sie auf den Tisch. In ihrem ruhigen warmen Schein sah Marie Luise, daß die Gesichter der Leute grau waren von irgend einem lähmenden Schrecken.

»Was ist denn?« fragte sie und blickte von einem zum andern.

Keiner antwortete. Sie wandte sich nach der Tür zum Eßzimmer, um auf die Baraza zu gelangen.

»Bibi,« sagte die verstörte Stimme Abdallahs neben ihr, »geh nicht in den Garten.«

»Ich will wissen, wer der fremde Mensch ist, der in den Büschen herumkriecht,« erklärte Marie Luise vollkommen ruhig wie immer, wenn sie den Dingen ins Auge sah.

»Es ist kein fremder Mensch im Garten,« beharrte Abdallah.

Für einen Augenblick blitzte in der Frau der Verdacht auf: sie wollen dich betrügen, sie spielen dem Feind in die Hände. Aber die sichtbare und große Furcht in den dunklen Gesichtern machte sie irre.

»Was sonst, Abdallah!« sagte sie.

»Es ist kein Mensch, Bibi, es ist ein böser Geist,« murmelte der Diener mit verlöschendem Atem.

Marie Luise sah ihn scharf an, und dann schüttelte sie den Kopf und lachte.

»O Abdallah, was bist du für ein Esel!« meinte sie. »Wahrscheinlich hat Ardili den fremden Ausreißer von heut nachmittag zu gut gefüttert, und nun ist er wieder da und will mehr haben – das ist alles!«

»Der Fremde ist fort, Bibi,« wiederholte Ramassan in demselben Tone hilflosester Furcht wie Abdallah. »Es ist ein böser Geist. Wir haben ihn fangen wollen und ihn angesprochen, aber er ist zu Luft geworden. Niemand sieht ihn in der Nähe. Er ist ein sehr böser Geist.«

Marie Luise fühlte, wie ihr Herz zu schlagen aufhörte. Es war nicht Furcht, was sie fühlte – es war Entsetzen. Sie wußte, was für die dunkle Rasse der Aberglaube bedeutete, wußte, daß im letzten Aufstande der Maji-Maji-Zauber die im Grunde ihres Wesens feigen Schwarzen blindlings gegen den rasenden Geschoßhagel der Maschinengewehre anstürmen hieß, und sie wußte auch, daß sich die Leute lieber mit Knütteln totschlagen ließen wie eine Herde Vieh, ehe sie gegen einen bösen Geist ankämpften. Weder Bitten noch Befehlen rüttelte sie hoch, und wenn sie auch an ihr, der Herrin, mit unbedingter Treue hingen – die Geisterfurcht war mächtiger als alles.

Ich muß sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, dachte Marie Luise; sonst sind wir verloren.

»Der böse Geist kann uns keinen Schaden zufügen, denn wir haben einen guten, der uns beschützt,« sagte sie freundlich und fest, als ob sie zu erschreckten Kindern spräche. »Wir müssen nur bei ihm Wache halten und ihm treu dienen, sonst verläßt er uns.«

»Die Bibi meint den Geist, der in der Fahne wohnt,« flüsterte Ramassan.

»Du hast Recht; und wenn du das weißt, dann geh mit mir und wache bei unserer Fahne.«

Sie ging durch das Zimmer und auf die Baraza, aber keiner folgte ihr.

»Warum laßt ihr mich allein gehen?« fragte sie über die Schulter zurück und hielt sich mit beiden Händen an der Türe.

»Bibi,« sagte Abdallah scheu, »der böse Geist ist mächtiger als der gute.«

»Warum glaubst du das, Abdallah?«

»In Mapatano hat er ihn besiegt,« antwortete der Diener. »Und hast du das Feuer gesehen, Bibi?«

Das also wußten sie. Sie hatten es vielleicht eher erfahren als ihre Herrin und wußten mehr davon als sie.

Nun galt es.

