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Es war Tagesanbruch, als Dan am nächsten Morgen seiner nächtlichen Gruft in dem Schacht der unbenutzten Bleimine entrann. Auf seinem Wege nach Ballamona kam er an der von Frau Kerrisch und ihrer Tochter Mally bewohnten kleinen Hütte vorüber. Das Geräusch seiner Fußtritte brachte die alte Frau an die Türe.
»Mit Verlaub, Sir,« rief das alte Weib, »aber welches Weges geht Eure Straße?«
Dan antwortete, daß er nach Ballamona unterwegs sei.
»Doch nicht etwa zum Deemster? Ja doch? O nein! Weshalb nicht, sagt Ihr? Nun, meine Tochter war gestern abend, wo sie leider jetzt jeden Abend sich aufhält, wenn sie mich verlassene, alte Frau unter Furcht und Sorge allein läßt – auf der Straße –, und da haben ihr die betrunkenen Geschöpfe denn in dem Hause, wo sie alle Neuigkeiten wissen, erzählt, daß Ihr klug daran tätet, dem Deemster fürs erste nicht unter die Augen zu treten.«
Dan schenkte der Warnung der Alten kein Gehör, sondern dankte ihr nur und schritt weiter. Als er Ballamona erreichte, erschien ihm der bekannte Wohnort öde und leer. Er klopfte, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann unterbrach ein Fußtritt auf dem Kiesboden die verlorene Stille. Es war Christopher, der bei Dans Anblick die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Darauf erzählte Christopher unter vielen feierlichen Ausrufen langsam, unzusammenhängend, erklärend, entschuldigend Dan alles, was sich zugetragen hatte. Kaum hatte Dan von der am Morgen stattfindenden Untersuchung und von der Tatsache, daß der Deemster mit Jarvis Kerrisch und Mona zum Zeugenverhör in Betreff des Todes von Ewan nach Ramsey gefahren sei, Kenntnis genommen, als er ohne Verzug sein Angesicht derselben Richtung zuwandte.
»Die Sitzung beginnt um acht Uhr, sagt Ihr? Dann lebt wohl, Christopher, und Gott segne Euch,« sagte er, sich eiligst umwendend. Plötzlich jedoch blieb er stehen und trat einen oder zwei Schritte wieder zurück. »Wartet, gebt mir die Hand, alter Freund; wir mögen nie wieder Gelegenheit dazu haben. Lebt wohl!«
Im nächsten Moment schritt er eiligen Fußes den Weg entlang.
Es war ein bedeckter Morgen. Die Nebelwolken krochen langsam, wie finstere, verhüllte Gestalten, mit ihrem langen, weißen Rocksaum die Wiesen abfegend, die Berge hinan. Der Himmel droben war verschwommen und leer, die Wege unter den Füßen feucht und tief. Dan jedoch fühlte nichts von dieser winterlichen Düsterheit, sein befreiter Geist blieb unberührt von ihr. Sein Antlitz schien während des Dahinschreitens sich zu erhellen, und seine Gestalt zu wachsen. Er überlegte, daß die rumpelnde Kutsche mit dem Deemster, seiner Tochter und seinem Bastardsohn darin, ihm schon weit auf dem Wege nach Ramsey voraus sein müsse, und schritt mit neuem Eifer vorwärts.
Es begegneten ihm nur wenige Leute auf dem Wege. Die Häuser schienen wie ausgestorben, nur hier und da spielte ein kleiner Haufen Kinder vor einer Haustüre. Er rief ihnen im Vorübergehen einen fröhlichen Gruß zu und konnte sich dem Eindruck nicht verschließen, daß die Kleinen, so wie sie ihn erkannten, ihr Spiel unterbrachen und sich wie erschreckte Schafe um die Haustüre herum zusammendrängten.
