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Einundfünfzigstes Kapitel.

Der geneigte Leser erfährt nicht viel Neues, wird aber eingestehen, daß der Erzähler in manchen Theilen Recht hat.

Es war der Staatsräthin nicht leicht geworden, den Entschluß zu fassen, Katharinen zu sich in's Haus zu nehmen. Sie hatte dieselbe früher einmal kaum flüchtig gesehen und sie unter den obwaltenden Verhältnissen natürlicher Weise sehr wenig beachtet; doch fühlte die alte Dame in ihrer Einsamkeit das Bedürfniß, ein Wesen in ihrer Nähe zu wissen, von dem sie überzeugt sein durfte, daß es sich fest an sie anschließen würde, daß es ihr mit kindlicher Liebe zugethan sei, ein Wesen, dem auch sie nach Befund und Umständen ein mütterliches Herz öffnen könnte.

Die Unterredung mit ihrem Sohne, die Offenheit, mit der ihr Eugen entgegen getreten war, die Bereitwilligkeit, mit der er auf ihren Wunsch einzugehen schien und ihr jene Papiere zur Verfügung zu stellen versprach, welche zu erlangen der Justizrath so viele verkehrte und unnöthige Schritte gethan, hatten einen tiefen Eindruck auf das Herz der Staatsräthin gemacht. Hatte nicht ein einziges Wort der Mutter den Sohn dazu vermocht, ein einziges freundliches liebevolles Wort? Ja, sie fühlte es bitter und beklagte es tief, nicht eher eine Annäherung gesucht zu haben, die früher noch leichter gewesen wäre und so Manches anders gemacht hätte.

Glücklicher Weise war es noch nicht zu Allem zu spät, und die Staatsräthin fühlte wohl, daß es ihr ohne große Schwierigkeiten gelingen würde, das Herz ihres Sohnes wieder an sich zu ziehen, mit ihm in Gemeinschaft zu leben, vielleicht glücklich zu sein, vor allen Dingen aber Eugen wieder in die Stellung einzusetzen, die ihm gebührte: in die ihres natürlichen Beschützers. Das hatte sie anfänglich kaum zu denken gewagt; aber nachdem sie sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht, verfolgte sie ihn unablässig Tag und Nacht, und hiedurch kam sie darauf, sich selbst sagen zu müssen, daß die Herrschaft, welche der Justizrath über sie ausübte, unnatürlich und unerträglich sei.

All' das hatte sie denn auch bestimmt, entscheidendere Schritte anzubahnen, zuerst Katharinen zu sich zu nehmen, in der festen Hoffnung, das Mädchen würdig zu finden, um ihr auch später andere Rechte einräumen zu können. Und hierin hatte sich die alte Dame glücklicher Weise nicht getäuscht. Wenige Tage reichten hin, und die kluge Frau erkannte und würdigte das reine, unschuldige Herz des schönen Mädchens und fand in ihren natürlichen, gesunden Gedanken, in ihrem angeborenen tiefen sittlichen Gefühl einen biegsamen, dankbaren Grundstock, aus dem sich etwas Schönes und Glänzendes herausbilden ließ. Und damit gab sich die Staatsräthin alle Mühe.

Anfänglich war es von ihr bestimmt worden, das Verhältniß Katharinens zu ihr sollte das der Dienerin zur Herrin sein. Doch schon nach den ersten Tagen wurde Madame Schoppelmann zu einer zweiten Audienz entboten, und nach einer längern Unterredung hatte sie mit Freuden ihre Einwilligung gegeben, daß ihre Tochter Katharina von nun an wie das Kind vom Hause angesehen würde. Ob dabei auch etwas von späteren Planen in Betreff des Herrn Eugen ausgemacht wurde, sind wir nicht im Stande anzugeben, hoffen aber das Beste und wollen nur wenigstens so viel verrathen, daß die Dienerschaft des Stillfried'schen Hauses der Ansicht war, sie sehe in dem jungen schönen Mädchen ihre künftige Gebieterin; und wir wissen bereits, daß die Ansicht der Dienerschaft dieses Hauses nicht zu verachten war.