»Ich werde euch beweisen, daß ihr irrt,« sagte sie und ging in ihres Mannes Zimmer. Sie brannte eine Kerze an, nahm den Winchester aus dem Schrank und füllte die Kammer. Das leichte und zuverlässige Gewehr war ihr vertraut, und sie war sehr entschlossen, sich seiner als Waffe zu bedienen, wenn die Notwendigkeit den Finger am Drücker hielt.

Sie löschte das Licht und schloß die Türe der Baraza hinter sich. Sie war ganz allein. Das entsicherte Gewehr in der Rechten, stand sie oberhalb der Treppe, die zum Garten führte und lauschte mit allen Sinnen in die Dunkelheit hinein. Sie zitterte leise, vor Kälte, vor Aufregung. Sie hörte den harten Schlag ihres Herzens und preßte die Zähne in die Lippen. Sie wartete … eine halbe Stunde – eine ganze und noch eine Stunde und wußte nicht, worauf sie wartete: ob auf den Feind oder auf die Hilfe, ob auf Rettung oder Untergang. Vielleicht am meisten auf den Morgen, der die Entscheidung bringen mußte. Alle Furcht in ihr war unter dem Druck der Stunde einem Empfinden gewichen, das fast der Neugier glich, einer gespannten Erwartung: Was nun?

O über die friedevolle Schönheit dieser Nacht, die so tief und ruhig war wie der Atem eines schlafenden Kindes! So mußten die Nächte gewesen sein, die über dem Garten Eden ihre klaren, großen Leuchten entzündeten, wo die anbetenden Engel Gottes ernst und feierlich im Dom der Dunkelheit knieten und zu dem Lichtgesang der Sterne sangen: »Dreimal heilig ist der Herr!« Wo die Schattenworte der Menschheit, die von Gefahr und Angst, von Krieg und Tod und Elend reden, noch nicht gesprochen worden und die Geschöpfe einer lachenden Natur mit reinen Augen, die nichts fürchteten, schuldlos und voll Vertrauen nach dem verklärten Himmel sahen.

Der Himmel dieser Nacht war überhaucht von einer bösen Glut, und die Augen der Menschen, die diese Nacht durchwachten, brannten in Furcht und Haß.

So kam die Stunde der kurzen Dämmerung herauf. Ein erster, schriller Vogelschrei erwachte irgendwo. Die Sterne erloschen; der Himmel färbte sich wie Meerwasser über Korallenriffen. Ein fröstelnder Windhauch beugte die Wedel der Palmen.

Marie Luise fühlte, wie ihre Glieder starr wurden in dieser regungslosen Wacht. Sie tat einen Schritt in die Dämmerung der Baraza zurück und tastete nach einem Stuhl, um sich niederzulassen – und blieb stehen …

Da war der Schatten wieder auf dem hellen Wege …

Aber es war kein Schatten, es war ein Mensch, ein verwachsener, affenflinker Mensch, der aus der Hut des Gebüsches hervorhuschte und den Kopf nach ihr wandte.

Zwei, drei Augenblicke sah sie das dunkle, wilde, wutverzerrte Gesicht; dann war es verschwunden.

Also doch …

Marie Luise ging die Stufen zum Garten hinab, über den weißen Weg, der noch die Spuren des Gleitschutzes trug. Sie fühlte keine Furcht mehr, nur Verachtung und Zorn und eiserne Entschlossenheit.

Warte, Halunke …

Am Fuß der Fahnenstange blieb sie stehen, sah zu der Flagge empor, die im ersten Strahl der Sonne aufleuchtete.

»Du und ich!« sagte sie halblaut. »Jetzt müssen wir uns gegenseitig schützen …«

Es wurde Morgen, wurde voller Tag; ein Tag im afrikanischen Dezember, mit all seiner Glut und seinem strömenden Licht und seiner mitleidlosen Helle, die das Gehirn zusammendrückt.

