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Vierundvierzigstes Kapitel.
Das Schweißfieber

 

I.

Die erste, die vom Schweißfieber bei seinem Auftreten auf der Insel hinweggerafft wurde, war die auf der Curragh wohnende alte Jungfer, Tante Nanny. Wann hätte der Tod wohl keine Ausrede? – »Die Frauensperson war alt,« sagten die Leute und gingen ihrer Wege. Bald darauf jedoch fiel ein frisches, junges Mädchen, das Tante Nanny während ihrer Krankheit Suppen und Kräuter und verschiedene andere Dinge gebracht hatte, der Seuche zum Opfer. Dann begannen die Leute die Köpfe zusammenzustecken. Vier Tage nach der Beerdigung des Mädchens starb deren Mutter plötzlich, und zwei oder drei Tage nach dem Tode der Mutter legte sich der Vater und starb ebenfalls. Darauf folgten kurz nacheinander die drei übrigen Kinder, so daß nach weniger als drei Wochen keine einzige Seele des Haushaltes übrig geblieben war. Dies geschah auf der südwestlichen Seite der Curraghs, und zur selben Zeit fand auf der nördlichen Seite nahe der St. Andreas-Kirche ein ähnlicher Ausbruch statt. Zwei alte Leute, Creer mit Namen, waren die ersten, die ihm erlagen, und ihnen folgten schnell ein Kind von Cregans Bauernhof und ein Mädchen vom Hof des Erzdekans.

Danach wurde den Leuten die Wahrheit klar, und sie fingen an, schreckensbleich einherzugehen. Es war die Zeit der Heuernte, und während der zweistündigen Mittagspause versammelten sich die Männer und Frauen zum gemeinsamen Gebet auf den Feldern. Am Abend nach getaner Arbeit fanden sie sich wieder in den Dorfstraßen zusammen, um Gott anzuflehen, seinen drohenden Zorn von ihnen abzuwenden. Sonntags strömten sie morgens und nachmittags zur Kirche, und am Abend versammelten sie sich am Strande, um den Quäkern, die sie in ihrer Angst ungehindert und unverfolgt herumgehen ließen, zuzuhören. Ein Prediger dieser Sekte, ein Nachtwächter aus Castletown, unter dem Namen Billy bei Nacht bekannt, hing seinen Beruf an den Nagel und durchfuhr in einem Einspänner das Land, um über die Heimsuchung des erzürnten Gottes, die die Häuser veröden und das Land verwüsten würde, zu predigen.

Das Fieber griff schnell um sich, und verbreitete sich von den Curraghs über die sie östlich und westlich begrenzenden Lande. Nicht mehr in der Einzahl, sondern in der Mehrzahl zählte man jetzt die Toten, und schneller noch als die Krankheit verbreitete sich der Schrecken. Der Heringsfang hatte nur einen Monat gewährt und war zu einem plötzlichen Abschluß gekommen. Nach einer einzigen Nacht der Abwesenheit betraten die Männer nur mit Zittern und Zagen und in der Furcht, daß die Krankheit unterdessen bei ihnen eingekehrt sein möge, ihre Häuser wieder und gingen lieber gar nicht mehr auf die See hinaus, sondern suchten Kräuter, wo der Boden welche hervorbrachte, und kochten und verzehrten sie, ganz einerlei, ob sie gut oder schädlich, zum Essen geeignet oder ungeeignet, waren.

Und die Krankheit nahm zu, und die Toten zählten nach Hunderten. Ärzte gab es nur zwei auf der Insel, und beide waren vollständig damit beschäftigt, an der Bettseite der Reicheren zu sitzen und in der einen Hand die Uhr und in der anderen den Puls ihrer Patienten zu halten. Weitere Dienste leisteten sie keine, denn Reiche wie Arme fielen der Krankheit zum Opfer.

Die Leute wandten sich an die Prediger, die ihnen schöne Texte, aber keine Heilung brachten. Sie gingen zum Bischof, um dieselbe Hilfe, die er ihnen während ihrer großen, früheren Heimsuchung geleistet hatte, von ihm zu erflehen. Er tat sein Bestes, jedoch ohne Erfolg. Eine Morphiummischung, die ihm während der Ruhr gute Dienste getan hatte, erwies sich dem Schweißfieber gegenüber als gänzlich nutzlos. Mit einer Medizin nach der anderen versuchte er es, aber immer vergebens. Sein altes Haupt hing ihm tief auf die Brust herab. »Meine armen Kinder,« sagte er mit einem Ausdruck von Scham auf dem Gesicht, »ich fürchte, der Geist des Herrn hat mich um meiner eigenen und der Meinen Sünde willen verlassen.«

Darauf erhoben die Leute ein ebenso bitteres Geschrei wie damals, als sie dem Hungertode sich verfallen glaubten. »Das Schweißfieber ist über uns hereingebrochen!« stöhnten sie, und der alte Bischof schloß sich von ihnen, wie ein von Gott Verlassener, ab, damit ihre vorwurfsvollen Stimmen ihn nicht erreichen möchten.

Die Furcht griff wie ein Feuer um sich, Furcht aber erweckt in manchen Herzen eine Art von Verwegenheit, und bald fand sich eine Anzahl Leute, die an den Gebetsübungen auf dem Felde oder an den Predigten am Strande nicht länger teilnehmen wollten. Unter ihnen war ein Weib in mittleren Jahren, eine faule Schlumpe, die seit sechs oder sieben Jahren ein unstätes Wanderleben geführt hatte. Wenn andere beteten, erhob sie ein höhnisches Lachen und versicherte, daß es gegen den Schweiß wie gegen alles übrige Mißgeschick im Leben kein besseres Mittel gäbe, als sich nichts daraus zu machen. Sie befolgte ihre Verordnung buchstäblich und verbrachte ihre Tage in den Schenken und ihre Nächte auf den Straßen und wurde, wie die Nachrede wissen wollte, von gewisser Seite mit heimlichen Mitteln in ihrem liederlichen Leben unterstützt. Die geängsteten Leute um sie herum waren zuerst, bis die Zahl der Toten von Hunderten zu Tausenden stieg, zu sehr mit ihren eigenen lauten Betübungen beschäftigt, um auf ihre Gotteslästerungen zu hören. Dann aber ließen sie sich von ihrem Aberglauben fortreißen und glaubten aus den Spottreden des Weibes den Teufel lachen zu hören. Irgend jemand hatte sie zufällig am frühen Morgen Wasser schöpfen sehen, um ihre erhitzte Stirne zu baden, und ehe der Tag um war, hatte das Gerücht, daß sie durch Vergiftung der Brunnen das Schweißfieber hervorgerufen habe, die Runde von Mund zu Mund gemacht.

Darauf taten sich etwa fünfzig kräftige Burschen, denen die Furcht aus den Augen blickte, auf der Straße zusammen und gingen aus, das Weib zu suchen. Sie fanden sie betrunken in ihrem gewohnten Schlupfwinkel, den »Drei Beinen von Man«. Die Burschen zogen sie aus der Schenke auf die Straße hinaus und stießen unter Fluchen und Schimpfen erbarmungslos mit ihr herum, bis ihr Kleid in Fetzen herabhing und das Blut ihr von Armen und Gesicht herunterlief, und sie, durch die Angst ernüchtert, mit lauter Stimme zu schreien begann.

Es war gerade Dienstag Abend, und der Deemster, der späten Gerichtstag gehalten hatte, hörte, als er in der Dunkelheit zurückritt, den Tumult vor sich auf dem Wege. Er gab seinem Pferde die Sporen und erreichte den Schauplatz desselben. Ehe er die Bedeutung des auf der dunklen Straße sich abspielenden Vorganges erfassen konnte, hatte die Frau ihren Quälgeistern sich entwunden und vor ihm sich auf den Boden geworfen und seinen im Steigbügel stehenden Fuß umklammert.

»Deemster, rettet mich! rettet mich, Deemster!« rief sie in ihrem wilden Entsetzen.

Die Männer bildeten einen Kreis um sie herum und erzählten dem Deemster ihre Geschichte. Das Weib habe die Brunnen vergiftet und das verdorbene Wasser sei Ursache der Schweißkrankheit. Sie sei der allgemeinen Meinung nach eine Hexe und müsse von der Insel vertrieben werden.

»Welch leeres Geschwätz!« sagte der Deemster, sich ärgerlich an die Umstehenden wendend. »Männer, Männer, aus welchem Jahrhundert stammt Ihr allesamt nur, mit einer solchen leeren, tollen, hirnverbrannten Faselei mir zu kommen?«

Die erschreckte Frau jedoch, durch ihre Angst zum Äußersten getrieben und die Worte des Deemsters mißverstehend, schrie, sie sei bereit, die Wahrheit zu gestehen, sobald er sie nur erretten wolle. Ja, sie hätte die Brunnen vergiftet. Es sei wahr, sie sei eine Hexe. Sie gestände es zu, daß sie den bösen Blick besäße. Aber retten müsse er sie, retten, retten, und sie wolle alles gestehen.