Die alte Dame hatte kluger Weise dem Justizrath gegenüber ihren Wunsch, das junge Mädchen zu sich zu nehmen, in einem Augenblicke ausgesprochen, wo ihr Geschäftsfreund sehr mit uns bekannten Projekten beschäftigt war und hiebei die Einwilligung der Mutter zu sehr gebrauchte, um ihrer Grille, wie er es nannte, ernstlich etwas in den Weg zu legen.

Seine Angelegenheit ging vortrefflich von Statten; Herr von Steinbeck wurde von der alten Dame, wenn auch nicht herzlich, doch freundlich empfangen; ja, der Justizrath hatte es sogar dahin gebracht, die Staatsräthin zu vermögen, daß sie, von jahrelanger Gewohnheit abgehend, obgleich einigermaßen widerstrebend, eine kleine Gesellschaft bei sich veranstaltete, freilich nur von sehr wenigen Personen, aber von dem Justizrathe ausgewählt und Alle seinen Planen geneigt und denselben sehr förderlich. Wir nennen nur den Major und die Majorin von Brander, welche versicherten, auf die Freundschaft der Mutter ein spezielles Recht zu haben; denn der verlorene Sohn habe ihr Haus vor allen anderen gern und häufig besucht.

Wir müssen gestehen, daß in dieser Gesellschaft die schöne Katharina nicht geringe Aufmerksamkeit erregte; ja, wir wollen dem geneigten Leser anvertrauen, daß die Staatsräthin hauptsächlich deßwegen wieder Leute bei sich gesehen, um ihre Pflegetochter, wie sie das Mädchen nannte, anständig vorstellen und einführen zu können. Und diese Vorstellung war sehr glänzend ausgefallen.

Katharina, die sich früher nie in Salons bewegt, hatte eine solche glückliche Gabe, sich leicht und geschickt in ihr neues Verhältnis zu finden, daß die schärfsten Augen der unnachsichtigsten Damen – und welche Dame sieht in diesem Punkte nicht unnachsichtig und scharf? – nichts an ihrem Benehmen auszusetzen wußten, als nur das Eine, was aber Jede kluger Weise für sich behielt, und das war: der Kummer, daß ihre eigenen Kinder, die Töchter eines Regierungsrathes, eines Kanzleirathes und mehrerer Hofräthe, von der Tochter der Gemüsehändlerin völlig verdunkelt wurden; und dabei dachten sie, es sei doch eigentlich sonderbar von dem lieben Gott, daß er diesen Mädchen der unteren Regionen Anstand und sittsames Betragen ertheilt; Mädchen, deren Eltern doch gar keiner Rangklasse angehören, ebenso viel, ja oft noch mehr Schönheit des Körpers, als ihren Nachkömmlingen, hervorgegangen und gezogen, in die Welt eingeführt und bewundert unter dem Schutze der vierten bis achten Rangklasse.

Die Majorin Brander hatte, wie wir wissen, keine Töchter, und deßhalb, und auch weil sie Dichterin war, fand sie in dieser ganzen Geschichte etwas Schönes und Hochpoetisches und versprach sich von einer ähnlichen Situation sehr viel für irgend ein Kapitel ihres neuen Romans.

»Stifeler,« hatte der Major zu seinem Adjutanten auf dem Heimwege gesagt, »Stifeler, das ist ein schönes Mädchen! Mich soll der Teufel holen, aber da hätten Sie sich früher umsehen sollen!«

Hierauf sprach der Adjutant achselzuckend, nachdem er aber vorher die Lippen zusammen gepreßt: »Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister! nur bitte ich zu bemerken, daß die Mutter eine Gemüsehändlerin ist.«

»Aber reich, lieber Stifeler,« hatte der Major geantwortet, »sehr reich! und was deckt so ein alter Adel, wie der Ihrige, nicht zu? Gehen Sie mir weg! das hätte Ihnen nicht entgehen sollen!«

Ebenso wie der Major dachte auch noch mancher Andere, und viele junge Herren, die früher über Eugen Stillfried höhnisch die Nase gerümpft, blieben jetzt mit einem lauten Ah! auf der Straße stehen, wenn die Staatsräthin mit ihrer Pflegetochter vorüber fuhr.