War das gestern gewesen oder vor tausend Jahren, daß eine liebevolle Stimme zu ihr sagte: »Nicht in die Sonne gehen, kleine Frau …?«

O Gott, wie sinnlos war das jetzt, in dieser Stunde, da die Sonne glutsprühenden Hauptes vor ihr emporstieg … Es war, als sei das Licht geschmolzenes Metall und triefe über ihre Schläfen. Es war, als stehe die Luft in Flammen, die sie atmen mußte. Und sie stand mit unbedecktem Kopfe.

Ich kann so nicht hier bleiben, dachte sie. Ich werde einfach wahnsinnig. Und wer soll Wache halten, wenn ich's nicht mehr tue?

Schritt um Schritt, die Augen auf den verlassenen Posten geheftet, ging sie der Baraza zu. Und ehe sie die Stufen erreicht hatte und im Übermaß einer jähen Schwäche darauf niedersank, da stand ihr Feind an ihrem Platze und hob die dunklen Hände nach den Schnüren des Flaggenstocks.

Sie riß sich hoch – riß das Gewehr in Anschlag.

»Weg von der Fahne!« warnte sie, »oder du bist des Todes!«

Er fuhr herum, starrte sie an … das weiße und das braune Gesicht maßen sich mit Blicken, in denen Haß gegen Haß ansprang. Er schrie etwas, irgend ein wildes, rasendes Wort, das halb ein Fluch war und halb eine Warnung. Sie sah die Augen, die funkelnden Augen der Bestie, sah das Sichducken des Raubtiers, das angreifen will und das Messer in der geballten Faust …

»Jetzt!« sagte sie hart und klar und zog ruhig durch.

Ein Laut, um nicht viel stärker als ein Peitschenschlag.

Die kleine, leere Patronenhülse sprang über die Stufen, lag mattglänzend im weißen Sande.

Und nahe der Gartentüre, zu Füßen der breit entrollten Fahne lag noch etwas, ein Dunkles, Zusammengesunkenes – regungslos …

Marie Luise ging darauf zu. Das Gewehr sichernd, blickte sie auf ihren Feind hinab; er war tot. Die Kugel sah mitten zwischen beiden Augen. Spiegelschuß, dachte die Frau. Ihre Mundwinkel senkten sich in einem ungeheuren Ekel, und ein bitterer Geschmack quoll in ihrer Kehle auf.

Pfui Teufel, wie widerlich war das Leben …

So unsinnig das alles: die Angst und die Hoffnung, Unterliegen und Siegen, alles zuletzt am gleichen Ziele landend …

Aber es blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken.

Ein dumpfer, pochender Trommelschlag – fern und doch viel näher als in der Nacht, die vergangen war, weckte sie auf.

Großer Gott, hatte sie den Verstand verloren?!

Das war ja erst der Anfang des drohenden Kampfes; dieser Tote, den sie hatte niederschießen müssen wie einen tollen Hund, der war nur der Abgesandte von denen, die kommen würden – vielleicht heute, vielleicht morgen – vielleicht in dieser Stunde noch …

Sie lief ins Haus, und ihre Schritte waren, als ob sie auf Wellen träte; alles wich und wankte unter ihr. In der Halle stand ein Eimer mit frischem Wasser; wahrscheinlich hatte Maua es in das Schlafzimmer ihrer Herrin tragen wollen und vergessen – gleichviel! Marie Luise kniete dabei nieder und trank wie ein Tier, das verschmachtet …

»O Bibi!« schrie Maua auf, »trinke nicht!«

Sie hatte ebenso gut bitten können: Atme nicht, Herrin!

Marie Luise gab ihr keine Antwort. Sie taumelte von den Knien auf und in das Zimmer ihres Mannes. Die Boma benachrichtigen, dachte sie; die Boma benachrichtigen …

Ihre versagenden Gedanken mühten sich um die Zeichen, deren sie bedurfte. Wie war das – wie war das, mein Gott … Wie hieß das: Erbitte dringend Hilfe!

