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Der kurze Bericht Daniel Mylreas.
Von ihm selbst geschrieben.
Ich, Daniel Mylrea, der Sohn (Gott verzeihe mir's!) Gilcrist Mylreas, Bischofs von Man – Gnade und Friede seiner heiligengleichen Seele! – setze mich (soweit meine Berechnung mich nicht trügt) um das Jahr 17–, in den Tagen vom zwanzigsten bis dreißigsten September nieder, einen kurzen Bericht gewisser höchst wunderbarer Ereignisse niederzuschreiben, die mich seit dem ersten Tage, da ich dem schweren Gottesurteile gemäß mein Gesicht von der Gemeinschaft der Menschen abwandte, befallen haben. Nicht wie den guten Bunyan – (verzeiht, wenn ich mich mit diesem heiligen Manne in einem Atem nenne –) treibt mich die Hoffnung oder der Gedanke, daß diese Aufzeichnungen den Kindern Gottes des Herrn Güte und Langmut noch mehr veranschaulichen sollen, wenn ich auch allen Grund habe, Seine himmlische Majestät zu preisen, daß Er mich durch das Heilmittel meiner Verbannung zum Teilhaber Seiner Gnade und des Lebens gemacht hat. Einsam sitze ich hier, um niederzuschreiben, was möglicherweise nie ein menschliches Auge lesen wird; in der (vielleicht vergeblichen) Hoffnung jedoch, daß sie, die mir über alle Begriffe teuer ist, von den an mir geschehenen Wundern Kunde erhalten möge, versuche ich während dieser, meiner letzten Tage, mein Gedächtnis aufzufrischen. Denn ich bin der festen Überzeugung, daß Gott mich Seiner Gnade teilhaftig werden lassen und mich bald von dem leiblichen Tode, in dem ich lebe, erlösen wird. Wenn ich diesen Bericht vor meinem Heimgang beenden sollte, und er ihr nach meinem Scheiden je zu Gesicht käme, würde der Gedanke, daß ihre vor langer Zeit emporgeschickten Bitten Erhörung gefunden, und wir beide, obgleich so schmerzlich getrennt, doch in dieser Welt schon vereinten Herzens gelebt haben und täglich und stündlich im Trost des heiligen Geistes gewandelt sind, ihr ein tröstlicher sein. Wenn aber das gnadenreiche Ende kommen sollte, ehe ich meine Aufgabe zum Abschluß bringe, und ihr nur mein verlorener Zustand und nichts von der Gnade, die die Trostlosigkeit desselben so sehr milderte, bekannt werden, und sie nie von den mir zugestoßenen, wunderbaren Ereignissen hören würde, so wäre es ebenfalls gut, weil ihr dadurch manche Träne erspart bliebe.
Es war am 29. Mai, – sieben Jahre und vier Monate, meiner Rechnung nach, vom heutigen Tag rückwärts, daß, als Strafe für mein großes Verbrechen, das schwere, mich für immer von der Gemeinschaft der Menschen ausstoßende Urteil über mich verhängt wurde. Was sich an demselben Tage und während der nächstfolgenden ereignete, dessen erinnere ich mich teilweise mit entsetzlicher Lebhaftigkeit und rufe es andrerseits nur mit Anstrengung und Zweifel aus meiner unklaren und verwirrten Erinnerung zurück. Als ich, den Bergrücken von Slieu Whallin dahinschreitend, wieder zum Bewußtsein kam, umrollte mich der Donner, umzuckten mich die Blitze und umflutete mich der Regen. Ich achtete jedoch nicht darauf, sondern eilte, dem, was sich um mich und über mir zutrug, kaum Beachtung schenkend, weiter und weiter über Gebirgswege und -pfade dahin, bis der lange Tag fast vorüber und die Dunkelheit angebrochen war. Um diese Zeit hatte das Unwetter sich ausgetobt, und nur ein feiner Sprühregen fiel aus einer von Westen dahergetriebenen Wolke herab. Ich selbst befand mich in Ruschen am südlichen Abhang der unter Car-ny-Gree befindlichen Schlucht. Dort warf ich mich, von einer großen Erstarrung und Betäubung des Geistes und Körpers überwältigt, ins Gras. Wie lange ich so dalag, weiß ich nicht, ob nur ein paar Minuten, oder wie es mir damals erschien, fast vierundzwanzig Stunden; das Tageslicht war jedoch noch nicht gänzlich erloschen, als ich, den Kopf von meinen Händen erhebend, eine Herde Schafe unbeweglich, nur hörbar atmend, in einem Halbkreis mich umstehen und in fragendem Schweigen auf mich herabblicken sah. Ich glaube im innersten Herzen gewährte mir diese merkwürdige Gemeinschaft in meiner Trübsal und auf der einsamen Bergseite einigen Trost, ich erhob jedoch die Hand und trieb die Schafe fort, und es kam mir vor, als ob sie im Weglaufen blöken mußten, hören konnte ich jedoch nichts, und so nahm ich an, daß ich unter der Qual des Tages taub geworden sei.