Der Deemster hörte mit fieberhafter Ungeduld zu. »Das Frauenzimmer lügt,« sagte er mit verhaltener Stimme, und dann fragte er lauten Tones, ob irgend jemand eine Fackel habe. »Wer ist das Weib?« sagte er, »ihre Stimme scheint mir bekannt.«

»Wer mag sie sein, sie ist 'ne Hexe,« erwiderte einer der Männer, sein heißes Gesicht in der Dunkelheit über die am Boden kauernde Gestalt des Weibes herabbeugend. »Ja, und dasselbe war ihre Mutter vor ihr,« fügte er hinzu.

»Wie ist Euer Name, Weib?« fragte der Deemster ungerührt; seine Frage schien ihm jedoch im Halse stecken zu bleiben, als nach einer augenblicklichen Pause das Weib, in der Dunkelheit nach seinem Steigbügel greifend, antwortete: »Mally Kerrisch.«

»Laßt sie gehen,« sagte der Deemster mit erstickter, heiserer Stimme. Im nächsten Augenblick hatte er seinen Fuß von dem Griff des Weibes befreit und sprengte davon.

Mally Kerrisch starb denselben Abend infolge der ausgestandenen Angst in der kleinen als Gerätschupppn dienenden Hütte bei der Kreuzader, wo vor sechs Jahren ihre Mutter einer langen Krankheit einsam erlegen war, eines jämmerlichen Todes.

Die Nachricht ihres Verscheidens wurde unverzüglich von einer der vielen Klatschzungen nach Ballamona gebracht. Der Deemster hatte sich gerade in Gesellschaft des mit einem Spitzenkragen und silbernen Schnallenschuhen herausgeputzten Jarvis Kerrisch zum Abendessen niedergelassen, als die Nachricht ihm mitgeteilt wurde. Er erhob sich und ließ seine Mahlzeit unberührt, und Jarvis mußte sein Abendbrot allein verzehren. Später am Abend sagte der Deemster mit unsicherer Stimme:

»Ich beabsichtige meinen Abschied in Castletown einzureichen, – die Last meines Amtes als Deemster übersteigt meine Kräfte.«

»Ganz recht, Sir,« antwortete Jarvis Kerrisch, »und wenn Ihr je daran denken solltet, die Verwaltung Eures Besitztums ebenfalls in andere Hände zu legen, so wißt Ihr, wie bereit ich bin, dieselbe zu übernehmen, damit Ihr Eure Tage in Ruhe und Frieden verleben mögt.«

»Der Gedanke hat mich kürzlich oft beschäftigt,« sagte der Deemster, und dann wanderte er die nächste halbe Stunde erregt im Eßzimmer auf und ab, während Jarvis sich in den Zähnen stocherte und seine Nägel reinigte.

»Ich glaube, ich werde alt,« sagte der Deemster dann und zog sich mit einem tiefen Seufzer nach seinem Schlafzimmer zurück.

 

II.

Die Krankheit nahm zu, rund um Ballamona kehrte der Tod in vielen Häusern ein, und keine volle Woche nach der Nacht von Mally Kerrischs Tode hatte Thorkell Mylrea, der frühere Deemster, Jarvis Kerrisch unbeschränkte Verfügung über sein Besitztum eingeräumt. »Ich will meine letzten Tage religiösen Zwecken widmen,« sagte er. Er hatte seinen Zehntenanteil in Fünfpfundscheinen bezahlt und fünfjährige, rückständige Zehnten mit sechs Prozent Zinsen hinzugerechnet. Für die Armen seiner eigenen Parochie hatte er Flanelldecken bestellt, ein Paar für jede Familie, und Mäntel für einige der alten Weiber.

Nachdem er derartig verfügt hatte, entsagte er all seinem irdischen Besitz und schloß sich, ohne irgend jemand Zutritt zu gewähren und nur für den Kirchgang das Haus verlassend, in einem Hinterzimmer von Ballamona von der Krankheit ab.

Der Bischof hatte kürzlich die Kapelle von Bischofs-Hof für tägliche Betstunden geöffnet, und von allen regelmäßigen Besuchern derselben war Thorkell der regelmäßigste. Jeden Morgen konnte man seine verschrumpfte kleine Gestalt vor dem Altar knien sehen und seine bleichen Lippen ihre Gebete ableiern hören. Des Bischofs Gesellschaft pflegte er soviel wie möglich und versuchte, demselben bis zur Lächerlichkeit in allen geringsten Kleinigkeiten nachzuäffen. Eine neue Kirchenverordnung hatte es kürzlich zur Regel gemacht, daß jeder Bischof eine bischöfliche Perücke tragen solle, und gezwungenerweise mußte der Bischof sein langherabfallendes, weißes Haar mit dieser possenhaften Kopfbedeckung bekleiden. Kaum hatte Thorkell dies gesehen, als auch er sich eine Perücke aus England kommen ließ und die gepuderten Löckchen auf seinen kahlen Scheitel drückte.

Die Krankheit hatte ihren Höhepunkt, das Entsetzen den äußersten Grad erreicht, Männer verließen ihre erkrankten Angehörigen und versteckten sich in den Gebirgshöhlen, als eines Tages der Bischof von der Kanzel herab bekannt machte, daß drüben in Irland, wie er gehört habe, ein guter Mensch leben solle, der von Gott mit der wundertätigen Kraft, die entsetzliche Krankheit zu heilen, gesegnet sei.

»Laßt ihn kommen! Laßt ihn kommen!« riefen die Leute, ohne Rücksicht auf den Ort, an dem sie sich befanden, wie aus einem Munde.

»Aber,« setzte der Bischof mit versagender Stimme hinzu, »der gute Mann ist ein Katholik, ein römisch-katholischer Priester sogar.«

Bei dieser Eröffnung entfuhr den Leuten, die die protestantischsten aller Protestanten waren, ein Stöhnen.

»Laßt uns nicht dem Gedanken Raum geben, daß außerhalb Nazareth nichts Gutes erwachsen könne,« fuhr der Bischof fort. »Und wer kann sagen, auch wenn wir dem Papsttum abhold sind, ob es nicht doch fromme Männer zu seiner Gemeinde zählt.«

Ein mißbilligendes Murmeln durchlief die Kirche.

»Meine guten Leute,« fuhr der Bischof stockend fort, »wir sind in Gottes Hand, aber sein Zorn liegt schwer auf uns.«

Hierauf brachen die Leute eiligst auf, um unter vielem bedenklichen Kopfschütteln die Worte des Bischofs ernstlich miteinander zu erwägen. Ihre Furcht aber blieb dieselbe und riß wie eine gewaltige Flut allen Gewissenswiderstand mit sich fort, und sie flehten den Bischof an: »Laßt den Priester kommen!« Und der Bischof sandte eine Botschaft an den frommen Mann.

Sieben lange Tage vergingen, und endlich machte der Bischof mit strahlendem Gesicht bekannt, daß der Priester geantwortet und seinen Besuch zugesagt habe. Fernere drei Tage vergingen, und dann durchlief das Gerücht die Insel von Nord nach Süd, Vater Dalby, der römische Priester, habe mit der nach Whitehaven segelnden und in Peeltown einlaufenden Corker Brigg »Bridget« die Reise nach Man angetreten.

Darauf erstiegen die Männer Tag für Tag die Bergspitzen, um nach dem Segel einer irischen Brigg auszuschauen. Endlich zeigte sich ihnen von der Mullspitze, etwa fünf Meilen südlich von der Kalbbucht ein solches. Es stürmte jedoch heftig auf See, und die Brigg arbeitete schwer gegen die Wogen an. Stundenlang verfolgten die Leute den Lauf des Schiffes und sahen dasselbe sich der gefährlichsten Strömung ihrer Küste nähern. Die Dunkelheit jedoch brach ein, und der Sturm hatte sich zu einem Orkan gesteigert. Am nächsten Morgen beim ersten Tagesgrauen erklommen die Leute die Berge von neuem, von einer Brigg jedoch war keine Spur, wie auch in keinem Hafen eine solche gelandet war.

»Sie muß untergegangen sein,« klagten die Leute untereinander und kehrten schweren Herzens in ihre Häuser zurück.

Zwei Tage darauf jedoch machte die aufregende Nachricht »Er ist da! – er ist angekommen! – der Priester ist da!« die Runde. Und bei diesem Ruf überflog ein rosiger, gesunder Schimmer die abgezehrten Gesichter Tausender.

 

III.

In dem dunklen Schlafzimmer eines kleinen, am äußersten Ende der Fahrstraße nach Michael gelegenen, efeuumrankten Häuschens lag eine blinde Frau, von der Krankheit befallen, im Sterben. Es war die alte Kerry, und auf einem dreibeinigen Hocker vor ihrem Bett saß ihr Gatte Christopher. Jämmerlich genug anzuschauen war sein armes häßliches Gesicht. Seine dicken, breiten Lippen hingen schwer herab, und unter seinen struppigen Brauen blickten seine kleinen Augen rot unter ihren geschwollenen Lidern hervor. In seiner Hand hielt er eine Schaufel, mit der er in Ermangelung eines Fächers Kerrys Gesicht Luft zufächelte.