Sie fiel auf den Stuhl vor dem Morseapparat, ihre flatternden Finger berührten die Taste; sie murmelte mit gemartertem Hirn die Zeichen vor sich hin …

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Sie gab die Zeichen mit einer wilden Hartnäckigkeit, vier, fünfmal hintereinander, ohne die Kollation abzuwarten – und schließlich nur immer das eine verzweifelte, an allen geschlossenen Türen rüttelnde Wort: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Da begann das Band unter ihren Augen zu spielen, bedeckte sich mit Zeichen, Punkten, Strichen:

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Sie entzifferte: »Hilfe kommt sofort – Oster.« Und warf die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf …

Nur noch so lange Kraft, Herr mein Gott – nur noch so lange …

Als sie aufstand, war alles Nebel vor ihren Augen – das Zimmer tanzte.

»Bibi, du fällst!« stammelte Maua, die ihr nachgeschlichen war. Aber sie fiel nicht … nein, nein – noch nicht …

»Hast du das Fieber, Bibi?« fragte die kleine Schwarze schüchtern.

»Nein, Kind.« O nur niemand merken lassen, wie ihr zumute war! Auf Posten sein –! Auf Posten sein … und wär' es auf einem verlorenen … dann erst recht.

Sie rief nach Abdallah und Khamisi.

»Nehmt den Toten aus dem Wege fort!« befahl sie und ging ihnen voran. »Ich habe euch gezeigt, daß unser Schutzgeist stärker ist als der böse der Rebellen.«

Die Leute gehorchten, und Marie Luise fühlte, als sie in ihre Gesichter sah, daß sie der Herrin glaubten. Sie schleiften den Leichnam über den Sand aus dem Garten, als wäre es ein erschlagener Schakal. Marie Luise fragte nicht danach, wo sie ihn verscharrten.

Sie ließ sich von Maua einen Stuhl an die Gartenpforte tragen, setzte den Schutzhut auf und nahm ihren Posten wieder ein. Sie wußte nicht recht, warum sie es tat; aber das Gefühl der Notwendigkeit beherrschte sie. Ihre Gedanken, die kurz vorher wie flugmüde Vögel waren, arbeiteten jetzt mit einer wunderlichen Klarheit und Geschwindigkeit. Sie horchte, lauschte mit halboffenem Munde auf jeden Laut.

Das Trommeln war verstummt – jetzt fing es wieder an – irgendwo, sehr fern, fiel ein Schuß – noch einer – und wieder alles still … und dann ein neues, fremdes, anwachsendes Geräusch … das war – das war das Rasen eines Motors, der mit wahnsinnigster Schnelligkeit arbeitete …

Marie Luise erhob sich, wankte nach der Tür und sah – und schrie laut auf im Jubel des Erlöstseins …

Und dann fiel sie mitten im Wege mit ausgebreiteten Armen auf ihr Gesicht.

Sie fühlte noch zwei Hände, die nach ihr griffen – dann nichts mehr.

Lange, lange Zeit – o Ewigkeiten der Minuten und Stunden im Fieber …

Was sie erweckte, war ein Schuß, der dröhnend aus grobem Munde durch die Stille fuhr.

Sie lag, zu schwach, auch nur den Kopf zu heben, in ihrem Zimmer, und draußen um das Haus her war der Teufel los.

Sie unterschied nichts, war viel zu müde. Nur plötzlich, hoch und scharf, ein kurzentschlossenes: »Drauf!«

Und eine wutbebende, knabenhafte Kommandostimme: »Wollt ihr wohl standhalten, ihr Schweinebande?!«

Da mußte Marie Luise lachen.

Eine scheue kleine Hand rührte an ihre kraftlose Rechte.

»Maua!«

»Ja, Bibi!«

»Was ist aus der Fahne geworden? Ist sie unversehrt?«

»Schau, Bibi!« sagte die Kleine und wies aus dem Fenster.

Marie Luise wandte mühsam den Kopf.

Sie war unversehrt, die schöne Fahne. Sie leuchtete im Licht und wiegte sich im Winde mit ihrem stolzen, breiten Schwung …

Heiliges du! fühlte Marie Luise und schloß die Augen. Heiliges du –!


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