Diese freundlichen Bemerkungen in Betreff Katharinens wurden aber im vollen Gleichgewicht, ja, niedergehalten durch die äußerst liebenswürdige Art und Weise, mit der die neue Stellung des früher unbekannten Mädchens bei den sämmtlichen Kaffeegesellschaften der Residenz besprochen und demgemäß zerfleischt wurde.

Eine Staatsräthin, also eine Frau zur sechsten Rangklasse gehörig, hatte solches zu thun gewagt, hatte in den reinen Dunstkreis der höheren Schichte menschlicher Gesellschaft ein Wesen eingeführt, das, tief unten, wo man nicht mehr deutlich hinschauen kann, geboren, kaum das Recht hatte, auf der Welt zu sein; ein Wesen, das doch unmöglich verlangen konnte, von ihren Mitschwestern freundlich gegrüßt zu werden, von ihren Mitschwestern, die obgleich lange nicht so schön, lange nicht so tugendhaft, lange nicht so sittsam, dafür das Vorrecht der Geburt hatten und denen es gestattet war, ihre Fehler und Vergehen, die weiter unten so klar und schonungslos vor Augen liegen, deßhalb ungesehen zu machen, weil sie dieselben mit dem mächtigen Familiennamen ihrer Mutter oder mit dem Anstellungsdekret ihres Vaters bedecken durften.

Was mußte die arme Katharina nicht schon alles gethan haben, wenn man diese Lästerzungen hörte! – War sie schön? – Das konnte man ihr nicht absprechen. Mein Gott, ja! sie sieht nicht übel aus; aber hat man je gehört, daß der Art Mädchen häßlich sind? Gott bewahre! Das ist ja ihr einziges Verdienst, und wenn Sie nicht das Bischen Schönheit hätte, so wären all' diese Geschichten nicht – passirt. Der einzige Trost dieser Damen bestand darin, daß dergleichen im Stillfried'schen Hause vorgefallen war. – »Das Haus ist schon was gewohnt!« sagte wehmuthsvoll eine alte Regierungsräthin, »dahin paßt dergleichen. In der Familie ist schon mehr vorgefallen, worüber sich nicht in guter Gesellschaft sprechen läßt.« Das beruhigte denn auch offenbar die zürnenden Gemüther, und neben dem schloßen sie eine feste Verbindung, es die arme Katharina entgelten zu lassen, daß sie die Tochter einer Gemüsehändlerin sei, und, sollte sie den Herrn Eugen Stillfried wirklich heirathen, sie mit ihrem Hasse zu verfolgen bis in's dritte und vierte Glied.

Hievon hatte das arme Mädchen nun gar keine Ahnung; sie war in Grundsätzen erzogen worden, daß man bei seinem Nebenmenschen auf das Herz zu schauen habe und nicht auf das Kleid, und daß, wenn sich nur Jemand brav und ehrlich aufführe, es keine Schande sei, aus einem tieferen Stande sich in einen höheren hinauf gearbeitet zu haben. Sie wußte so wenig von der Stimmung, die in den Kreisen, zu denen sie jetzt gehörte, gegen sie herrschte, daß sie mit der Liebe, welche sie gegen ihre Nebenmenschen im warmen Herzen trug, überall anstieß und ihre Stellung eher verschlimmerte als verbesserte. Sie lächelte Jedem freundlich zu, grüßte auf der Straße, wenn sie mit der Staatsräthin ausfuhr, die Begegnenden auf's Freundlichste und nahm deren erzwungenes liebreiches Grinsen für baare Münze. Daß Jene nachher gelber von Neid und Bosheit wurden als ihre Strohhüte, und sich die Hand, die so eben noch freundlich gewinkt, unter dem Shawl zur Faust zusammen ballte, das konnte sie freilich nicht sehen, da sie keine Ahnung davon hatte.