»'s hilft alles nichts, Mann,« jammerte die Kranke, »Ihr erhaltet mich nur gerade am Atem. 's ist nun mal bestimmt, daß ich Euch verlassen soll.«

Bei diesen Worten stöhnte Christopher laut auf und nahm seine Anstrengungen mit der Schaufel mit verdoppelter Kraft wieder auf. Dann ertönte ein Klopfen an der Türe, und eine Dame trat ein. Es war Mona, bleichen Angesichts, aber wunderschön in ihrer Blässe anzuschauen und mit einem Ausdruck gefaßter Trauer auf dem Gesicht.

»Nun, wie fühlt Ihr Euch jetzt, liebe Kerry?« fragte sie, sich über das Bett beugend.

»Ziemlich schlecht, Madam,« antwortete Kerry mit schwacher Stimme. »Ich werde abgerufen werden, wie man zu sagen pflegt, das ist nun mal gewiß.«

»Verliert den Mut nicht, Kerry. Habt Ihr nicht gehört, daß der Priester kommen wird?«

»Pah, Madam! Ich werde, so Gott will, vorher dort eingegangen sein, wohin seinesgleichen mir nicht folgen wird.«

»Still, Kerry! Er war gestern in Patrick; morgen wird er in German sein und am nächsten Tage hier in Michael. Er ist ein guter Mann und tut Wunder an den Kranken.«

Kerry kehrte ihr Gesicht der Wand zu, und Christopher wandte sich an Mona. Was sollte nur aus ihm werden, wenn Kerry ihn verlassen hätte? Wer würde dafür sorgen, daß er seiner Zeit einmal anständig unter die Erde gebracht würde? Der Deemster? Das Unglück über ihn! Was etwa könnte man von einem Brotherrn erwarten, der seiner eigenen Tochter sein Haus verschlösse?

»Ich bin besser aufgehoben, wo ich bin,« flüsterte Mona als einzige Antwort auf des tauben Mannes nur zu laute Fragen. Und Christopher bekräftigte nach einer kurzen Pause diese Antwort mit seinem altgewohnten Ausspruch: »Ja, der Bischof ist ein wahrer alter Erzengel, ja, das ist er.«

Darauf wandte Kerry ihr Gesicht wieder von der Wand ab und sagte: »Habe ich es Euch nicht immer gesagt, Madam, daß er nicht tot sei?«

»Wer?«

»Nun – er – er, den wir nicht nennen dürfen – er

»Still, liebe Kerry, er starb vor langer Zeit schon.«

»Ich sage Euch aber, Madam, er ist am Leben und wird zurückkehren – ich weiß es – er wird in allernächster Zeit zurückkehren – ich habe ihn gesehen.«

»Laß gut sein, Weib, 's sind nur Träume,« sagte Christopher.

»Ich habe ihn vorige Nacht ganz deutlich vor mir gesehen, und er trug einen langen, grauen Sack und hatte Sandalen an den Füßen und einen sonderbar geformten Hut auf.«

»Es muß der Priester gewesen sein, den Ihr in Eurem Traum gesehen habt, liebe Kerry.«

Die Kranke richtete sich auf einem Ellbogen auf und antwortete heftig: »Ich aber sage nein, Madam, er war es und kein anderer.«

»Liegt still, Kerry; Ihr verschlimmert Euren Zustand, wenn Ihr Euch der kalten Luft aussetzt.«

Es herrschte eine augenblickliche Pause, und dann sagte die Blinde:

»Ich gehe nun an einen Ort, wo ich ebensowohl wie jeder andere Christenmensch meine Augen haben werde.«

Darauf nahm Christophers rauhes Gesicht den Ausdruck quälendster Sorge an, und er begann von neuem seine Anstrengungen mit der Schaufel.

 

IV.

An demselben Tage herrschte um sieben Uhr schon vollkommene Dunkelheit. In einem Zimmer von Bischofs-Hof brannte ein glühendes Torffeuer, und der Bischof saß, seine mit Pantoffeln bekleideten Füße auf dem Kaminteppich ausgestreckt, vor demselben. Sein Gesicht trug einen milderen Ausdruck als vordem und zeigte weniger Stärke und mehr Trübsinn. Mona war an dem ihm zur Seite stehenden Teetisch eifrig beschäftigt, Butterbröte zu streichen.

Ein bleiches Gesicht blickte mit furchtsamen Augen von draußen in das dunkle Fenster herein. Es war Davy Fähl. Er schien seit den sieben Jahren, die schwer über sein kummervolles Haupt dahingerollt waren, nur wenig gealtert. Seine blöden Augen waren ebenso ausdruckslos, und seine Lippe hing ebenso tief herab wie früher; sein schweres Begriffsvermögen hatte sich jedoch an diesem Abend plötzlich in berechnende Schlauheit verwandelt.

Mona ging zur Türe und rief ihm zu, hereinzukommen; der Bursche wollte jedoch nicht. Er müsse draußen mit ihr sprechen, und so ging sie denn zu ihm hinaus.

Er zitterte sichtlich.

»Was habt Ihr?« fragte sie.

»Fräulein Mona,« sagte Davy mit tief bewegter Stimme, »'s ist wahr, so gewiß wie ein Gott im Himmel lebt.«

»Was ist wahr?« fragte sie.

»Daß er am Leben ist – die alte Kerry hat ganz recht – er ist am Leben und zurückgekehrt.«

Mona blickte ihm bei dem durch das Fenster kommenden, gedämpften Licht ins Gesicht. Seine gewöhnlich schläfrigen und ausdruckslosen Augen durchglühte ein fremdes Feuer. Sie legte eine Hand auf den Türpfeiler und sagte mit verhaltenem Atem: »Davy, erinnert Euch, was die Männer vor langen Jahren schon sagten – daß sie ihn im Schnee liegend gefunden hätten.«

»Er ist aber am Leben, sage ich Euch – ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»Wo?«

»Ich ging heute morgen nach Patrick, um den Priester dort ankommen zu sehen – ist aber überhaupt kein Priester – 's ist – 's ist – 's ist er

Mona atmete hörbar.

»Bedenkt, was Ihr sagt, Davy. Wenn es nicht wahr sein sollte! O, wenn Ihr Euch irren solltet!«

»'s ist wahr, wie Gottes Wort, Fräulein Mona. Ich will es vor dem allmächtigen Gott beschwören.«

»Der Priester sagt Ihr?«

»Ach was, verlaßt Euch auf mich, wenn es gilt, Herrn Dan – ich meine ihn zu erkennen.«

»Ich muß hineingehen, Davy. Gute Nacht und habt Dank – Gute Nacht, und –« ihre zärtlich klagende Stimme sank zu einem Schluchzen herab. »O, was kann es nur alles bedeuten?« fügte sie erregter hinzu.

Davy ging von dannen. Das leise Stöhnen der See klang durch die dunkle Nacht herauf.

 

V.

Der Zufall fügte es, daß nach dem Gottesdienst am nächsten Morgen der Bischof und Thorkell miteinander die Kirche verließen.

»Wir sind nun beide alte Männer, Gilcrist,« sagte Thorkell, »und sollten gute Freundschaft halten.«

»Das ist wahr,« antwortete der Bischof.

»Wir haben beide unsere Söhne verloren und können es einer dem anderen nachfühlen.«

Der Bischof antwortete nicht.

»Wir sind in Wahrheit kinderlose Männer.«

»Mona, Gott segne sie! ist uns verblieben,« erwiderte der Bischof mit sehr weicher Stimme.

»Gewiß, gewiß,« sagte Thorkell, und dann trat ein augenblickliches Schweigen ein.

»Es war teilweise ihre Schuld, daß sie mich verließ – teilweise, sage ich; – meinst du nicht, Gilcrist?« fragte Thorkell unsicher.

»Sie ist eine liebe, reine Seele,« sagte der Bischof.

»Das ist sie.«

Sie gingen ein paar Schritte weiter und an dem Platze vorüber, auf den die Fischer vor sieben Jahren ihre schauerliche Bürde aus der Mooragh niedergelegt hatten. Dann begann Thorkell von neuem und in einer fieberhaften Stimme:

»Weißt du, Gilcrist, ich wache oft des Nachts darüber auf, daß ich ›Ewan! Ewan!‹ rufe.«

Der Bischof antwortete nicht, und Thorkell fragte mit veränderter Stimme, wann der irische Priester Michael erreichen würde.

»Er mag morgen schon kommen,« sagte der Bischof.

Thorkell schauderte.

»Es muß Gottes rächende Hand sein, die uns diesen entsetzlichen Fluch gesandt hat.«

»Es ist eine Beleidigung gegen Gott, Derartiges von Ihm zu sagen,« erwiderte der Bischof. »Er will uns einfach zur Buße rufen.«

Es entstand eine zweite Pause, und dann erkundigte sich Thorkell, wie ein Mensch, der vielleicht ein wenig höhere Zinsen als recht und billig sei, sich hätte zahlen lassen, sein Unrecht wieder gut machen könne?