Ich fiel in dieselbe Betäubung wie vorher zurück, und als ich wieder zu mir kam, stand der Mond am Himmel, und ein weißes Licht überflutete den Platz, auf dem ich saß. Es machte sich mir von neuem der Geruch von Schafen bemerkbar, und ich glaubte, die Herde möge zurückgekehrt sein; da ich indes nicht klar sehen konnte, streckte ich meine Hände nach beiden Seiten hin aus und merkte an der, durch ihr plötzliches Auseinanderstieben verursachten Bewegung, daß sie wirklich dort gewesen waren, und daß ich unter der Qual des Tages ebenfalls mein Augenlicht verloren hatte.
Der Sturm hatte sich ganz gelegt, und das Gras auf dem Gebirge war wieder getrocknet, so legte ich mich denn der Länge nach nieder und verfiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, und damit endete der erste Tag meiner Einsamkeit.
Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und dicht über mir saß ein Weißkehlchen singend auf einem Stein, unter dem es gerade ein hellblaues Ei gelegt hatte. Ich weiß nicht, welch eine grausame Laune mich trieb, ich streckte jedoch meine Hand nach dem kleinen Ei aus, beschaute es mir und zerdrückte es zwischen meinem Daumen und Zeigefinger und warf seinen Inhalt fort. Meine Annahme vom vorigen Abend, daß mein Augenlicht und mein Gehör mir teilweise entschwunden seien, bestätigte sich. Es hat wohl selten einen Menschen gegeben, den die erste Kenntnisnahme eines solchen Schicksals weniger berührt hätte. Ich war in Wahrheit jedoch gegen allen Schmerz abgestorben, und es hätte eines ärgeren Mißgeschickes bedurft, mir Qual zu bereiten. Ich erhob mich und wandte mich dem Süden zu, denn, wie ich mich erinnerte, war es im Kalb-Sund, wo ich mein Boot finden sollte, und wenn mein Herz sich in seiner Erstarrung noch mit einer Hoffnung trug, so war es die, daß ich vielleicht mich aufmachen und davonsegeln könnte.
Zwischen Barrule und Dalby hindurchgehend, kam ich östlich von Cronk-na-Irey-Lhaa herab. Und dann fühlte ich, der ich nie gekannt, was Mattigkeit war, plötzlich meine Kräfte schwinden, so daß ich mich am liebsten niedergesetzt und ausgeruht hätte. Derartig der Schwäche nachzugeben, durfte ich mir jedoch nicht gestatten, ich blieb aber stehen und blickte über die Ebene im Osten und auf die Fleswiek-Bucht im Westen zurück. Gar manches Mal habe ich seitdem dort gestanden und mich gefragt, ob es je einen zweiten so schönen Punkt gäbe, und ob die himmlischen Gefilde schöner sein könnten? An jenem Tage jedoch schauten meine trüben Augen nach nichts anderem, als nach einem Segel auf der See und nach einem Menschen auf den Bergen aus, von beiden aber zeigte sich keine Spur, und alles übrige war mir gleichgültig.
Und doch, obgleich ich es mir so angelegen sein ließ, meine Nebenmenschen nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren, war ich ängstlich besorgt, ihnen nicht in den Weg zu laufen und wählte stets die Pfade, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wandeln würden. So hielt ich mich stark westlich von Fleswiek und kam über die Felsenkoppe, gen Brada mich wendend, zwischen Port Erin und Port-le-Mary auf das bis an die Meerenge sich erstreckende Moor hinab. Wenige Menschen nur, meistens Schäfer und Fischer begegneten mir; ich erhob jedoch meine Augen zu keinem von ihnen, und niemand unter ihnen bot mir einen Gruß. Dies war das beste, denn hätte irgend jemand mich unbekannterweise angeredet, ich bin überzeugt, ich hätte eine bittere Antwort gegeben. In meiner großen Herzenserstarrung, halb blind, halb taub, war ich an dem Tage um nichts besser als ein verwundetes, in wilder Zügellosigkeit die Moorlande durchstreifendes, den Menschen gefährliches Tier.