Desto weniger aber entgingen diese Sachen dem scharfen Auge der Staatsräthin, und wir müssen gestehen, daß sie ihre Freude daran hatte. Wie hatten diese sogenannten guten Freundinnen sie in früheren Zeiten behandelt! Wie war bei ihr das Sprüchwort so wahr geworden: Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden will ich selbst fertig werden! Wie hatten sie die leisesten Mißstimmungen sich zu Nutzen zu machen gewußt, nachdem diese im Stillfried'schen Hause kaum erst angeklungen! Wie hatten sie kleine Risse in dem Familienleben der beiden Gatten zu benutzen verstanden, durch hämische Zwischenträgereien, durch falsche Auslegungen, durch boshafte Stichelworte, durch üble Nachreden! Wie hatten sie solcher Gestalt jeden trüben Ton zum lauten Lärmsignal anschwellen lassen, die kleinsten Sprünge zu einer Kluft gemacht, die nichts mehr auszufüllen im Stande war! Lerne sie kennen, theurer Leser! Auch deinen Herd umkriecht vielleicht ähnliches Gezücht, auch von deinem Brode ißt dergleichen Ungeziefer und trinkt von deinem Wein. Nimm dich vor ihm in Acht und zertritt ihm den Kopf, ehe es dich giftig in die Ferse beißt. Angesicht gegen Angesicht greift es dich nie an: es wird nie ausstreuen, du habest Dies oder Jenes gesagt oder gethan – nein, ein solches Wesen tritt an Andere heran, Kummer auf dem Gesichte, tiefe Trauer auf der Zunge, und spricht zu ihnen von dir: ah, wie ist die Welt so niederträchtig! Nein, diese bodenlose Schlechtigkeit hätte ich nimmer erwartet! Haben Sie es denn auch schon gehört, was man unserer guten, lieben Freundin nachsagt? – Nein, ich weiß noch nichts. – Gott! es wird mir schwer, darüber zu sprechen. Nun denn, unsere Freundin hat sich von ihrem Manne entfernen müssen, ist zu ihren Eltern zurückgekehrt; es sollen da schreckliche Dinge vorgefallen sein. – So sagt die Eine dieser Guten, und dabei schwört sie hoch und theuer, nichts solle sie vermögen, etwas der Art weiter zu sagen. – Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glauben. Aber man sagt es. – Und dieses: Man sagt, wird wiederholt, bis es die ganze Stadt weiß mit den abscheulichsten Zusätzen. Und dann gehe der Betreffende hin und forsche einer solchen Quelle nach!

Der Justizrath Werner schien am Ziel seiner Wünsche angelangt; die Verbindung des Herrn von Steinbeck mit Fräulein Stillfried war schon so sicher festgestellt, daß man bereits den Verlobungs- und Hochzeitstag besprochen hatte. Der Justizrath ließ sich um diese Zeit noch häufiger als sonst im Hause seiner Freundin sehen, ohne gerade durch ein zuvorkommenderes Betragen derselben hiezu ermuthigt zu werden. Auch der Herr von Steinbeck machte seine Besuche, so oft es thunlich und schicklich war; doch können wir nicht sagen, daß er durch diese seine Gegenwart große Fortschritte in der Gunst der Mutter gemacht hätte.

Die Staatsräthin hatte anfänglich darauf bestanden, das junge Mädchen, das bis jetzt fern von der Mutter erzogen worden war, in die Stadt kommen zu lassen, um, wie sie sagte, ihre Verbindung hier zu vollziehen. Als aber der Justizrath diesen Vorschlag nicht rathsam fand und ihr denselben mit tausend Gründen ausredete, wollte sie wenigstens vorher ihre Tochter eine, wenn auch kurze Zeit bei sich zubringen lassen, sich eine kleine Weile an ihrer Gegenwart erfreuen, ehe sie dieselbe für immer von sich ließe. Aber auch dies fand Herr Werner nicht rathsam, und die alte Dame fügte sich scheinbar seinem Willen. Wir sagen: scheinbar; denn im Grunde ihres Herzens glaubte sie es so wenig, als sie es wünschte, daß jene Verbindung wirklich zu Stande komme. Sie dachte an ihren Sohn Eugen, sie wünschte ihn stündlich vor sich zu sehen, daß er ihr zur Seite stehen möchte, um die von ihm schon halb anerkannte Schwester zu schützen.