»Indem er das, was er zuviel genommen hat, wieder zurückerstattet,« war die schnelle Antwort des Bischofs.

»Das ist aber oft unmöglich, Gilcrist.«

»Wenn er die Witwe beraubt hat und sie unterdessen gestorben ist, mag er es an ihren Waisen wieder gutmachen.«

»Es ist unmöglich, Gilcrist, ich sage dir, es ist unmöglich – unmöglich.«

Als sie das Haus betraten, fragte Thorkell, ob an dem Gerücht, daß die Brunnen behext wären, irgend etwas Wahres sei.

»So etwas zu glauben, heißt, unser Vertrauen auf Gott und Seine väterliche Fürsorge aufgeben,« sagte der Bischof.

»Ich muß aber doch sagen, Bruder, es ereignen sich ganz wunderbare Dinge. Ich selbst habe Prophezeiungen sich auf das merkwürdigste erfüllen sehen.«

»Aberglaube bedeutet, sich von Gott, zu dem man gerade in der Zeit der Heimsuchung und Not hilfesuchend fliehen sollte, abwenden,« antwortete der Bischof.

»Wahr – sehr wahr – ich verachte ihn; und doch ist er eine Art von Glaube, nicht wahr, Gilcrist?«

»So behaupten die weisen Leute – die ebenfalls in dem Affen eine Art von Menschen sehen.«

 

VI.

Drei Tage darauf verbreitete sich die Nachricht, daß der sehnlichst Erwartete sich Michael nähere, und viele gingen aus ihm entgegen. Er war ein stattlicher Mann, groß und schlank, knochig und sehnig. Seine Kleidung war die Livree der Armut: ein grauer, formloser, sackähnlicher, bis auf die Knie reichender Rock, Sandalen von ungegerbtem Leder mit offnen Zwickeln an den Füßen und eine, halb Helm, halb Kapuze bildende Tuchmütze auf dem Kopf. Seine Wangen waren glatt rasiert und stark gebräunt. Der Ausdruck seines Gesichtes war ein seltsames Gemisch von Kraft und Weiche. Seine wenigen Bewegungen waren ruhig und sanft, und sein gemessener Gang war der rhythmische Schritt eines Mannes, der in lang verlebter Einsamkeit gelernt hat, die Wege der Welt allein zu durchwandeln. Er sprach wenig und antwortete kaum auf die an ihn gerichteten Fragen. »Ja, ich scheine den frommen Mann schon einmal im Traum gesehen zu haben,« sagte der eine; und ein anderer sagte, »ja« und noch ein anderer lachte dazu.

Sechs Stunden nach seinem Kommen hatte er die ganze Parochie in Tätigkeit gesetzt. Die Hälfte der Männer sandte er in die Berge, um Ginster zu schneiden und denselben auf den Curraghs in zehn Fuß hohe, mit aus Stroh geflochtenen Schaftrensen umwundene Haufen zu setzen. Die andere Hälfte schickte er aus, um Gräben in den marschigen Plätzen zu graben. Die Frauen ließ er in jedem mit einer Schornsteinröhre versehenen Zimmer ein Torffeuer anzünden, und nachdem der Abend herabgesunken war, steckte er auf allen offenen Plätzen rings um die Häuser, in denen die Krankheit ausgebrochen war, allmächtige Feuer aus Ginster, Torf, vertrockneten Blättern und Seetang an. Er schien weder der Ruhe noch der Nahrung zu bedürfen. Von Haus zu Haus, von Graben zu Graben, von Feuer zu Feuer schritt er mit kräftigem Schritt. Und wie ein Hund folgte ihm, ohne durch Wort oder Blick beachtet zu werden, der Bursche Davy Fähle.

Viele der in ihrer Angst auf die Berge geflüchteten Leute kehrten nach seinem Kommen in ihre Häuser zurück; andere jedoch, hauptsächlich Gatten und Väter blieben, ihrer Frauen und Kinder uneingedenk, im Gebirge. Als der Priester hiervon Kenntnis erhalten hatte, ging er selbst in die Berge und hielt den Männern, nachdem er sie in ihren Schlupfwinkeln überrascht hatte, ihre Feigheit in so beschämender Weise vor, daß sie ihm folgsamer und geduldiger als Schafe hinabfolgten. Als der Exnachtwächter »Billy bei Nacht« während seines prophetischen Rundganges wieder auf den Curraghs erschien, machte der Fremde dem heftigen Klagelied stillschweigend dadurch ein Ende, daß er den Quäker-Propheten bei Rock und Kragen erfaßte und ihn der Länge nach in einen der an den feuchtesten Stellen neu gegrabenen Abzugsgräben warf.

Die Herzensweiche dieses schweigsamen Mannes jedoch kam seiner Kraft vollkommen gleich. Wenn im Fieberwahnsinn die Kranken ihre Decken abzuwerfen und von ihrem Lager sich zu erheben und aus der sie umgebenden Hitze in eine kühlere Atmosphäre zu fliehen versuchten, wußten seine mächtigen, harten Hände sie mit der größten Zartheit zurückzuhalten.

Ehe er fünf Tage in Michael und auf den Curraghs gewesen war, begann die Krankheit abzunehmen. Der Todesfälle wurden weniger, und einige der von der Krankheit Befallenen genasen wieder. Die Leute fingen an, ihn mit Fragen zu belästigen und ihn mit ihren wohlgemeinten Dankbarkeitsbezeugungen zu überhäufen. Auf ihre Fragen gab er wenig Antwort, und von ihren Dankesäußerungen nahm er keine Notiz, sondern wandte sich ab und ging von dannen.

Sie erzählten ihm, daß ihr guter, alter Engel von einem Bischof, der nun schon recht schwach sei, seine Verwunderung ausgesprochen hätte, daß er ihn noch nicht besucht habe. Hierauf lautete seine kurze Antwort, daß er, ehe er die Parochie verließe, nach Bischofs-Hof gehen würde.

Sie erzählten ihm ebenfalls, daß Fräulein Mona, die Tochter des früheren Deemsters, Gott verdamm' ihn, überall nach ihm gesucht habe. Bei diesen Worten überflog ein Zittern seine Lippen und sank ihm das Haupt auf die Brust.

»Des guten Mannes Gesicht plagt mich fürchterlich,« sagte der alte Bill der Tölpel. »Manchmal scheint es mir bekannt und manchmal wieder nicht.«

 

VII.

Nur noch einen Tag blieb der Fremde in Michael, diese kurzen Stunden brachten aber die wunderbarsten Ereignisse mit sich. Vor sieben Uhr schon sank die Nacht herab. In den Bergen wurde es finster, und hinter den Klippen lag düster die See, auf den Curraghs jedoch leuchteten die rings um die von der Krankheit befallenen Häuser angezündeten Feuer.

In einem dieser Häuser, dem Heim von Jabez Gahn, stand an der Bettseite eines kranken Weibes, des Schneiders Frau, umgeben von besorgten Gesichtern, der Fremde. Der ihm überallhin folgende Davy Fähl lehnte gegen den Türpfosten.

Während der Fremde die schweißtriefende Frau in heiße Decken hüllte, erschienen die Abgesandten anderer Erkrankten, um ihn anzuflehen, mit ihnen zu kommen. Der erste war ein alter Mann, der ihm von seiner Enkelin, die sich denselben Tag erst gelegt hatte, und die die letzte seiner Angehörigen sei, die das Schweißfieber verschont hätte, erzählte. Die nächste war eine Frau, die ihm vorklagte, daß ihr Mann, der erst gestern im Boot ausgefahren sei, ihr über Nacht krank ins Haus gebracht worden wäre. Allen hörte er zu und antwortete mit ruhiger Stimme: »Ich werde kommen.«

Als einer der letzten stürzte ein junger Bursche ins Zimmer und rief: »Der Deemster ist erkrankt. Er ruft nach Euch, Sir. Er hat mich eiligen Laufes hergeschickt, um Euch zu holen.«

Der Fremde hörte ebenso wie bei den andern zu und schien einen kurzen Moment unschlüssig, denn man konnte seine Lippen zittern und sich fest zusammenpressen sehen. Dann aber antwortete er so kurz wie immer und mit derselben ruhigen Stimme: »Ich werde kommen.«

Der Mann rannte mit seiner Antwort zurück, kam aber gleich darauf wieder und rief, gänzlich außer Atem: »Er redet irre und ist ganz von Sinnen, Sir, und schreit unaufhörlich, daß er Euch aufsuchen müsse, wenn Ihr nicht zu ihm kommen wolltet.«

»Ich werde Euch begleiten,« sagte der Fremde und verließ ohne Aufenthalt mit dem Boten das Haus, von Davy Fähl in kurzer Entfernung gefolgt.

 

VIII.

