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Achtundvierzigstes Kapitel.

Frau Rosel beweist, daß die Eisenbahnen eine schädliche Erfindung sind; sie tauscht Geheimnisse aus, wodurch sie und der geneigte Leser etwas Neues erfahren.

Eugen und der lustige Rath hatten nach jenem Abend, wo sie droben auf dem Schloßberge Kapelle und Monument und so den Schauplatz einer für sie interessanten Geschichte gefunden, sich nicht vergeblich bemüht, etwas Näheres über die Sache zu erfahren, was übrigens alles mit der Erzählung des Doktor Wellen zusammentraf.

Frau Rosel, die Wirthin, war mit unseren beiden Freunden außerordentlich zufrieden; sie verzehrten ein ziemliches Geld, anständig für Reisende, außerordentlich dagegen für die Mitglieder einer herumziehenden Schauspielergesellschaft. Auch war Alles bei diesen beiden Herren so außerordentlich solid, von einem guten Hause beistammend, Kleidung, Wäsche, daß sie oftmals ihrer Tochter Marie versicherte: dergleichen sei ihr bei den anständigsten Reisenden noch nicht vorgekommen. Dies alles, sowie Eugen's und des lustigen Rathes artiges Benehmen hatte sie denn auch außerordentlich für die Beiden eingenommen, und wenn sie sich, mit Ausnahme des Direktors, mit der übrigen Schauspielergesellschaft nicht viel abgab, so schien es ihr dagegen nicht übel zu gefallen, wenn sich Eugen oder der lustige Rath in ein Gespräch mit ihr einließ.

Nachdem sie des Vormittags der Küche große Last und Hitze getragen, pflegte sie Nachmittags vor der Hausthüre zu sitzen, und dies war die Stunde, wo sie am liebsten ihre Audienzen gab. Auch war sie in diesem Augenblicke am meisten zum Ernst geneigt; denn Marie hatte alsdann mit der Anfertigung des Kaffee's zu thun und demnach keine Zeit, sie mit ihrem schelmischen Auge anzublinzeln oder ihr eine ungemein lächerliche Geschichte in's Gedächtniß zu rufen.

Eugen hatte sich eine Cigarre angezündet und lehnte unter der Hausthüre, während Frau Rosel davor saß, in dem Schatten der großen Lindenbäume. Es war einige Tage nach dem, an welchem Eugen mit dem lustigen Rath auf dem Schlosse gewesen war.

»Nun, Frau Rosel,« sagte der junge Mann, »jetzt sind Sie wieder einmal für heute fertig. Das muß für Sie keine Kleinigkeit sein, so den ganzen Morgen an dem prasselnden Herdfeuer zu stehen.«

»Gewohnheit, Herr Wellen,« entgegnete die freundliche Wirthin; »nur Gewohnheit! Zuweilen wird's einem wohl ein bischen warm, wenn man sich sehr herumjagen und bewegen muß, aber ich halte das für mich sehr gesund. Ich könnte freilich die Hände in den Schooß legen und mein Geschäft durch die Köchin und Marie versehen lassen; aber es ist jedenfalls besser, wenn ich selbst dabei bin. Jetzt ist die Plagerei auch nicht arg groß, es ist mit dem Wirthshausgeschäft nichts mehr. Da hätten Sie einmal vor ein paar Jahren da sein sollen, noch vor vier bis sechs, ehe sie da hinten herum die verdammte Eisenbahn – Gott verzeih' mir's! – gebaut haben. Damals mußte Alles hier durch; es war die große Straße, und Kaiser und König, die an den Rhein wollten, mußten sich halt bequemen und über den Berg hinüber. Das war einmal nicht anders, und sie mußten die Berge hinnehmen, wie sie gerade waren; hätte auch nie anders werden sollen. – Ich bitte Sie, Herr Wellen, haben wir nicht eine prächtige Chaussee und seit hundert Jahren daran genug gehabt? Hätte es wohl einem vernünftigen Geschöpf einfallen mögen, daß sie nun auf einmal hergehen wollen und eine Eisenbahn bauen, immer gerade zu, durch Alles hindurch, über Thäler hinweg und durch Berge? hätte man das vor zwanzig Jahren geglaubt?« Die Frau sah bei diesen Worten ziemlich entrüstet und fragend in die Höhe.