Als er am Fuße des Glen Dhoo das Dorf Ballaugh betrat, kam er auf Corlett Ballafäl zu. Der wichtige Mann riß seine Augen beim Anblick Dans weit auf und erwiderte seinen Gruß nicht; als Dan jedoch einige Schritte entfernt war, wandte er sich, wie von einem plötzlichen Impuls getrieben, um und rief ihm ohne viel Federlesens nach:
»Ihr da, weshalb schlagt Ihr die Straße ein?«
Dan blickte sich, ohne stehen zu bleiben, um, und Corlett Ballafäl lachte nach reiflicherem und mehr zufriedenstellendem Überlegen in sich hinein und sagte, mit der Hand winkend und ohne Dans Antwort abzuwarten, »Schon recht. Nur weiter. Mich geht's ja nichts an.«
Dan hatte die momentan aufflackernde, durch eine Woge der Lieblosigkeit ausgelöschte gute Absicht dem Manne vom Gesicht abgelesen, es fehlte ihm aber an Lust und Zeit zu einer Unterhaltung. An der dumpfen Schenke bei der Brücke, der Schmiede und der gegenüberliegenden Brauerei vorübereilend, betrat er das Dorf selbst. Dort steckten die vor den Haustüren stehenden, schwatzenden Weiber die Köpfe zusammen und blickten ihm flüsternd nach und vergaßen, wie Corlett Ballafäl, seinen Gruß zu erwidern. Seiner neu errungenen Seelenstärke gesellte sich ein Gefühl der Scham bei. Die vorher erduldete Angst und Qual hatte dieser untergeordneten Empfindung keinen Raum gelassen. Von der zerschmetternden Vorstellung seiner Schuld gegen Gott überwältigt, hatte er seine Stellung in den Augen seiner Mitmenschen nicht bedacht. Nun aber wurde sie ihm klar, und er merkte, daß sein Verbrechen bekannt geworden war. Er sah sich als einen gehetzten Menschen, als einen heimat- und freundlosen Erdenwanderer, als einen Mörder, vor dem alle zurückschrecken mußten. Der Kopf sank ihm im Weiterschreiten auf die Brust hinab, seine Augen suchten den Boden, er erhob sein Gesicht nicht zu dem der an ihm vorüberschreitenden Leute und grüßte niemand mehr.
Mit dem fortschreitenden Morgen lüftete sich der Nebel von den Bergen, und ihre kahlen Spitzen hoben sich gegen den Himmel ab. Dan beschleunigte seinen Schritt, und als er Sulby erreichte, hatte derselbe sich fast in Laufen verwandelt. Während er an der Dorfmühle vorüberging, bemerkte er, daß der Müller, der alte Moore, ein vierschrötiger Mann von mittleren Jahren mit starken Kinnbacken, gegen die offene Türe lehnte und ihn beobachtete. Obgleich er seine Augen nicht erhob, entging es ihm nicht, daß Moore eiligst in die Mühle hineinlief und im nächsten Augenblick einer seiner Gesellen herausgestürzt kam.
Nach wenigen Minuten war er an der den Sulbyfluß kreuzenden Brücke angelangt, und dort sah er sich plötzlich von einem Trupp unter Moores Anführerschaft stehender Männer umringt. Sie hatten den Fluß mittels der Furt nahe der Mühle durchwatet, und an seinem südlichen Ufer entlang laufend, gerade den Moment die Brücke erreicht, als Dan dieselbe, von der Straße kommend, überschreiten wollte. Mit schweren drohend erhobenen Stöcken bewaffnet, riefen sie Dan zu, sich ihnen zu überliefern. Dan blieb stehen, blickte ihnen in ihre heißen Gesichter und sagte –
»Ich weiß, was Ihr denkt, Leute, Ihr irrt Euch aber. Ich will nicht davonlaufen, sondern bin auf dem Wege nach Ramsey, nach dem Rathaus.«
Die Männer antworteten mit spöttischem Lachen, und der Müller sagte grinsend, wenn Dan auf dem Wege nach Ramsey sei, müßten sie ihn um das Vergnügen seiner Gesellschaft bitten, nur um ihn sicher anlangen zu sehen.
Dans Auftreten war ein maßvolles. Er sah sich mit ruhigem, aber suchendem Blick rings um. Auf dem entgegengesetzten Ufer des Flusses unterhalb der Brücke stand eine Schmiede. Der Schmied war den Moment gerade damit beschäftigt, einen Reifen um ein Wagenrad zu schlagen, und sein Geselle legte den Hammer nieder und steckte, um dem Vorgang auf der Brücke zuzuschauen und zuzuhören, seine Schürze hoch.
