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Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Eine Filiale der Leimsudia. Der vortreffliche Trommler erzählt eine heitere Geschichte.

An Tagen, wie der heutige, wo in das Gasthaus zur wilden Rose vornehme Fremde eingekehrt waren – und zu diesen rechnete Frau Rosel mit vollem Recht den Herrn Doktor Wellen, – hielt sie die Thüre des Honoratiorenzimmers unter ihrer speziellen Aufsicht, und Mancher, der sich zu gewöhnlichen Zeiten hier dann und wann einmal auf die Lederstühle bequem niedersetzen durfte, wurde unter irgend einem unbedeutenden Grunde abgefangen; der wahre Grund war aber, daß Frau Rosel an solchen Tagen nur eine sehr gewählte Gesellschaft in ihrem Honoratiorenzimmer haben wollte.

Hier prangten nun die Lichter, und um den Tisch mit grünem Wachstuch, der in der Mitte stand, saßen vielleicht ein Dutzend Personen, obenan unter dem Bildniß des Landesvaters Doktor Wellen, neben ihm der Pfarrer von Schloßfelden mit seinem Adjutanten, dem Schullehrer, Eugen, der lustige Rath, ferner die würdigsten Mitglieder der Schauspielergesellschaft, unter ihnen der große Holder und der vortreffliche Trommler.

Dem Doktor war es in kurzer Zeit gelungen, sich durch allerlei Schwänke, die er vorbrachte, und komische Reden, die er hielt, die Gunst des geistlichen Herrn in hohem Grade zu erwerben, und dieser gab mit größter Aufmerksamkeit auf jedes Wort, auf jede Miene desselben Achtung, und wenn er anfing: da war einmal –, so blinzelte der Pfarrer schon freundlich lachend mit einem Auge und stieß den Schullehrer unter dem Tische an, der nun schon im Voraus lachte und sämmtliche Umsitzende dadurch zur größten Heiterkeit anfeuerte.

Es schien, als müsse Jeder etwas aus seinem Leben erzählen, und nur die beiden geistlichen Herren waren davon ausgenommen; denn der Pfarrer hatte versichert, er wisse von sich nicht das Geringste, was im Stande wäre, zur allgemeinen Heiterkeit beizutragen. Von seinem Schulmeister könne er freilich allerlei erzählen, doch wolle er diesen nicht in Verlegenheit bringen. Dazu hatte er unmäßig gelacht, und dieses Lachen war für die ganze Gesellschaft ansteckend, als nun der Schulmeister seinerseits die heilige Versicherung abgab, es ergehe ihm gerade so mit dem Herrn Pfarrer, und wenn er ja einer seltsamen Geschichte erwähnen müßte, so beträfe dieselbe seinen Vorgesetzten, weßhalb ihm der Mund verschlossen wäre.

Doktor Wellen war zu einer Art Präsident dieser Abendgesellschaft erwählt worden, und wenn es ihm auch nicht möglich war, die Regeln und Gesetze der Leimsudia in ihrem ganzen Umfange aufrecht zu erhalten, so hatte er doch eines der Lichter, die auf dem Tische waren, dicht neben sich gestellt und putzte es aus, sobald die Unterhaltung anfing schläfrig zu werden.

»Ich sollte meinen,« sagte jetzt dieser würdige Präsident, »wir geben dem Herrn Holder das Wort. Wer so viel und lange auf kleinen und großen Theatern gewirkt, sollte gewiß im Stande sein, uns von seinem langen Künstlerleben etwas Interessantes vorzutragen.«

Der Heldenspieler verbeugte sich geschmeichelt, trank sein Glas aus und entgegnete mit seiner tiefen, klingenden Stimme: »Freilich böte mein Leben Vorfälle genug dar, die interessant, vielleicht auch lehrreich anzuhören wären. Aber sie passen nicht in diese Gesellschaft. Wir sind, wenigstens die meisten an diesem Tische, heiter und guter Dinge; warum soll ich mit trüben, unheimlichen Erinnerungen einen kreischenden Mißton hinein bringen? Meine Geschichten passen nur für die Dämmerung und für die Einsamkeit; die kann sich vielleicht Jemand erzählen, der nächtlicher Weile einem stillen Wasser zuschreitet, um dort das Ende seiner Leiden zu suchen und zu finden. – Meine Erzählungen passen nicht hieher; sie würfen schwarze Schatten in euer fröhliches Herz; das wäre wie ein Gewitter an einem heiteren Sommertag, wie eine wilde zerrissene Felsschlucht im schönsten, freundlichsten Park. Das würde dieselbe Wirkung machen, als wenn harmlose Kinder im Walde nach Beeren suchten, oder nach farbigen Blüthen, und plötzlich einen Erschossenen fänden, der unter dem Laube, das sie emsig durchsuchten, halb versteckt läge.«

Hierauf füllte Herr Holder stillschweigend sein Glas, um es auf das Wohl der Gesellschaft zu leeren.