Dieser Gedanke war das Lieblingsthema in dem Gespräche der beiden Damen, und sie konnten sich diese Idee so vergegenwärtigen, daß sie bei jeder hastigen Anmeldung des alten Jakob erwarteten, den ihnen so theuren Namen aussprechen zu hören. Dabei müssen wir zugestehen, daß dieser Glaube fester und lebendiger bei der Staatsräthin als bei Katharina lebte. Letztere schaute nicht mit freudigem Blicke in die Zukunft. Hatte Eugen sie nie geliebt? Hatte er sie vergessen? Das waren die Fragen, mit denen sie sich fortwährend beschäftigte. Sie wußte ja nichts von den Schritten, die Eugen gethan, um Erkundigungen über sie einzuziehen und sie das Nöthige von seinem jetzigen Leben wissen zu lassen, – Schritte, die anfänglich in guter Absicht von Herrn Sidel, später in sehr böser vom Justizrathe vereitelt worden waren.

Die beiden Damen saßen in dem uns bekannten Zimmer, die Staatsräthin in ihrer Fensternische, Katharina vor ihr auf einem Sessel, mit einem Buche beschäftigt, aus dem sie der alten Dame vorlas. Diese fand hierin das beste Mittel, den Geist des jungen Mädchens zu bilden und sie in manchen nothwendigen Dingen vorwärts zu bringen, welche man bei ihrer früheren Erziehung gerade nicht besonders berücksichtigt hatte.

Ein Wink von der Staatsräthin beendigte diese Vorlesung; Katharina ließ das Buch in den Schooß fallen und sah die alte Dame fragend an.

»Ich habe heute keinen rechten Sinn für deine Lektüre,« sagte diese. »Reiche mir den kleinen Kalender dort von der Wand. – So, mein Kind, ich danke! – Heute ist der Achtzehnte; gegen Ende des Monats soll diese Verbindung vor sich gehen. – Und Eugen, der gar nichts von sich hören läßt! In D., wo er nach der Behauptung des Justizrathes war, ist er nicht mehr; ich habe Erkundigungen einziehen lassen. Gott, die Zeit verstreicht, und ich habe so gut wie mein Wort gegeben!«

Katharina horchte diesen halblauten Worten stillschweigend zu, ohne auch nur eine Sylbe darauf zu erwidern. Sie hatte wohl von den Verhältnissen dieses Hauses im Allgemeinen Kenntniß erhalten; doch hatte man, als man mit ihr darüber sprach, dies auf so wortkarge und unbestimmte Art gethan, daß sie mit ihrem gesunden und richtigen Takte sich nie eine Aeußerung erlaubte, welche andeutete, sie wolle mehr wissen, als man ihr gesagt.

»Wir werden auf einige Zeit die Stadt verlassen,« sagte die Staatsräthin nach einer Pause. »Natürlich wirst du mich begleiten, mein Kind; es wird dir etwas Neues sein, andere Gegenden und andere Menschen zu sehen. Wie lange wir ausbleiben, weiß ich noch nicht; vielleicht kürzere Zeit, vielleicht auch längere. – O, wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo Eugen wäre und warum er mir nicht schreibt! Er wird doch nicht die unglückselige Idee haben, als trage ich auch nur die geringste Schuld an jenem traurigen Vorfall!«

Schritte, die sich auf der Treppe vernehmen ließen, unterbrachen die Worte der alten Dame; sie schaute einen Augenblick auf ihre Uhr und dann auf die Thüre.

Der Justizrath trat ein.