»Leute,« sagte Dan mit ruhiger aber fester und entschlossener Stimme von neuem, »es ist die Wahrheit, ich bin auf dem Wege nach dem Rathause von Ramsey, ich beabsichtige aber allein zu gehen und werde keinem Menschen gestatten, mich als einen Gefangenen dorthin zu führen.«
»Eine glaubwürdige Geschichte,« sagte der Müller, an Dan herantretend und eine Hand auf seinen Arm legend. Im nächsten Moment hatte der Mehlmann seine Hand mit einem Schrei fahren lassen und rollte in seinem weißen Kittel im dicken Schlamm den Weg entlang. Darauf stürmten die übrigen Männer mit erhobenen Knüppeln auf Dan ein, ehe sie sich jedoch ganz klar über ihr Vorgehen geworden waren, hatte Dan einige Schritte zur Seite getan, war mitten durch sie hindurchgestürmt, hatte den Hammer des Schmiedes ergriffen und trat ihnen, denselben über seinen Schultern schwingend, entgegen.
»Nun, Leute,« rief er eben so ruhig wie vorher, »keiner von Euch soll mich nach Ramsey begleiten. Ich muß allein gehen.«
Die Männer waren eiligst zurückgewichen. Dans Muskelkraft war allbekannt, und seine Stellung Furcht einflößend. Sie blieben einen Moment schweigend und mit gesenkten Köpfen stehen; und darauf begannen sie untereinander zu beratschlagen und sich zu fragen, was es sie schließlich anginge, und weshalb sie sich einmischen sollten, und was ihnen die damit zu verdienenden paar Schillinge nützen würden.
Dan ging mit seinem Hammer ungehindert durch ihre Mitte hindurch. Dieser Aufenthalt hatte ihm mehrere Minuten seiner kostbaren Zeit geraubt, der Eifer für sein Vorhaben war durch dies unvorhergesehene Ereignis jedoch durchaus nicht abgekühlt, wenn es ihm auch sein Herz noch schwerer und den düsteren Tag noch düsterer gemacht hatte.
Nahe der Biegung des links nach Ramsey, rechts nach der Sherragh Mühle führenden Weges stand ein strohbedecktes, einstöckiges kleines Haus, dessen Fenster mit der Straße auf gleicher Höhe lag. Es war das Haus eines Flickschusters, Callister mit Namen, eines hageren, dünnen, ältlichen Mannes, der unter dem Fluch einer der Sage nach in seiner Jugend begangenen Missetat dort allein für sich lebte. Dan kannte den armen Kerl. An derartigen menschlichen Ruinen hatte der hochherzige Unband jedoch nie sein Mütchen gekühlt, und wie er jetzt dem Häuschen sich nahte, hörte er den alten Mann eifrig darauf loshämmern. Das Klopfen hielt inne, und Callister erschien an seiner Türe.
»Hauptmann,« stammelte er, »wißt Ihr – wißt Ihr –?« Er versuchte seine Mitteilung in richtige Worte zu kleiden, es gelang ihm aber nicht, und schließlich fuhr es ihm heraus: »Quäl der Raufbold ist vor einer Stunde hier vorübergefahren.«
Dan wußte, was dem armen, verachteten Kerl diese Worte ins Herz gegeben hatte und war tief gerührt. Er wollte jedoch ohne zu sprechen und nur mit einer Handbewegung als Antwort und Gruß vorübergehen, als des Schusters Hund, ein ebenso hager und verhungert aussehendes Geschöpf wie sein Herr aus dem Hause herauskam, aus seinen triefenden Augen zu Dan aufblickte und ihm die Hand zu lecken begann.
Der Schuster stand noch immer vor seiner Türe, mit dem an der Spitze abgenutzten Werkmesser in seiner Hand spielend und vergebens nach einer klareren Ausdrucksweise suchend.
»Das Paketboot segelt heute abend von Ramsey nach Whitehaven, Hauptmann,« sagte er.