Diese war durch die ernsten Worte Holder's einigermaßen still geworden. Niemand sprach eine Sylbe, und es wäre vielleicht langweilig und verdrießlich geworden, wenn nicht Eugen den Präsidenten gebeten hätte, den vortrefflichen Herrn Trommler zu irgend einer Mittheilung zu bewegen.

Dieser würdige Künstler hatte insofern an der gesellschaftlichen Unterhaltung den lebhaftesten Antheil genommen, als er sich von Herrn Sidel fleißig einschenken ließ und mit der größten Dankbarkeit über den geringsten Spaß laut und anhaltend lachte.

»Ganz richtig!« sagte Doktor Wellen. »Herr Trommler wird hiemit ersucht, das Wort zu nehmen. Wir erwarten von ihm die Erzählung einer kleinen interessanten Begebenheit aus seinem Leben.«

»Die Geschichte einer Liebschaft zum Beispiel,« setzte der lustige Rath hinzu. »Nach dem, was Sie mir neulich erzählten, müssen Sie in diesem Fache schöne und zugleich fürchterliche Erinnerungen haben. Lassen Sie uns die Geschichte von der Reichsgräfin hören, die Ihretwegen von dem strengen Vater in ein Kloster gesperrt wurde.«

»Bst, bst!« entgegnete der Künstler, mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Pfarrer. »Solche Geschichten würde ich nicht wagen, in dieser Gesellschaft vorzutragen.«

»Herr Trommler kann erzählen, was er will,« sagte der Präsident in bestimmtem Tone. »Keine Beschränkung, keine Vorschriften! Etwas Interessantes aus Ihrem Leben.«

Der also Aufgeforderte verbeugte sich vor diesem Ausspruche, was so viel heißen sollte, als er werde ihm Folge leisten; dann legte er einen Augenblick seinen Kopf in die Hand und schien über etwas nachzudenken. – »Eine Geschichte weiß ich nicht,« sagte er dann nach einer Pause; »aber eine kleine Episode aus meinem Leben, sehr kurz und unbedeutend, will ich der werthen Gesellschaft nicht vorenthalten.«

»Herr Trommler hat das Wort!«

»Es sind schon viele Jahre her,« erzählte dieser würdige Künstler, »ich hatte von einer verunglückten Laufbahn gänzlich Abschied genommen und mich dem Theater zugewandt, da befand ich mich ohne Engagement in C. Es ist etwas Trauriges, sich ohne Engagement zu befinden. Man zählt seine Geldbörse nach, man findet nur einige Gulden, man kommt sich vor wie ein zum Tode Verurtheilter; denn man weiß genau, wie lange man noch zu leben hat, und daß nach einigen Tagen Alles zu Ende sein kann, wenn nicht bis dahin Pardon ankommt, d. h. die Antwort irgend eines Direktors, der uns schreibt, daß er es mit uns versuchen wolle, der uns mit Einem Wort auf's Neue anstellt.

»Man sollte glauben, wenn man so ohne Engagement herumgeht, meistens ziemlich herabgekommen – denn unnöthige und nöthige Garderobe ist das Erste, was in solch' traurigen Tagen versetzt wird, – man sei ein abschreckendes Beispiel für alle jungen Leute, denen es in einem angenehmen, behaglichen Leben so wohl geht, und die vielleicht die Liebe zur Kunst, der Drang nach Freiheit, die Lust an einem regellosen, oft wilden Leben vom Schreibpulte oder aus der Schule wegtreibt, um sich an uns anzuschließen. – Im Gegentheil! Wir sind auch dann noch besucht, ja beneidet von jenen leichtsinnigen jungen Leuten, die unser Leben für das glückseligste halten und die es, selbst mit Kummer und Entbehrung, jedem anderen vorziehen würden.

»Ich hatte damals noch einen Kollegen, dem es nicht besser ging als mir, eigentlich noch schlechter; denn ich besaß außer meinem Anzug noch einen ziemlich anständigen Hut und Paletot; Jener aber hatte nichts als eine graue leinene Hose und einen schwarzen Frack, ein Anzug, den er sogar in dem damals eben vergangenen Winter getragen, und den er der Jahreszeit dadurch möglichst angepaßt, daß er sich auf diesen schwarzen Frack mit eigener Hand einen Pelzkragen genäht hatte.