Er ging auf das Fenster zu, reichte der Staatsräthin die Hand und machte Katharinen eine leichte Verbeugung.

Letztere bemerkte das gewöhnliche ruhige Lächeln auf seinen Zügen; die alte Dame aber, die seine Augen seit langen Jahren studirt hatte und jeden Blick derselben verstand und deutete, bemerkte in denselben wohl, daß ihn etwas ernstlich beschäftigte, irgend ein Gegenstand, den er in Gegenwart des jungen Mädchens nicht berühren wollte.

»Wir wollen unsere Vorlesung später beendigen,« sagte die Staatsräthin zu Katharina und machte hiezu eine bezeichnende Neigung mit dem Kopfe.

Das junge Mädchen folgte dem Winke augenblicklich, indem sie aufstand und sich in ihr Zimmer zurückzog.

»Was haben Sie?« fragte die alte Dame den Justizrath, der nun der lästigen Gegenwart einer dritten Person überhoben, eine ungeduldige Bewegung mit der Hand machte.

»Nichts Besonderes!« entgegnete er. »Ich erhalte so eben von Schloßfelden einen Brief von dem alten Manne.«

»Und was schreibt er?« fragte rasch die Staatsräthin.

»Nun, was er schon oft geschrieben, womit er uns gewöhnlich plagt: Bemerkungen über das Wohl und Wehe Ihrer Tochter.«

»Und was will er eigentlich?« fragte die alte Dame. »Ist etwas Besonderes da vorgefallen?«

»Das scheint mir nicht,« antwortete der Justizrath. »Aber er spricht wie immer von dem einfachen kindlichen Gemüthe des Mädchens, von ihren Neigungen und Wünschen, wie sie so gar nicht in die Welt passen würde; und der Schluß dieses Briefes ist wie der aller früheren: ihm das Mädchen noch zu lassen, nicht jetzt schon an ihre Verbindung zu denken.«

Die alte Dame wollte etwas antworten, doch fuhr der Justizrath schnell fort: »Sie werden begreifen, beste Sophie, daß ich Ihnen alles das mittheile, weil unsere Entschlüsse fest stehen und an ein Zurückgehen der einmal eingegangenen Verbindlichkeiten nicht zu denken ist. Sonst würde ich fürchten,« setzte er lächelnd hinzu, »daß Sie mit dem alten Herrn gegen mich Partei machten. Aber davon kann jetzt weiter keine Rede sein; ich hielt es nur für meine Pflicht, Sie von diesem Briefe in Kenntniß zu setzen.«

»Wofür ich Ihnen danke,« sagte ernst die Staatsräthin. »Ich weiß wohl, wir haben in dieser Sache unser Wort gegeben, und ich will auch hoffen und glauben, daß dieses Schreiben aus einer Grille des alten Mannes hervorgegangen. Es ist ja nicht anders möglich und wäre erschrecklich, wenn es nicht so wäre.«

»Das versteht sich von selbst,« entgegnete ruhig der Justizrath. »Und in seiner Stellung begreife ich das auch vollkommen. Er hat sich an Rosalie gewöhnt, er liebt das Mädchen; sie ist ihm ebenfalls zugethan, und da können Sie sich leicht denken, daß er alles Mögliche versucht, um sie bei sich zu behalten.«

»Aber wenn es anders wäre?« sagte nach einem Augenblicke des Stillschweigens hastig die Staatsräthin: »wenn sich das arme Kind selbst durch diese Verbindung unglücklich fühlte? Wenn es ihre Bitten wären, die ihm jenen Brief und die vielen anderen diktirt hätten?«

»Seien Sie darüber unbesorgt!« antwortete der Justizrath. »Wie ich Rosalien und die Verhältnisse kenne, so ist es gar nicht möglich, daß sie einen anderen Gedanken, einen anderen Willen haben könnte, als den unsrigen. Da drunten sind klare, offene Verhältnisse; deßhalb war der Ort so glücklich gewählt. Da konnte sich nichts ereignen, was im Stande gewesen wäre, unsere Plane zu durchkreuzen.«