Dan winkte nochmals mit der Hand. Sein Herz sank ihm mehr und mehr. Nur von dem Abschaum, dem wahren Auswurf der Menschheit und den stummen Geschöpfen, die ihm die Hand leckten, ward er als ebenbürtig anerkannt. So hatte er selbst alle ihm zuteil gewordene Treue vergeudet, alle Anhänglichkeit verscherzt. In einem Tage war er zu einem verfolgten Menschen herabgesunken. Das zeigte ihm, wie viel die Dankbarkeit und selbst das Mitleid der Welt überhaupt wert ist. Und doch, gemieden oder verfolgt, ob der Finger der Schande auf ihn zeigen, oder die Hand des Hasses sich gegen ihn erheben mochte, er fühlte, wie er es vorher getan hatte, sich durch starke Bande mit seinen Mitmenschen verknüpft. Er sollte sich von ihnen trennen, und war zum letzten Male in ihrer Gemeinschaft, doch konnten sogar ihre kältesten, furchtsamsten oder mißtrauischsten Blicke seinen Entschluß nicht beeinflussen.
Bei jedem Schritt steigerte sich seine Ungeduld. Lezaire und Milntown durcheilte er schnellen Schrittes. Zu laufen wagte er nicht, damit seine Eile ihn nicht verraten, und er sich einem zweiten Hindernis, wie es ihn an der Sulby-Brücke aufgehalten hatte, gegenübersehen sollte. Endlich schritt er die Straßen von Ramsey entlang. Er bemerkte, daß die meisten ihm begegnenden Leute ihn scheu von der Seite ansahen und dann schnell weitereilten. Bald hatte er das Rathaus erreicht. Rund um das Sattel-Wirtshaus fand er Gruppen von Menschen stehen, und die Südseite des durch ein eisernes Geländer abgeschlossenen, freien Platzes um das Rathaus herum war überfüllt. Die Turmuhr auf dem Marktplatz schlug neun. Auf dem Gerüste dieses Turmes hatte vor zwanzig Jahren der Maurer Looney auf die Knie sinkend, den Segen des unten vorüberschreitenden Bischofs erbeten. Die Uhr desselben Turmes schien für den Sohn des Bischofs nun die Stunde des Gerichtes einzuläuten.
Die innerhalb des Geländers stehenden Leute wichen, als Dan sich seinen Weg durch sie hindurch bahnte, zu beiden Seiten vor ihm zurück, und das dumpfe Gemurmel der schwatzenden Stimmen verwandelte sich in tiefes Schweigen. Die der Türe Zunächststehenden verrenkten sich die Hälse um einen Blick in die Gerichtshalle werfen und sehen und horchen zu können. Während Dan einen Augenblick hinter ihnen stehen blieb, konnte er hören, was ihnen von den drinnen befindlichen Leuten zugeflüstert wurde und erfuhr auf diese Weise, was sich bisher zugetragen hatte.
Des Deemsters Verhör hatte nun schon über eine Stunde gewährt. Zuerst hatte die Wirtin der »Drei Beine von Man« geschworen, daß Pastor Ewan am heiligen Abend gegen drei Uhr nachmittags in ihrem Hause nach Herrn Dan Mylrea gefragt habe und nach der unter dem Namen Kinnbackenbucht bekannten Landzunge verwiesen worden sei. Darauf hatte der Schlachter von dem Schlachthof geschworen, daß der Pastor Ewan ihm auf dem Wege zur Bucht vorübergegangen wäre; und die Strandfischer, die die Leiche nach Bischofs-Hof brachten, legten Zeugnis ab, wann (zehn Uhr am Weihnachtsmorgen) und wo (in der Nähe des als Mooragh bekannten Korallengrundes für Heringe) dieselbe ans Land geschwemmt worden sei. Nach diesen hatte Jarvis Kerrisch geschworen, daß er Pastor Ewan eine halbe Stunde, nachdem derselbe Ballamona verlassen habe, gefolgt sei, daß er beim Betreten des nach Orrishead führenden Pfades einen lauten Schrei gehört und bei der Bucht den Fischerjungen Davy Fähl gefunden habe, dessen ganzes Wesen, als er ihn nach Pastor Ewan und seinem Herrn Daniel Mylrea gefragt habe, ein sehr Verdacht erweckendes gewesen sei. Darauf war die Frau des einen Fischers der Ben-my-Chree vernommen worden und hatte ausgesagt, daß das Fischerboot von der Hochflut am heiligen Abend an auf See gewesen sei. Die Frau hatte ihre Aussage schüchtern und verwirrt und sich wiederholend und widersprechend gegeben und war, nachdem der Deemster sie sehr angefahren hatte, in Tränen ausgebrochen. Nachdem sie entlassen war, hatte die Haushälterin vom alten Ballamona, eine ängstliche, verwirrte alte Person, ausgesagt, daß Herr Dan Mylrea seit dem frühen Morgen des heiligen Abends überhaupt das Haus nicht betreten habe. Schließlich hatte der Hafenmeister von Peeltown das Segel, in das die Leiche gewickelt gewesen war, als ein Treib-Jollensegel der Ben-my-Chree erkannt und geschworen, daß der diesen Namen führende Logger an dem vergangenen Abend während der Ebbe mit den Männern Quillasch, Tere, Corkell, Crennell und Davy Fähl, wie auch mit seinem Besitzer Herrn Dan Mylrea an Bord, in den Hafen eingelaufen sei.