»Das Kaffeehaus war unser einziger Zufluchtsort; dort lasen wir die Zeitung, tranken ein Glas Wasser und suchten Bekanntschaften anzuknüpfen, die uns zu irgend etwas dienen könnten.

»Hier hing sich nun ein junger Mensch an uns; sein Vater war Beamter, ein anständiger, wohlhabender Mann, der schon alles Mögliche gethan hatte, um seinen Sohn von dem unglückseligen Gedanken, zum Theater zu gehen, abzubringen. – Umsonst! Dieser junge Mensch war voller Phantasie und Schwärmerei und nebenbei verliebt in eine romantische Cousine, der er auf dem Comptoir, hinter dem Schreibpult unausstehlich war, die ihn aber wahrscheinlich zu lieben versprach, nachdem er ein Künstler geworden und sie und das Publikum in irgend einer schmachtenden Rolle entzückt.

»Er träumte nun von nichts, als von großen, glänzenden Rollen und von ungeheuren Erfolgen und lag uns mit den inständigsten Bitten an, ihn irgendwo mit hinzunehmen und ihm zugleich mit uns ein Engagement zu verschaffen. Der Vater, der zu dem Umgange des Sohnes mit uns durchaus nicht freundlich sah, besuchte mich eines Tages und sagte: »Herr Trommler, ich halte Sie für einen braven Mann; Sie werden nicht das Unglück meines Sohnes und meiner Familie wollen; bringen Sie den jungen Menschen von seiner Idee ab, und ich werde wissen, mich dafür dankbar zu bezeigen.«

»Sehr gut, dachte ich, und eines Tages machten wir uns auf den Weg und gingen nach dem einige Meilen entfernten kleinen Badeorte, wo der eben angekommene Direktor noch einige brauchbare Mitglieder suchte.

»Der junge Mensch, der Urlaub genommen hatte, irgend eine Tante zu besuchen, begleitete uns. Natürlicherweise wußte ich im Voraus, daß dort nichts für uns zu finden war. Das sagte uns auch der Direktor sogleich, und wir schlenderten auf der Promenade umher, gingen in den Kursaal, und unser junger Kunstgenosse, der einige Gulden bei sich hatte, fing an zu spielen. Wie sich denken läßt, hatte er in kurzer Zeit Alles verloren, und da standen wir nun, und guter Rath war theuer; für uns wenigstens. Er aber war guten Muthes, und es freute ihn, wie er sagte, so nichts mehr zu besitzen und sich auf die eigene Kraft stützen zu müssen. Das war nun alles recht schön und gut; aber Geld mußten wir haben, um wenigstens ein Mittagessen zu bekommen und ein Nachtlager zu finden.

»Wie machen Sie es in ähnlichen Fällen? fragte der junge Mensch. Das muß Ihnen doch auch schon häufig genug vorgekommen sein.

»Ich zuckte die Achseln und entgegnete: es gibt allerlei Mittel, sich zu helfen; aber eines ist so desperat wie das andere, und wenn es fehlschlägt, so sitzen wir erst recht im Unglück.

»Und das wäre?

»Ich habe hier unter den Schauspielern einen Bekannten, der freilich nicht im Stande ist, uns mit Geld auszuhelfen; aber ich mache den Vorschlag, wir gehen auf sein Zimmer und lassen durch das Loos entscheiden, welcher von uns Drei sich für die Anderen opfern soll, um Geld zu bekommen: denn Geld müssen wir haben, um das wieder zu gewinnen, was wir eben verloren. Wir können nicht heute wieder zurückkehren.

»Das thun wir auf keinen Fall, sagte der junge Mensch.

»Wenn wir es ein paar Tage hier aushalten, meinte ich, so finden wir doch noch Gelegenheit, bei der Truppe anzukommen.

»Darauf gingen wir nach der Wohnung unseres Bekannten, der nicht zu Hause war. Doch schloß uns seine Wirthin sein Appartement, ein kleines Dachkämmerchen, auf. Das Opfer, zu dem sich nun einer verstehen sollte, war freilich sonderbarer Art. Doch war es von einem meiner Bekannten früher schon einmal mit großem Nutzen angewendet worden. Wir zogen das Loos, nicht ohne vorher unserem jungen Begleiter die ernstesten Vorstellungen gemacht zu haben, noch sei es Zeit, zurück zu kehren, um – wenn auch mit hungerigem Magen – den Heimweg zu suchen. Umsonst! Er erklärte, zu Allem bereit zu sein. Natürlich traf ihn auch das Schicksal roh und kalt und warf des Freundes zärtliche Gestalt – nicht unter die Hufe seiner Pferde, wohl aber auf das Bett in der Dachkammer, nachdem er vorher seine sämmtlichen Kleider ausgezogen hatte. Diese wurden in ein Bündel zusammen gemacht, auf das Leihhaus gebracht, um mit dem Erlös davon das Spiel von vorhin wieder aufzunehmen und das Verlorene wieder zu gewinnen.