Die Staatsräthin konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken und sagte hierauf: »aber das Herz eines jungen Mädchens ist nicht zu berechnen; ich kenne das auch. – Das muß ich Ihnen gestehen,« fuhr sie nach einer Pause fort, »ich habe meine Einwilligung zu dieser Verbindung nur gegeben, weil Sie mich beständig versicherten Rosalien komme nichts erwünschter, als das einsame Schloßfelden zu verlassen; weil Sie mir gesagt, das Mädchen kenne nur Einen Willen, den ihres bisherigen Pflegevaters, also durch diesen unsere Entschließungen.«

Es flog ein leichter Schatten über die Züge des Justizrathes, den aber die Dame nicht bemerkte, da sie bei ihren letzten Worten zum Fenster hinaussah. »Machen Sie sich keine weiteren Sorgen, Sophie,« sagte er in einem Tone, der einigermaßen ungeduldig klang. »Wir haben jetzt die Sache so vielfach besprochen und überlegt, so viele Berathungen gepflogen, so viele Plane entworfen und theils wieder verworfen, daß alles Uebrige unnütz wäre.«

»Jeder Mensch kann sich irren,« antwortete die alte Dame und blickte den Justizrath fest an. »Sie auch, verehrter Freund. Wer weiß, was in dem Herzen des armen Mädchens für uns bis heute verborgen lag! Wollen Sie sie zwingen, wenn sie Ihnen plötzlich erklärt, sie könne und wolle jene Verbindung nicht eingehen?«

»Vielleicht würde ich sie mit Ihrer Hülfe zwingen,« entgegnete kalt der Justizrath. »Doch seien Sie unbesorgt, so etwas wird nicht vorfallen. – Schloßfelden birgt nichts,« setzte er lächelnd hinzu, »was uns und den guten Herrn von Steinbeck bange machen könnte. Ich kenne mein Terrain vollständig.«

Die alte Dame zuckte leicht mit den Achseln und nahm ein Taschentuch in die Hand, um sich mit demselben leicht die Stirn zu wischen. »Ich hielt es für meine Pflicht, Sie von diesem Briefe in Kenntniß zu setzen,« fuhr der Justizrath fort. »Das wäre also abgemacht. Jetzt aber, Sophie, muß ich Sie bitten, Ihre Bestimmungen hinsichtlich jener Reise und der stattfindenden Verlobung zu treffen. Das ist vollkommen Ihre Sache, und werde ich mich nicht da hinein mischen.«

»Ich reise mit Katharine,« sagte bestimmt die alte Dame.

»Sie wollen das Mädchen mitnehmen?«

»Allerdings! Warum sollte ich sie hier zurücklassen?«

»Wie Sie wollen, Sophie. Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Und von sonstigen Bekannten, die zu dem Akte eingeladen werden sollen –?«

»Außer den von Ihnen bereits Bestimmten weiß ich Niemanden,« entgegnete die Staatsräthin.

»Herr von Steinbeck hat den Major Brander gewünscht, es ist fast sein einziger genauer Bekannter hier, und Sie werden wohl nichts dagegen einzuwenden haben.«

»Gewiß nicht!« erwiderte die alte Dame. »Ich finde es begreiflich, daß er als Zeugen Jemanden von seinen genauen Bekannten vorschlägt.«

»Schön,« sagte der Justizrath. »So hätte ich für heute nichts weiteres Dringendes und beurlaube mich bei Ihnen.«

Somit endigte die Unterredung, wie so manche ähnliche in diesem Zimmer: der Justizrath hatte erreicht, was er gewünscht. Und als er die Thüre hinter sich geschlossen, stieß die alte Dame ihren Fußschemel heftig von sich, stand von ihrem Sitze auf und schritt einigemal in dem Zimmer rasch auf und nieder.

Mit jedem Tage wurden ihr die Bande fühlbarer und lästiger, mit denen sie sich umschlungen wußte, und mit jedem Tage seufzte sie mehr und mehr nach der Stunde der endlichen Erlösung.


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