Ohne fernere Aussagen abzuwarten und mit Aufbietung seiner ganzen Entschlossenheit drängte sich Dan durch die Türe und in das Rathaus hinein. Und dann zeigte sich ihm, daß doch noch nicht alle Teilnahme in der menschlichen Brust erstorben sei. Kaum waren die Leute in der Gerichtshalle seiner ansichtig geworden, als sofort einer der Anwesenden, um ihn vor den Blicken der in den vorderen Reihen Stehenden zu verstecken, sich vor ihn stellte, während ein anderer ihm auf die Schulter klopfte und einen Weg nach draußen bahnend ihn wie in dringenden Geschäften hinauswinkte.
Dans Entschluß stand jedoch fest, und keine übertünchte Feigheit konnte ihn ins Wanken bringen. Furchtlos und schweigend stand er in der letzten Reihe der Gerichtshalle, halb hinter der Menge verborgen und bemüht, ein ungerührtes Gesicht zu zeigen und seine Aufmerksamkeit dem Fortgang seiner eigenen Untersuchung zuzuwenden. Zuerst war er sich nichts anderes als der in dem Lokal herrschenden Finsternis und des wirren von einem Ende des Tisches ausgehenden Stimmengesummes bewußt. Kurze Zeit stand er betäubt und sogar zitternd da. Plötzlich jedoch ertappte er sich dabei, daß er aufmerksam zuhörte und alle Vorgänge in sich aufnahm.
Das Rathaus war gedrängt voll. Auf der Richterbank saß der Deemster mit spitzem und scharf unter der Richterperücke hervorschauendem Gesicht. Jarvis Kerrisch und Quäl, der Untersuchungsrichter, standen vor ihm am Tisch. Auf dem Tische selbst lag lang auseinander gefaltet ein leinenes Segel. Sechs Männer aus Michael saßen als Geschworene zur Rechten. Dans Augen aber übersahen alle diese Männer und wandten sich, einem unbewußten Instinkt folgend, der Zeugenloge zu, in der mit bleichem, scharf gespanntem Angesicht, fest aufeinander gepreßten Lippen und sichtlich bebenden Nasenflügeln Mona stand. Sie trug einen dunklen Mantel, halb klösterlichen Schnittes mit einer Kapuze daran, die von dem enganschließenden, einer Nonnenbinde ähnlichen Hut zurückfiel. Hoch aufgerichtet stand sie unter dem Kreuzfeuer von zweihundert Augen da, ihre Brust aber atmete schwer, und ihre unbehandschuhte Hand hielt krampfhaft das vor ihr befindliche Eisengitter umspannt.
Im nächsten Moment rief die schrille Stimme des Deemsters Dan zum Bewußtsein zurück, und es wurde ihm klar, daß er seiner eigenen Untersuchung, in der Mona gegen ihn Zeugnis ablegen sollte, beiwohnte.
»Wann saht Ihr Euren Bruder zum letztenmal?«
»Vorgestern nachmittag.«
»Um welche Stunde?«
»Gegen zwei Uhr.«
»Was ging zwischen Euch während dieser Begegnung vor?«
Auf diese Frage erfolgte keine Antwort.