Durch die Dunkelheit jener Nacht konnte man ein Mädchen, jung und schön, wie eine Nonne in Mantel und Kapuze gehüllt, auf den Curraghs, wo die angezündeten Feuer zeigten, daß die Krankheit noch wütete, von Haus zu Haus schreiten sehen. Es war Mona. Diese letzten drei Tage war sie, teilweise um die Kranken zu pflegen, teilweise in der Hoffnung, dem fremden Mann, der zu ihrer Heilung gekommen war, zu begegnen, in ihnen aus und ein gegangen. Und stets, trotzdem sie oft nur um wenige Augenblicke zu spät oder zu früh gewesen war, hatte sie ihn verfehlt.

Doch immer noch ging sie von einem Haus ins andere und schaute, in dem Gedanken, daß sie ihm plötzlich gegenüberstehen möchte, bei ihrem jedesmaligen Eintritt in eine neue Tür sich halb furchtsam um.

So betrat sie das Haus, in dem dem Fremden ihres Vaters Botschaft zugegangen war, fast denselben Moment, als er es verließ. Die drei Männer waren in der Dunkelheit an ihr vorübergeschritten.

Jabez, der Schneider, saß wimmernd am Herd und erzählte ihr, der Priester sei dieselbe Minute nach Ballamona aufgebrochen, wo der frühere Deemster – ob sie es noch nicht wüßte? – sich gerade am Schweißfieber gelegt habe.

Ihr zartes Gesicht erbleichte, und nach einer kurzen Pause wandte sie sich in der Absicht, den Männern zu folgen, um. Dann trat sie jedoch an den Herd zurück und fragte, ob es dem Fremden gesagt worden wäre, daß der Bischof ihn zu sehen wünsche. Jabez antwortete bejahend, und daß der Priester gesagt hätte, er würde, ehe er die Parochie verließe, nach Bischofs-Hof hinaufgehen.

Eine andere Frage drängte sich ihr auf die Lippen, ohne jedoch über dieselben hinüber zu wollen. Schließlich fragte sie, wie der Fremde äußerlich wohl aussähe?

»O, groß und schlank und kerzengerade,« sagte Jabez.

Und Bill der Tölpel, der als ein Verwandter von Jabezs Frau am anderen Ende des Herdes saß, sagte: »Ja, und sehr ruhig und furchtbar feierlich.«

»Ah, ein merkwürdiger Mann, merkwürdig,« sagte Jabez, noch immer wimmernd. »Und wo er sich nur zeigt, läßt der Schweiß im Umsehen nach.«

»Wie ich schon gesagt habe,« fiel Bill der Tölpel ein, »des guten Mannes Gesicht quält mich fürchterlich. Ich kann mich nicht besinnen, wo ich es früher schon mal gesehen habe.«

Monas Lippen bebten bei diesen Worten, und sie schien etwas sagen zu wollen, besann sich jedoch und schwieg.

»Und stark ist er!« sagte Jabez. »Ich habe nur einen einzigen Mann auf der Insel gekannt, der halb seine Kraft in den Armen hatte.«

Monas bleiches Gesicht überflog ein sichtbares Zucken, und sie lauschte gespannt.

»Wen meint Ihr?« fragte Bill der Tölpel.

Auf diese Frage hin herrschte ein kurzes Schweigen zwischen den Männern. Dann holten beide tief Atem, spuckten aus, blickten erst bedeutungsvoll zu Mona empor und dann sich gegenseitig ins Gesicht.

» Ihn,« sagte Jabez in einem leisen Flüsterton hinter seiner vorgehaltenen Hand.

» Ihn

Bill der Tölpel richtete seinen gebeugten Rücken straff empor, öffnete seine tränenden Augen zu ihrer ganzen Weite, blies seine verschrumpften Backen auf und stieß einen langen, leisen Flötenton aus.

»Allmächtiger Gott!«

Einen Augenblick schaute Jabez dem alten Bettler unverwandt in das Gesicht, und dann richtete auch er sich auf seinem Stuhle auf –

»Gott steh' uns bei!«

Monas Herz machte einen gewaltigen Sprung. Die Ungewißheit raubte ihr fast die Besinnung, und ihr war zumute, als ob sie aufschreien müsse.

 

IX.

Noch in derselben Woche, in der der alte Thorkell sich mit dem Bischof über das Gerücht der behexten Brunnen unterhalten hatte, artete seine Furcht vor der Krankheit zu einer Art Wahnsinn aus. Er ging nicht mehr zur Kirche, sondern schloß sich in seinem Hause ab. Tag und Nacht konnte man seinen rastlosen Tritt von Zimmer zu Zimmer, von Flur zu Flur schreiten hören. Er aß wenig, und seine Angst vor dem Wasser aus den vergifteten Brunnen war so groß, daß er drei Tage lang überhaupt keines trank. Endlich ging er halb verschmachtet die Dhoo-Schlucht hinauf, um seinen Durst aus einem Bach zu stillen, zu dem er sich auf Händen und Füßen herniederlassen, und aus dem er das Wasser wie ein Hund auflecken mußte. Beständig schien er Gebete vor sich hinzumurmeln, und sowie er nur eine Kirchenglocke, bei welcher Gelegenheit es auch immer sein mochte, läuten hörte, fiel er laut betend auf die Knie. Er verbot den Dienstboten, ihm irgend welche Todesnachrichten mitzuteilen, dagegen aber behorchte und belauschte er ihre Unterhaltung an den Türen. Während der Nacht blickte er aus seinem Vorderfenster hinaus, um die auf den Curraghs rings um die von der Krankheit befallenen Häuser angezündeten Feuer zu beobachten. Stets wandte er sich mit bitteren Worten von ihrem Anblick ab. Ein solches Gebaren sei nichts als Teufelsspiel; »eine Verhöhnung Gottes, der die Krankheit geschickt habe, um Sich an den schuldbeladenen Leuten der Insel zu rächen,« versicherte er Jarvis Kerrisch ein über das andere Mal, und Jarvis antwortete ihm höhnisch, und dann widersprach Thorkell gereizt. Schließlich kam es zu heftigen Worten zwischen beiden, und Jarvis ließ den alten Mann allein.

Eines Morgens rief Thorkell nach Christopher und erhielt die Antwort, dieser habe seine kranke Frau gepflegt, die Blinde sei nun jedoch gestorben, und Christopher mit ihrem Begräbnis beschäftigt. Thorkells Entsetzen beim Empfang dieser Nachricht kannte keine Grenzen. Die ganze Nacht hatte er sich eingeredet, er wolle, trotzdem er die Gabe der Hellseherin verlache, Kerry doch einmal auf die Probe stellen und hören, ob ihre Anmaßung so weit ginge, ihm voraussagen zu wollen, ob er die Krankheit überleben würde. Nun, es schadete nichts, nein, um so besser, wenn das Weib tot wäre!

Später am selben Tage erinnerte sich Thorkell, daß irgendwo im Gebirge ein alter Bauer lebe, der ein Hellseher und ein Barde sei. Er wollte hinaufgehen und sich den alten Schwindler einmal ansehen. Ja, er wollte sich einmal an dem die Religion nachäffenden Aberglauben ergötzen. Thorkell machte sich auf den Weg und fand den Sänger hoch oben über dem Scherragh Vane in einer einsamen Hütte. Der alte Mann saß mit einem schwarzen, unter dem Kinn zugeknoteten Schal um das Gesicht gewunden in einer Ecke des weiten Kamins. Er war über achtzig Jahre, und sein Gesicht ein so altes, wie Thorkell nur je eines gesehen hatte. Auf seinen Knien hielt er ein kleines Kind, und zwei oder drei kleine Knaben spielten zu seinen Füßen. Eine geschäftige, mittelalterliche Frau rührte das Torffeuer auf und setzte den Kessel auf den Herdring. Es war die Frau des alten Mannes, und die junge Brut waren seine Kinder.

Thorkell begann von den alten Volksliedern zu sprechen und sagte, er sei gekommen, um sich einige derselben vorsingen zu lassen. Des alten Mannes Augen leuchteten auf. Er hatte ein Gedicht über die Krankheit geschrieben und begann, nachdem er verschiedene mit Daumenabdrücken und Fettflecken beschmutzte Papierrollen aus einer Schale vom Kaminsims heruntergelangt hatte, aus einer derselben ihm vorzulesen. Thorkell versuchte zuzuhören. Das Gedicht war die Wiedergabe eines Traumes. Dem Träumer hatte geträumt, er hätte eine gefüllte Kirche betreten und dem Gebet des auf der Kanzel stehenden Geistlichen gelauscht, jedoch nicht einmal während desselben den Namen Gottes erwähnen hören. Schließlich sei es ihm klar geworden, daß er sich zwischen einer Gemeinde zur Hölle verdammter Toter befände, die alle am Schweißfieber gestorben wären. An Warnungen hätte es den Verdammten in ihrem weltlichen Leben von frommen Männern und Frauen nicht gefehlt. Nach Absingung eines trübseligen Psalmes wären sie aufgebrochen, und dabei hätte der Träumer einige Gesichter wiedererkannt, deren er sich aus ihrer irdischen Laufbahn erinnerte. Einer sei darunter gewesen, der den Tod seines eigenen Sohnes verursacht hätte, und der nun an unstillbarem Durst dafür litte. Diesem unglücklichen Manne hätte der Träumer eine Schale mit Milch und Wasser geboten. Trotz aller Anstrengung wäre es dem Verdammten jedoch nicht gelungen, dieselbe an die brennenden Lippen zu heben.