Als ich Cregneesh mich nähernd zum ersten Male die kleinen, zu einem Zigeunerlager gehörigen, über das flache Moorland zerstreut liegenden Lehmhütten erblickte, begann der Himmel sich über der See zu röten, und diesem Zeichen entnahm ich, wie vorgeschritten der Tag, wie langsam mein Schritt, und wie groß meine Schwäche gewesen sein mußte. In der nächsten halben Stunde hatte ich mein Boot, die Ben-my-Chree, wie es in der Doon Creek-Meerzunge einige fünfzig Klafter weit innerhalb der Klippen von Kitterland lag, erspäht. Beim Näherkommen fand ich es in etwa fünf Klafter Wasser geankert und den zu ihm gehörigen kleinen Kahn trocken auf dem steinigen Strand liegen. Seine Kajüte enthielt genügend Vorräte für meine augenblicklichen Bedürfnisse, und darüber hinaus gingen meine Gedanken nicht. Seit dem Morgen des vorhergehenden Tages hatte ich nichts genossen, nun aber aß ich heißhungrig von dem Hafer- und Gerstenkuchen. Später am Abend, als die Sterne herauskamen und der in seinem letzten Viertel sich befindende Mond über dem Kalb-Sund stand, mischte ich mir etwas Hafermehl mit kaltem Wasser und verzehrte es auf Deck, und dann ging ich in meinen Verschlag hinab und legte mich einsam nieder. Zwischen Wachen und Schlafen versuchte ich, meine Lage zu überdenken und sie mir klar zu machen, irgendwo am Lande jedoch schrie eine Eule, und irgendwo über dem Wasser des Sundes ließ ein Steißfuß sein unheimliches Lachen erschallen. Ich konnte an nichts anderes als an die schreiende Eule und den lachenden Steißfuß denken, und obgleich aus beider Stimmen nur Jammer und Qual oder teuflische Freude herauszuklingen schien, fühlte ich doch keine Dankbarkeit gegen Gott, daß Er mich als einen Menschen erschaffen hatte. Und so warf ich mich mit der Erkenntnis, wie schwer ein von Gottes Zorn Betroffener zu leiden hat, in meinem Verschlag von einer Seite zur anderen, bis ich in Schlaf sank und der zweite Tag meiner Verbannung endete.
Alles zu berichten, was am nächsten Tage und an den darauf folgenden, die ich nicht im Gedächtnis behalten habe, geschah, würde mich zu sehr ermüden. Eines jedoch weiß ich, daß eine plötzliche Erstarrung meines geistigen Lebens in mir mich zu einem schlechteren Menschen machte, als ich es am Tage meiner Verbannung gewesen, und daß ich bald das wenige, was mir an menschlicher Liebe und Empfindung übriggeblieben war, gänzlich verlor. Meine Flinte war mit in das Boot getan, und mit ihr durchstreifte ich die Klippen und das Moor von den westlich von Cregneesh sich erstreckenden Mull-Bergen bis zu den östlich gelegenen Fällen. Unzählige Seetaucher, die viel auf diesem Küstenstrich zu finden sind, schoß ich nieder; ihr Fleisch jedoch war ranzig und salzig, und sie waren kaum des an ihnen verschwendeten Pulvers wert. So geschah es denn zuweilen, daß ich, genügend mit Nahrung versehen, die mutwillig getöteten Vögel, nachdem meine Flinte sie niedergeschossen hatte, wegwarf oder mir nicht die Mühe gab, mich nach ihnen zu bücken. Kaninchen fing ich durch einen als Knabe schon erlernten Kniff, und manchmal verzehrte ich sie wie jeder andere Christenmensch; zu andern Zeiten setzte ich mich am Abhang nieder und riß sie, wie ein wildes Tier es tun mag, auseinander. Wo ich jedoch auch meine Mahlzeit hielt, im Boot oder auf der Klippe, des göttlichen Gebers gedachte ich nie, sondern nur des Umstandes, ob mein Essen mir mundete oder nicht.