»Teilt den Geschworenen mit, ob vorgestern nachmittag gegen zwei Uhr irgend welche Mißhelligkeiten zwischen Euch und Eurem Bruder vorgekommen sind?«
Es trat eine Pause ein, und dann wurde die Stille durch die schüchtern gesprochene Antwort: »Ja, er war ärgerlich,« unterbrochen.
»Was war die Ursache seines Ärgers?«
Eine zweite Pause entstand, ohne daß eine Antwort darauf erfolgt wäre. Der Deemster wiederholte seine Frage, doch wieder ohne Erfolg.
»Hört zu; auf Eurer Beantwortung dieser Frage muß die Anklage beruhen. Umstände deuten nur zu klar auf ein Verbrechen hin. Sie deuten auf einen Mann als auf den Ausübenden und auf fünf andere als Mitschuldige des Verbrechens hin. Es ist jedoch notwendig, daß die Geschworenen eine Idee von dem ihm zugrunde liegenden Motiv bekommen müssen. Deshalb wiederhole ich meine Frage, was war die Ursache des Streites zwischen Euch und Eurem Bruder?«
Es trat eine tiefe Stille im Gerichtssaal ein; ein düsteres, echoloses Schweigen, wie es einem Sturm voranzugehen pflegt, schien über dem Hause zu schweben. Aller Augen waren auf die Zeugenloge gerichtet.
»Antwortet,« sagte der Deemster mit seitwärts geneigtem Haupt. »Ich erbitte mir eine Antwort – ich verlange sie.«
Darauf erhob die Zeugin ihre großen, sanften, feuchten Augen zu dem Deemster und fragte:
»Ist es der Richter oder der Vater, der eine Antwort verlangt?«
»Der Richter, der Richter,« erwiderte der Deemster nachdrucksvoll: »Väter kennen wir hier nicht.«
Darauf schien die auf Monas Gesicht ruhende Wolke sich zu lüften.
»Wenn es also der Richter ist, der diese Frage stellt, so verweigere ich die Antwort.«
Der Deemster lehnte sich auf seinem Sitz zurück, und es entstand ein leises Gemurmel unter den Leuten im Saal. Dans Atem kam und ging hörbar, seine Fingernägel gruben sich in seine innere Hand, und seine Zähne bissen so scharf auf die Lippen, daß Zähne und Lippen bluteten.
Nach einer sekundenlangen Pause sprach der Deemster von neuem, aber sanfter als zuvor und in einer sehr überredenden Stimme.
»Wenn der Richter nichts über Euch vermag, so antwortet dem Vater,« und darauf wiederholte er seine Frage.
Unter der im Saal herrschenden peinlichen Stille sagte Mona mit zitternder Stimme: »Ein Gerichtssaal ist nicht der Ort, wo ein Vater auf eine derartige Frage Antwort erwarten sollte.«
Darauf verlor der Deemster alle Selbstbeherrschung und schrie in schriller, hoher Stimme, daß er, ob als Vater oder als Richter die Antwort der Zeugin verlange, daß auf diese Antwort hin der Verbrecher angeklagt werden und, wenn schuldig befunden, am Galgen hängen solle.
Den Anwesenden verging bei des Deemsters Worten der Atem, und entsetzt blickten sie auf den Richterstuhl. Sie waren zwar an die gelegentlichen Zornesausbrüche des Deemsters gewöhnt, einen derartigen Wutanfall hatten sie aber nie vorher erlebt. Das düstere Schweigen blieb einige Minuten ununterbrochen, und dann hörte man das unterdrückte Schluchzen der Zeugin.