Zuerst hörte Thorkell mit dem abwesenden Geist eines Mannes zu, der etwas Besseres zu hören erwartet hat, dann aber mit fieberhaftem Interesse. Der Himmel hatte sich, seit er das Haus betreten, verfinstert, und während der alte Barde mit seiner singenden Stimme das Gedicht vortrug und die Kinder um seine Füße herum lärmten, schlug ein schwerer Regenschauer gegen die Fensterscheiben.

Die Ballade endete in einem grausamen Knittelvers, der die Sünder vor ihrem schlechten Lebenswandel warnte.

»O, Sünder, höret mein Gebet,
Gedenkt der Höll', eh' es zu spät;
Wenn ird'sche Lust zu füllen weiß
Euer Herz, bedenkt, die Höll' ist heiß
Und um die Furcht noch zu erhöh'n,
Laßt Eurem Sinn es nie entgehn,
Erinnert Euch, daß Höllenqual
Der Sünder wartet allzumal!«

Mit einer wiegenden Bewegung begleitete der alte Barde seine kunstlosen Verse über die Verdammung. Thorkell sprang, einen verächtlichen Ausruf ausstoßend, von seinem Stuhle auf. Welch ein Wahnsinn war dies? Wenn es nach ihm ginge, würden alle abergläubischen Leute in das Schloßgefängnis eingelocht werden.

Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte Thorkell Jarvis Kerrisch, er habe drei Nächte hintereinander einen und denselben und zwar einen entsetzlichen Traum geträumt. Jarvis lachte ihm ins Angesicht und sagte, er sei ein kindischer alter Mann. Thorkell antwortete ihm heftig, und beide gingen, ohne das Frühstück berührt zu haben, auseinander. Gegen Mittag kam es Thorkell vor, als ob er sich fieberhaft fühle, und er ließ Jarvis zu sich bitten. Jarvis jedoch war bei der Toilette und konnte während derselben nicht gestört werden. Um fünf Uhr am selben Tage schwitzte Thorkell aus allen Poren und jammerte mit lauter Stimme, daß er von der Krankheit angesteckt worden sei. Gegen sieben Uhr befahl er Juan Caine, dem jungen Burschen, der Christophers Stelle übernommen hatte – den römisch-katholischen Priester, Vater Dalby, zu holen.

Als der Fremde kam, öffnete der junge Bursche ihm die Türe und flüsterte ihm zu, sein alter Herr habe den Verstand verloren. »Er hat diese letzten zwei Stunden keine klare Minute gehabt,« sagte er, während er den Fremden nach Thorkells Schlafzimmer führte. Als er dabei in einen falschen Korridor einbiegen wollte, zeigte der Fremde auf die richtige Stubentüre hin.

Thorkell saß aufrecht in seinem Bette. Er hatte sich seiner Kleider nicht entledigt, sein Rock jedoch, ein langer, blauer Schnürrock, und auch seine lange, gelbe Weste waren aufgeknöpft. Seine Perücke hing von der Spitze eines hochlehnigen Stuhles herab, und über seinen kahlen Kopf war ein Fetzen roten Flanells gebunden. Seine mit langen Haaren bewachsenen und mit hervorquellenden Adern durchzogenen Hände krochen wie Taschenkrebse über seine Bettdecke weg. Seine Augen waren weit geöffnet, und als er des Fremden ansichtig wurde, machte er einen Versuch, sich aus seinem Bett zu erheben.

»Ich bin nicht krank,« sagte er. »Es ist Unsinn, zu denken, daß mich die Krankheit befallen haben sollte. Ich habe Euch nur rufen lassen, um Euch etwas mitzuteilen, das Ihr wissen solltet.«

Dann rief er dem jungen Burschen zu, ihm Wasser zu bringen.

»Juan, Wasser!« rief er. »Juan, hört Ihr nicht, mehr Wasser!«

Er wandte sich an den Fremden.

»Es ist wahr, ich habe beständig Durst; ist das aber etwa ein Beweis, daß ich von der Krankheit befallen bin? Juan, schnell – Wasser!«

Der junge Bursche brachte ein Maß kalten Wassers, und Thorkell griff begierig nach demselben, während er jedoch seinen Hals und seine glühenden, bebenden Lippen zum Trinken vorbog, und seine belegte Zunge ausstreckte, zuckte er plötzlich zurück und fragte: »Ist es aus dem Brunnen?«

Der Fremde nahm ihm das Maß aus der Hand und öffnete seine steifen Finger mit seinen eigenen starken, knochigen Händen.

»Macht das Wasser heiß,« befahl er dem Burschen.

Thorkell fiel auf sein Kissen zurück, und der Fetzen roten Flanells rutschte von seinem kahlen Kopf herab. Dann richtete er sich wieder auf einem Ellenbogen auf und begann von neuem, von der Krankheit zu sprechen. »Ihr seid im Irrtum,« sagte er. »Sie ist unheilbar. Es ist die von Gott an den sündigen Menschen dieser Insel geübte Rache. Soll ich Euch sagen, für welches Vergehen? Für ihren Aberglauben. Aberglaube äfft die Religion nach. Er ist eine Schmähung Gottes. Juan! Juan, schnell, helft mir aus diesem Rock heraus und aus den Bettüchern. Weshalb sind es so viele? Ist es wahr, Sir – Vater, ist es wahr, Vater? Ich bin erhitzt, aber was beweist das? Wasser! Juan, mehr Wasser – Wasser aus der Schlucht, Juan!«

Der Fremde drückte Thorkell sanft wieder zurück und wickelte ihn gegen alle Luft geschützt fest in die Bettdecken ein.

»Wie ich sage, es ist Aberglaube, Sir,« begann Thorkell von neuem. »Ich würde ihn gesetzlich unterdrücken. Er ist der Fluch dieser Insel. Was tun diese vierundzwanzig Keys Unterrichter. überhaupt, daß sie ihn nicht ausrotten? Und die Geistlichkeit – um was streitet sie sich jetzt herum, daß sie ihn nicht mit Stumpf und Stiel ausreißt? Ich will Euch sagen, wie es sich verhält, Sir. Ein Mann begeht irgend ein Unrecht, und ein altes Weib niest darauf, und sofort hält er sich für verflucht und ist fest überzeugt, daß das, was ihm geweissagt ist, sich erfüllen muß. Und es erfüllt sich. Weshalb? Nun, weil der Mann selbst mit seiner verkehrten, zitternden Angst die Erfüllung herbeiführt. Er selbst führt sie herbei – so ist es! Und darauf beniest es jedes alte Weib der Insel von neuem.«

Thorkell brach bei diesen Worten in ein lautes, tolles, gräßliches Lachen aus. Jarvis Kerrisch hatte während seines Wortstromes das Zimmer betreten. Der Fremde erhob seine Augen nicht zu ihm, Jarvis aber musterte ihn aufmerksam.

Nachdem Thorkells grausiges Lachen verstummt war, wandte er sich mit der Frage an Jarvis, ob er nicht recht habe, daß Aberglaube der Fluch der Insel sei, und ob er nicht gesetzlich unterdrückt werden müsse. Jarvis verzog statt aller Antwort spöttisch seine Lippen, diese Art der Verachtungsäußerung jedoch war an dem halbblinden alten Thorkell verloren.

»Sind wir nicht oft genug dahin übereingekommen?« fragte ihn Thorkell von neuem.

»Wie ebenso darüber, daß Ihr selbst der abergläubischste aller lebenden Menschen seid,« sagte Jarvis langsam und beißenden Tones.

»Was? was?« rief Thorkell.

Der Fremde erhob sein Gesicht und blickte Jarvis fest in die Augen. » Ihr,« sagte er ruhig, »habt freilich allen Grund, dies zu behaupten.«

Jarvis errötete, wandte sich ab, ging an die Türe, blickte auf den Fremden zurück und verließ das Zimmer.

Thorkell lag stöhnend auf seinem Kissen. »Ich bin gänzlich vereinsamt,« sagte er und begann zu weinen.

Der Fremde wartete, bis der hysterische Anfall vorüber war und sagte dann: »Wo ist Eure Tochter?«

Seine roten Augen niederschlagend, antwortete Thorkell nur durch einen Seufzer.

»Laßt sie holen.«

»Ja, das will ich; Juan, lauft nach Bischofs-Hof. Juan, hört, lauft ganz schnell und holt Fräulein Mona. Sagt ihr, ihr Vater sei erkrankt.«

Während Thorkell diesen Befehl erteilte, war Jarvis Kerrisch in das Zimmer zurückgetreten.

»Nein!« sagte Jarvis, die Hand gegen den jungen Burschen hin ausstreckend.

»Nein?« rief Thorkell.

»Wenn dies Haus mir gehört, will ich auch Herr in demselben sein,« sagte Jarvis.