Gar manches Mal während dieser ersten Tage mußte ich meine Gedanken mit Gewalt von meiner trüben Lage losreißen, denn sobald sie derselben sich zuwandten, schien ein Dolch mein Gehirn zu durchfahren, und ich nur zu klar mir bewußt zu werden, daß Wahnsinn mein Ende sein würde. Wenn ich mir vorredete, daß schon vor mir Menschen nach einsamen Stätten, die kein menschlicher Fuß betreten, keine menschliche Stimme durchtönt hatte, verbannt gewesen wären, so fiel es mir wie mit Bleigewicht aufs Herz, daß ihre Verbannung aus der Gemeinschaft ihrer Mitmenschen nur eine körperliche gewesen, die meinige jedoch eine sich auf die Seele erstreckende sei. Der durch Schiffbruch auf eine unbewohnte Insel verschlagene Seemann mag, wenn sein Auge endlich wieder auf einen Mitmenschen fällt, sein dankerfülltes Herz zu Gott erheben, mir aber mußte die menschliche Gemeinschaft stets ein Fluch bleiben. Es stand mir frei, unter Menschen zu gehen, selbst in die von ihnen bewohnten Städte, wohin ich jedoch mich wandte, stets mußte ich einsam sein.
Dieser Gedanke und die Überzeugung, daß es für mich, nachdem Gott das Sühnopfer, das ich zu bringen bereit war, verworfen hatte, keinen Tag der Gnade mehr gäbe, verbitterten mich täglich mehr, und ich fand das Dasein nur dann erträglich, wenn ich meine Seele ganz verschloß und einfach von einer Stunde zur anderen lebte. Wie ein halbverhungerter Hund machte ich mich beim Tagesanbruch auf und durchstreifte die Berge, um erst am Abend auf mein Lager zurückzukehren. Ich wußte, daß ich tiefer als vorher gesunken war, und der Gedanke, daß ich ein Ausgestoßener sei und kein Auge mich in meinem jetzigen Zustand sähe, gewährte mir eine gewisse Beruhigung. Mit aller Gewalt klammerte ich mich ans Leben an, und dasselbe durch das Hinschlachten anderer Geschöpfe zu fristen, brachte mir eine früher unbekannte, wilde Freude. Täglich und stündlich erschoß oder erschlug ich etwas Lebendes, und wenn ich mir einen Augenblick auch sagte, daß die von mir erlegten Geschöpfe das gleiche Recht, wie ich selber, auf das Leben hätten, so berührte dies mein menschliches Gefühl nicht weiter, als daß mich bei dem Gedanken, daß nicht ich es sei, der tot daliege, ein merkwürdig wilder Freudenschauer durchrieselte. Im Rückblick auf diese sieben Jahre scheint es mir unnatürlich, daß eine derartige Stimmung mich je übermannen konnte; es war aber so, und möge Gott in Seiner Gnade alle Christenmenschen vor etwas Ähnlichem bewahren.
Eines Tages – ich glaube, es muß gegen das Ende des ersten Monates meiner Verbannung gewesen sein – durchstreifte ich die über die grauen Klippen der Schwarzen Koppe laufende Bergseite, als ich zufällig auf einen Hasen stieß und nach ihm schoß. Bei meinem Nähertreten fand ich, daß er ein mageres und knochiges Tier war, und so wandte ich mich achtlos ab und ließ ihn quiekend davonhinken. Dies war am Morgen, und als ich am Abend desselben Weges zurückkam, sah ich den Hasen zur Seite eines Baches verwundet und blutend, aber noch lebend daliegen. Bei meinem Anblick versuchte das kleine Tier davonzulaufen, seine Schwäche und ein Klümpchen geronnenen Blutes jedoch hielten es am Boden fest, und im Gefühl seines Unvermögens erhob es wie bittend seine beiden kleinen Pfoten in die Luft, während seine glitzernden Augen sich mit Tränen füllten, und es kläglich, wie ein kleines Kind, zu schreien begann. Was ich dann tat, kann ich nicht über mich gewinnen, niederzuschreiben. Der Gedanke daran schmerzt mich zu tief; nachdem es jedoch geschehen war und jener jämmerliche Schrei mir nicht mehr in den Ohren klang, sagte ich plötzlich zu mir selbst –:
»Ich bin kein Mensch mehr, sondern ein Tier der Wildnis; und der Gott der Gnade und Liebe hat für immer Seine Hand von mir gewendet.«