»Schweigt mit Euerem Gejammere da!« sagte der Deemster. »Wir wissen wem Euere Tränen gelten. Ihr sollt aber doch noch mehr tun als um ihn weinen. Wenn ein einziges Wort von Euch ihn an den Galgen bringen kann, so soll dies Wort noch über Euere Lippen kommen.«
Dan sah und hörte alles. Der dunkle Saal, der Richter, die Geschworenen, die schweigende Menge, alles schien vor seinen Augen zu schwimmen. Einen Augenblick mußte er hart mit sich kämpfen, um die Menge nicht zu durchbrechen und den Deemster von seinem Sitz zu reißen. Den nächsten Augenblick aber hatte er mit völliger Selbstbeherrschung und bemeisterter Wut die Leute vor sich geteilt und schritt dem Richterstuhle zu. So dicht wie die Menge auch war, schien sie vor ihm von selbst auseinander zu weichen, und nur das leise Murmeln vieler unterdrückter Stimmen schlug schwach an sein Ohr. Er war sich bewußt, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, besonders daß Monas Blicke angstvoll und schmerzlich an ihm hingen.
Nie fühlte er sich stärker als in diesem Augenblick. Lange genug hatte er gezögert, zu oft schon sich zurückhalten lassen, nun aber war seine Zeit gekommen. Vor dem Tische stehen bleibend, sagte er mit voller, klarer Stimme: »Ich bin hier, um mich dem Gericht zu stellen. – Ich bekenne mich schuldig.«
Der Deemster blickte erstarrt auf Dan hinab; der Untersuchungsrichter jedoch trat, sich schnell von seinem Erstaunen erholend, mit der Miene eines Gendarmen an Dan heran und legte ihm die Handschellen um die Handgelenke.
Was darauf folgte, war selbst den Zuhörern später unklar. Der Deemster fragte die Geschworenen nach ihrem Richterspruch, und gleich darauf beauftragte er den Schreiber, den Verhaftsbefehl auszustellen.
»Nur für diesen Mann oder für alle sechs?« fragte der Schreiber.
»Für alle sechs,« antwortete der Deemster.
Darauf begann der Gefangene wieder zu sprechen.
»Deemster,« sagte er, »die andern Männer sind unschuldig.«
»Wo sind sie?«
»Wenn sie unschuldig sind, weshalb verstecken sie sich denn?«
»Ich versichere Euch, Deemster, sie sind unschuldig. Ihr einziges Vergehen ist, daß sie treu zu mir gehalten haben.«
»Waren sie dabei, als die Leiche ins Wasser gesenkt wurde?«
Dan antwortete nicht.
»Haben sie sie versenkt?«
Wieder keine Antwort. Der Deemster wandte sich an den Schreiber. »Alle sechs.«
»Deemster,« sagte Dan mit eigensinniger Beharrlichkeit, »weshalb sollte ich Euch die Unwahrheit sagen? Ich bin hierhergekommen, trotzdem ich wie die Männer mich hätte verbergen können.«
»Ihr seid hierhergekommen, Gefangener, nachdem der Arm des Gesetzes Euch ereilt hatte, seine Rache Euch umgarnt und gefangen hielt, nachdem es nutzlos war, noch länger sich zu widersetzen; Ihr seid in dem Gedanken hergekommen, Eure Strafe durch Eure freiwillige Überlieferung abzuschwächen. Ihr habt Euch aber geirrt. Eine freiwillige Auslieferung, wenn die Ergreifung gewiß ist, hat wie ein Geständnis, wenn das Verbrechen nicht geleugnet werden kann, noch nie die Strafe des Schuldigen vermindert. Ebensowenig soll sie es in diesem Falle tun.«
Dann, als der Deemster sich erhob, durchhallte ein Schrei den Raum, ein Schrei, der, sich einem geängsteten Herzen entringend, der Menge eine ganze Geschichte erzählte. Wie mit einem Schlag sahen und verstanden die Leute alles. Sie blickten mit nassem Blick auf die beiden vor ihnen Stehenden, auf Dan und Mona, den Gefangenen und die Zeugin, und aus ihrer Mitte erhob sich ein tiefes, aus trockenen Kehlen kommendes Schluchzen.
»Ich sage Euch, Deemster, Ihr seid im Unrecht, die Männer sind unschuldig,« sagte Dan.
Der Schreiber händigte dem Deemster ein Dokument ein, worauf derselbe eine Feder aufnahm und es unterzeichnete.
»Der Angeklagte ist in Erwartung seines Verhöres der allgemeinen Gefängnis-Ablieferung überwiesen.«
Den nächsten Augenblick war der Deemster verschwunden.