»Herr! Euer Haus! Eures!« rief Thorkell, und dann erging er sich in einer Flut hysterischer Flüche. »Bastard, ich gab Euch alles! Wäre es nicht um meinetwillen, würdet Ihr heute auf der Straße – nein, auf dem Misthaufen liegen!«

»Eure Wut nützt Euch nichts,« sagte Jarvis, sich zur Ruhe zwingend. »Fräulein Mona wird dies Haus nicht wieder betreten.«

Jarvis stellte sich mit dem Rücken gegen die Türe. Darauf trat der Fremde an ihn heran, legte eine seiner machtvollen Hände auf seinen Arm und zog ihn beiseite. »Geht und holt Fräulein Mona,« sagte er zu dem jungen Burschen. »Klopft bei Eurer Rückkehr an die Türe, und ich werde Euch öffnen.«

Der junge Bursche gehorchte dem Befehl. Jarvis blieb einen Augenblick, dem Fremden unsicher ins Angesicht blickend, stehen. Dann verließ er das Zimmer wieder.

Thorkell lag wimmernd auf den Kissen. »Es ist wahr,« sagte er, »obgleich ich allen Aberglauben hasse und verachte, bin ich ihm doch einmal – einmal nur zum Opfer gefallen. Mein Sohn Ewan wurde von Dan, dem Sohne meines Bruders, ermordet. Sie liebten sich gegenseitig wie David und Jonathan, ich erzählte Ewan jedoch eine Lüge, und sie rangen miteinander, und Ewan wurde mir tot zurückgebracht. Ja, ich sprach die Unwahrheit, ich glaubte sie aber zur Zeit. Ich redete sie mir selbst ein. Ich hörte auf irgend einen alten Weiberklatsch und schenkte ihm Glauben. Und Dan wurde verstoßen, das heißt, schlimmer, schlimmer noch, mit dem kirchlichen Bannfluch belegt. Er ist nun aber tot. Er wurde tot im Schnee gefunden.« Wieder versuchte Thorkell zu lachen, ein verzweifeltes, halb wie ein Schrei klingendes Lachen. »Tot! Sie drohten mir, daß er mich aus meiner Stelle verdrängen würde. Und nun ist er tot vor mir! So viel für ihre Weissagungen! Aber sagt mir – Ihr seid ein Priester – sagt mir, ob diese Sünde mich in die – die Hölle herabziehen wird – aber erinnert Euch, daß ich es für wahr hielt – ja – ich –«

Des Fremden Gesicht zuckte, und sein Atem ging schnell.

»So waret Ihr es also, der alles Unheil heraufbeschwor?« fragte er mit unterdrückter Stimme.

»Ich war es – ich war es –«

Der Fremde hatte plötzlich über das Bett hinübergelangt und Thorkell bei den Schultern erfaßt. Im nächsten Augenblick löste er seinen harten Griff jedoch wieder und stand hochaufgerichtet und mit einem ebenso ruhigen Gesicht als vorher an der Bettseite. Und Thorkell fuhr plappernd fort:

»Diese letzten drei Nächte hat mich ein entsetzlicher Traum gequält. Soll ich ihn Euch erzählen? Soll ich? Es war mir, als ob Dan, meines Bruders Sohn, aus seinem Grab wieder erstanden und an meine Bettseite getreten wäre und mir ins Gesicht blickte. Dann glaubte ich einen Schrei auszustoßen und darauf zu sterben; und der erste, der mir in der andern Welt entgegentrat, war mein eigener Sohn Ewan, und er blickte mir ebenfalls ins Gesicht und sagte, ich sei für alle Ewigkeit verflucht. Aber sagt mir, glaubt Ihr nicht, daß es nur ein Traum war? Vater! Vater! Hört Ihr mich, sagt mir, daß –«

Thorkell richtete sich, den Rock des Fremden packend, an demselben auf.

Der Fremde drückte ihn sanft wieder nieder.

»Liegt still! Liegt still – Ihr ebenfalls habt viel gelitten,« sagte er. »Liegt still – Gott ist barmherzig.«

Gerade den Moment betrat Jarvis Kerrisch in höchster Erregung das Zimmer wieder. »Nun weiß ich, wer dieser Mann ist,« rief er, auf den Fremden weisend.

»Pater Dalby,« sagte Thorkell.

»Pah! – es ist Dan Mylrea

Thorkell richtete sich steif auf seinen Ellenbogen empor und blickte, sein Gesicht dem des Fremden ganz nahe bringend, diesem starr in die Augen. Dann griff er krampfhaft nach des Fremden Rock, stieß einen lauten Schrei aus und fiel auf das Kissen zurück.

Denselben Augenblick wurde laut an die Haustüre geklopft. Der Fremde ging zum Zimmer hinaus. In der Vorhalle brannte ein Licht. Er verlöschte es und öffnete darauf die Türe. Eine Frauengestalt trat ein, sie war allein und ging in der Dunkelheit, ohne ein Wort an ihn zu richten, an ihm vorüber. Er trat aus dem Hause hinaus und zog die Türe hinter sich zu.

 

X.

Eine Stunde nach dieser entsetzlichen Begegnung, in der seine (nie hinter einer armseligen Verkleidung verborgene) Identität so plötzlich enthüllt worden war, schritt Daniel Mylrea mit Davy Fähl dicht auf seinen Fersen, an den in der Niederung angezündeten Feuern vorüber und Bischofs-Hof zu. Er näherte sich dem alten Hause von der Seeseite aus und betrat seinen Garten durch eine Pforte, die auf einen Fußpfad mündete und an einer Gruppe Ulmen vorüber nach der Bibliothek hinführte. So träge wie Davys Verstand auch war, sagte er sich doch, daß kein Fremder diesen Pfad hätte kennen können.

Der Abendhimmel hatte sich geklärt, und hier und da funkelte ein Stern durch die sich entblätternden Zweige. Ein leichter Windhauch raschelte in den verwelkten Blättern des ersterbenden Sommers. Auf der Wiese vor dem Hause lag schweigend im silbernen Dunst der Abendtau. Aus der Schlucht tönte in Zwischenpausen das Quaken eines Frosches herauf, und von der dahinterliegenden See (anscheinend freilich von dem gegenüberliegenden Gebirge) stieg das Brausen der gegen den Strand schlagenden Wellen in die Luft.

Daniel Mylrea wanderte, mit einem geheimen Schmerz im Herzen, langsam aber festen Schrittes vorwärts. Er überschritt einen durch tausend glückliche Kindheitserinnerungen geheiligten Boden. Auf einige kurze Augenblicke, die schmerzlich und freudig, entsetzlich und köstlich zugleich sein mußten, kehrte er in das Haus, das er nie wieder zu sehen geglaubt hatte, zurück. Er war denen, die ihm über alles teuer waren, und denen auch er – ja, es konnte nicht anders sein – denen auch er trotz allem noch teuer sein mußte, nun schon ganz nahe. »Vater, Vater!« und »Mona, Mona, meine Geliebte, meine Geliebte!« flüsterte er vor sich hin. Jedoch nichts anderes als das öde Rascheln der vertrockneten Blätter antwortete dem verlangenden Schrei seines zerrissenen Herzens.

Er war unter dem Schatten der Ulmen hervor auf die unter dem Sternenhimmel liegende, offene Wiese getreten, als der Klang einer anderen Stimme ihn erreichte. Es war eine singende Kinderstimme. Klar und süß, von einer Innigkeit, wie man sie selten in einer Kinderstimme hört, durchflutete sie die stille Luft.

Daniel Mylrea schritt weiter, bis er das Bibliothekfenster, das durch einen rosigen Schein erhellt war, erreicht hatte. Dort blieb er einen Augenblick stehen und blickte in das Zimmer hinein. Sein Vater, der Bischof, saß in dem mit Messingnägeln verzierten eichenen Stuhl. Er schien älter geworden, und die Denkerlinie auf seiner hohen Stirne hatte sich vertieft. Auf einem Schemel zu seinen Füßen saß, mit einem Ellbogen auf ihre Schürze gestützt, ein kleines Mädchen und sang. Im Kamin vor ihnen glühte ein rotes Feuer. Plötzlich erhob der Bischof sich von seinem Stuhl und ging schwachen Schrittes und gesenkten Hauptes zum Zimmer hinaus.

Darauf schritt Daniel Mylrea um das Haus herum dem Haupteingange zu und klopfte. Die Türe wurde von einer Magd, deren Gesicht ihm unbekannt war, geöffnet. Alle seinen Augen sich bietenden Gegenstände erschienen ihm fremd und doch wieder bekannt. Die Vorhalle war dieselbe, nur erschien sie ihm enger, und als sie den Schall seines Fußtrittes zurückwarf, durchrieselte ihn ein Schauer.