»Natürlicher Weise aber waren diese wenigen Gulden ebenso schnell verschwunden, wie die früheren. Doch hatten wir wohlweislich vorher einen kleinen Imbiß genommen, während unser Opfer ohne Kleider mit hungrigem Magen in fremder Stadt auf fremdem Bette saß und nach und nach ernstlich begann nachzudenken über diese ersten seltsamen Schritte, mit denen er in das Künstlerleben getreten.

»Stunde um Stunde verrann; wir blieben natürlich so lange wie möglich aus. Anfänglich dachte er mit dem Leichtsinne der Jugend, unser Schritt könne nicht fehlschlagen, und wenn er Schritte auf der Treppe hörte, so glaubte er, ich sei es und werde jetzt in die Dachkammer treten mit seinen Kleidern unter dem Arm und vor ihm ausbreiten eine hübsche Summe, die wir gewonnen.

»Endlich, als es Abend werden wollte, gingen wir nach Hause und traten achselzuckend in die Dachkammer. Nie werde ich den Ausdruck des Schreckens vergessen, der die Züge des jungen Menschen überzog, als wir ihm unser Unglück mittheilten. – Was war zu thun? Er meinte, wir sollten den Direktor der hiesigen Truppe bitten, uns einiges Geld vorzustrecken, damit er wenigstens wieder nach Hause kommen könnte. – Unmöglich! Wer leiht einem fremden, reisenden Schauspieler Geld?

»Mein Freund, in dessen Wohnung wir uns befanden, kam endlich auch nach Hause und zuckte über unser Mißgeschick die Achseln. Die einzige Hülfe, die er uns nach vielem Hin- und Herreden angedeihen ließ, bestand in einem langen, weißwollenen Rocke und ein paar alten Pantoffeln, die er uns leihweise abtrat, damit wir bei einbrechender Dunkelheit die Blößen unseres Schlachtopfers verhüllten.

»So zogen wir endlich heim, über die staubige Chaussee dahin; der lange Rock wallte ihm bis auf die Füße, welche in den alten, breit getretenen Pantoffeln staken. Um den Kopf hatten wir ihm ein buntseidenes Tuch gewickelt, und so gingen wir betrübten Herzens unseres Weges, wobei wir es an den besten Ermahnungen nicht fehlen ließen.

»Der junge Mensch war entsetzlich zerknirscht und hatte an diesem ersten Künstlerausfluge so vollkommen genug, daß er sich hoch und theuer verschwor, nie mehr an etwas Aehnliches zu denken. Glücklicher Weise war der Abend lau und angenehm; aber so oft sich ein leichter Wind erhob, wallte der weiße Rock in die Höhe, und dann griff er krampfhaft zu, um ihn fest zusammen zu halten.

»So kamen wir mitten in der Nacht nach Hause, und die einzige Hoffnung des jungen Menschen beruhte darauf, unbemerkt in die väterliche Wohnung gelangen zu können. Aber das Schicksal wollte es anders – ich muß gestehen, wir hatten dabei die Hand im Spiele – denn als er die Hausthüre öffnete, erschienen nicht bloß Vater, Mutter und Schwestern, sondern auch sogar die romantische Cousine, und die standen da vor Schrecken angewurzelt. Aber die Sache wendete sich zum Guten; der junge Mensch war von seiner Lust, mit uns herum zu ziehen, völlig geheilt; der Vater bewies sich in der That dankbar dafür, und ich ging stolz nach Hause, mit dem süßen Bewußtsein, eine gute That verübt zu haben.«

»Trommler, Trommler!« rief Eugen lachend, als der Künstler geendigt, »ich glaube, Sie haben uns eine Geschichte erzählt, die Sie erfunden, um uns ein abschreckendes Beispiel vor Augen zu stellen, wie es auch uns einstens ergehen könne.«

»Nein, es ist eine wahre Geschichte,« antwortete Herr Trommler, »und ich könnte auch lebende Zeugen aufführen, die bei derselben zugegen waren.«

»Das wäre etwas weitläufig,« meinte Herr Wellen. »Wir als Präsident dieser achtbaren Gesellschaft erklären uns um so mehr mit dem eben Gehörten zufrieden, als eine gewisse Moral demselben zu Grunde liegt.«

Herr Trommler verbeugte sich geschmeichelt und netzte seinen trocken gewordenen Gaumen mit einem tüchtigen Zuge an.


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