Er fragte nach dem Bischof und wurde wie ein Fremder durch sein Vaterhaus nach der Bibliothek geführt. Das kleine Mädchen war nun allein im Zimmer. Sie stand bei seinem Eintritt von ihrem Schemel auf, näherte sich ihm ohne alle Blödigkeit und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er umfaßte, ihr ins Gesicht blickend, ihre zarten Finger mit den seinen. Es war ein liebliches Kinderantlitz, sanft und schön und oval, mit einem schwachen Anflug von Olivenfarbe auf den bleichen Wangen und mit hellblondem im roten Feuerschein fast weiß schimmerndem und in leichten Locken über die volle, glatte Stirn fallendem Haar.

Er setzte sich nieder und zog sie, ihr noch unausgesetzt ins Angesicht blickend, näher zu sich heran. Dann fragte er sie mit bebender Stimme nach ihrem Namen, und das kleine Mädchen, das weder Furcht noch Verlegenheit zeigte, antwortete, ihr Name sei Alline.

»Sie nennen mich aber Ally,« fügte sie schnell hinzu, »alle nennen sie mich Ally.«

»Alle? Wer?«

»O, alle,« antwortete sie mit echter kindlicher Betonung.

»Deine Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dein – dein – vielleicht – dein –«

Sie schüttelte noch heftiger den Kopf.

»Ich weiß, was Ihr sagen wollt – ich habe aber keinen,« sagte sie.

»Du hast keinen?« wiederholte er.

Des kleinen Mädchens Gesicht wurde plötzlich wunderbar ernst und sie sagte: »Mein Vater starb vor langer, langer, langer Zeit – als ich noch ein ganz kleines Kind war.«

Seine Lippen zitterten, und seine Augen wandten sich von ihrem Antlitz ab.

»Vor so langer, langer Zeit, daß Ihr es Euch gar nicht denken könnt. Und Tante sagt, ich kann mich seiner gar nicht mehr erinnern.«

»Tante?«

»Aber soll ich Euch sagen, was Kerry sagt, woran er starb? – soll ich? – ich muß es Euch aber zuflüstern – und Ihr dürft es Tante ganz gewiß nicht wiedersagen – wollt Ihr das auch nicht? – Tante, die weiß es nämlich nicht – soll ich es Euch sagen?«

Seine bebenden Lippen erbleichten, und mit zitternden Händen zog er den Kopf des kleinen Mädchens zur Seite, daß ihre unschuldigen Augen ihm nicht in das Angesicht blicken möchten.

»Wie alt bist du, Alline, Kind?« fragte er mit gefaßter Stimme.

»O, ich bin sieben – und Tante ist auch sieben; Tante und ich, wir beide sind Zwillinge.«

»Und du kannst singen, nicht wahr? Willst du mir etwas vorsingen?«

»Was soll ich singen?«

»Irgend etwas, Herzblatt – was du gerade eben sangest.«

»Was ich Großpapa vorsang?«

»Großpapa?«

»Kerry sagt, er ist mein Onkel und nicht mein Großpapa. Sie hat aber unrecht,« fügte sie mit einem Blick beleidigter Ehre hinzu, »und wie könnte Kerry das überhaupt wissen? Er ist doch nicht ihr Großpapa, nicht wahr? Kennt Ihr Kerry?« Darauf trübte sich das kleine Gesicht plötzlich. »O, ich vergaß – arme Kerry.«

»Arme Kerry?«

»Ich bin oft zu ihr gegangen und habe sie besucht. Man geht den Weg hinauf und immer weiter und weiter, bis man auf ein paar Kinder zukommt, und dann weiter und weiter, bis man auf einen kleinen Knaben zukommt, und dann ist man da.«

»Willst du mir nicht etwas vorsingen, Herzblatt?«

»Ich werde Großpapas Lied singen.«

»Großpapas?«

»Ja, das was er am liebsten hat.«

Dann, während das mit Grübchen übersäte Gesicht sich glättete, und die unschuldigen Augen sich aufwärts richteten, begann das kleine Mädchen zu singen:

»O, Myle Charaine, wer hat's Gold dir beschert?
Einsam du ließ'st mich zurück.
O, nicht auf der Curragh, tief unter der Erd',
Einsam und verlassen vom Glück.«

Es war das Lieblingslied seiner Jugendtage, und während das kleine Mädchen sang, schien es dem blutbefleckten Manne, der durch einen leichten Nebelschleier in ihr kleines Engelsantlitz schaute, als ob die Stimme ihres toten Vaters aus der ihren spräche. Er hörte ihr zu, solange er es vermochte, dann, als er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte, zog er mit seinen harten Händen ihren blonden Kopf an seine Brust und schluchzte leise: »Kleine Ally, kleine Ally!«

Das kleine Mädchen hielt mit ihrem Gesang inne und blickte verstört in das über sie gebeugte, tränenüberströmte, knochige Angesicht.

Denselben Moment öffnete sich die Zimmertüre, und der Bischof trat geräuschlos ein. Einen Moment blieb er mit verstörtem Gesicht auf der Türschwelle stehen. Dann tat er ein paar langsame Schritte ins Zimmer und sagte:

»Meine Augen sind nicht mehr, was sie zu sein pflegten, Sir, und wie ich sehe, sind wir noch auf den Lichtschein vom Feuer angewiesen, ich vermute aber, Ihr seid der gute Vater Dalby?«

Daniel Mylrea hatte sich erhoben.

»Ich komme von ihm,« antwortete er.

»Er kommt also nicht selbst?«

»Er kann nicht kommen, aber er hat mir einen Auftrag an Euch gegeben.«

»Ihr seid willkommen. Meine Nichte wird bald wieder zurück sein. Nehmt Platz, Sir.«

Daniel Mylrea setzte sich nicht, sondern blieb mit gesenktem Haupte vor seinem Vater stehen. Nach einem Augenblick begann er von neuem:

»Vater Dalby,« sagte er, »ist tot.«

Der Bischof sank in seinen Stuhl.

»Seit wann?« fragte er.

»Er starb vor gut vier Wochen.«

Der Bischof erhob sich wieder.

»Aber er war doch gestern noch auf dieser Insel,« sagte er.

»Er bat mich, Euch zu sagen, daß er seinem Versprechen gemäß nach dieser Insel gekommen, die erste Nacht seines Landens jedoch nach Gottes Ratschluß abgerufen worden sei.«

Der Bischof griff mit einer Hand an seine Stirne.

»Sir,« sagte er, »mein Gehör läßt mich ebenfalls im Stich, denn, wie Ihr seht, bin ich ein alter Mann und habe viel Trübsal meiner Zeit erlebt. Vielleicht, Sir, habe ich Euch nicht recht verstanden.«

Darauf erzählte Daniel Mylrea in wenigen Worten die Geschichte von der Verletzung und vom Tod des Priesters, und daß der Mann, in dessen Hause er gestorben sei, sich erlaubt habe, des Priesters Mission zu erfüllen.

Der Bischof hörte in sichtbarer Bewegung zu und verharrte eine Zeitlang in Schweigen. Dann fragte er mit gebrochener Stimme und beschleunigtem Atem schnell, wer der andere Mann sei. »Denn der gute Mann ist eine Segnung für uns gewesen,« fügte er eifrig hinzu.

Auf diese Frage blieb die Antwort aus, und er fragte noch einmal: »Wer?«

»Ich selbst.«

Der Bischof erhob mit zitternden Fingern seine Hornbrille an die Augen.

»Eure Stimme kommt mir wunderbar bekannt vor,« sagte er. »Wie ist Euer Name?«

Noch immer schwieg der Fremde.

»Nennt mir Euren Namen, Sir – daß ich Gottes Segen für Euch erbitten mag.«

Die Antwort ließ noch immer auf sich warten.

»Ich möchte mich Eurer im Gebet erinnern.«

Darauf erwiderte Daniel Mylrea mit brechender Stimme: »In Euren Gebeten ist mein armer Name nie vergessen worden.«

Der Bischof taumelte einen Schritt zurück.

»Licht!« rief er kaum hörbar, »mehr Licht!«

Er berührte eine auf dem Tische stehende Glocke und sank wortlos in seinen Stuhl. Daniel Mylrea fiel vor seinem Vater auf die Knie.

»Vater,« rief er in inbrünstigem Flüsterton und berührte des Bischofs Hand mit den Lippen.

Die Türe wurde geöffnet, und ein Mädchen trat mit Lichtern herein. Denselben Augenblick verließ Daniel Mylrea schnellen Schrittes das Zimmer.

Die Kleine sprang von ihrem Sitz auf und flog an die Seite des Bischofs.

»Großpapa, Großpapa!« rief sie. »O, was ist Großpapa zugestoßen?«

Dem Bischof war das Haupt auf die Brust gesunken, und er lag ohnmächtig auf seinem Stuhl. Als er seine Augen, zum Bewußtsein zurückkehrend, wieder öffnete, stand Mona, seine Stirne badend und seine Lippen netzend, neben ihm.

»Mein Kind,« sagte er verstört, »jemand ist von den Toten wieder zu uns zurückgekehrt.«

Und Mona, ganz mit den Gedanken, die augenblicklich ihre Seele am meisten ausfüllten, beschäftigt, antwortete:

»Lieber Onkel, mein armer Vater ist vor einer halben Stunde gestorben.«


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