»Nein,« sagte Eugen, »man hätte es nicht geglaubt. Es ist aber auch in der That merkwürdig.«

»Merkwürdig, sehr merkwürdig,« entgegnete Frau Rosel. »Wissen Sie, wir bekümmern uns hier nicht viel darum, was sie in die Zeitungen schreiben, und wenn wir auch schon lange von den Eisenbahnen lasen, so dachten wir: nun, damit hat's gute Wege, das ist so eine Planmacherei wie viele andere. Da kommt eines Tages mein Pferdeknecht nach Hause – er war in Schmalzhausen gewesen, und nachdem er ausgespannt hat und in die Stube tritt, seufzt er tief auf. Nun, was gibt's denn, Heiner? – Ach, Frau, sagt er, jetzt wird's doch Ernst mit der Eisenbahn! Da drüben am Ameisenberg haben sie schon angefangen, da sieht's aus wie bei der Völkerwanderung, da sind zweitausend Italiener angekommen mit gelben Gesichtern und schwarzen Bärten, sie schlafen auf der Erde und essen nichts als Zwiebeln, und die wühlen eine Straße mitten durch den Ameisenberg durch, daß die Wände vierzig, fünfzig Fuß hoch an der Seite stehen bleiben. Ich lachte ihn aus und dachte: das Ding mußt du selbst sehen, und des anderen Tages fuhr ich da hinaus. Aber es war, weiß Gott, wie er gesagt: da waren sie am Wühlen, am Krabbeln und am Graben, und das dauerte fast zwei Jahre, und jetzt ist die Eisenbahn da, und wir haben den Schaden davon. Wenn ich wir sage, so meine ich nicht so sehr mich hier in der wilden Rose, als vielmehr die einsamen Fuhrmannsherbergen an der Straße. Die Leute sind merkwürdig ruinirt, und wo früher allnächtlich in den Ställen zwanzig, dreißig Pferde standen und vier Hausknechte waren, da wächst jetzt das Gras vor der Thüre, und der einzige Knecht, der da ist, spielt den langen lieben Tag durch mit dem Wirth einen Biergaigel, daß es zum Erbarmen ist.«

Eugen, der ganz gut wußte, daß er den ersten Redestrom der Wirthin geduldig mußte ablaufen lassen, ehe er ihn dahin zu leiten vermochte, wo er ihn haben wollte, pflichtete ihr vollkommen bei über die Nutzlosigkeit der Eisenbahn und sagte nach einer kleinen Pause: »Aber Ihnen hier in dem wohlhabenden Dorfe hat sie eigentlich doch nicht viel geschadet.«

»Geschadet genug!« sagte die Wirthin. »Was war das früher hier für ein Leben mit Extraposten! Eins gab dem Anderen die Thüre in die Hand. Wir hatten oft bei achtzehn Pferde; jetzt kommt noch ein einziges Paar, das den unbedeutenden Dienst nach Schmalzhausen versieht.«

In diesem Augenblicke kicherte es leicht hinter Eugen, und als er sich umwandte, stand Marie am Hausgange, putzte eine porzellanene Kaffekanne mit einem weißen Tuche und machte ein außerordentlich vergnügtes Gesicht.

»Hast du wieder was zum Lachen?« sagte die Wirthin. Doch verzog sich auch ihr Gesicht auf eine komische Art, und ihre beiden Ellbogen fingen an zu zucken, wie es gewöhnlich in solchen Augenblicken der Fall war. »O, es ist nichts!« versetzte Marie mit scheinbarem Ernste; »ich wollte nur sagen, daß es recht schade ist, daß keine Extraposten mehr kommen; es passiren auch gar keine Geschichten mehr.« Damit fuhr sie lachend in die Küche zurück.

»Das ist ein gottloses Kind!« bemerkte Frau Rosel. »Sie muß immer ihre Mutter plagen.« Dabei aber lächelte sie im Gegensatze zu ihren Worten aufs Allerfreundlichste.

Eugen nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben die Wirthin. »Die wilde Rose,« sprach er alsdann nach einer kleinen Weile, »liegt aber doch vortrefflich, und wenn droben in dem Schlosse die Herrschaft ist, so muß doch zuweilen ein Besuch kommen, der Ihnen auch etwas Gutes einbringt.«

»Wenn die Herrschaft droben ist?« sagte die Frau und zuckte mit den Achseln. »Die alte war seit langen Jahren nicht da, und die jetzige scheint's auch nicht besser machen zu wollen.«

»Gehört denn das Schloß nicht mehr dem Grafen D.?«

»Es ist vor einem Jahre verkauft worden.«

»Ah! « machte Eugen, »das habe ich nicht gewußt.«

»Wir haben es auch nur zufällig erfahren. Der alte Verwalter ist ein Geheimnißkrämer, und ehe der was sagt, dauert's lange.«

»Also verkauft ist die ganze schöne Herrschaft? – Und an wen, Frau Rosel?«

»An eine Herrschaft im Württembergischen,« entgegnete die Wirthin. »Aber wie sie heißt, weiß ich wahrhaftig nicht. Es hat sich noch Niemand von ihnen sehen lassen. Eine Gerichtsperson hat den Kauf besorgt; weiter wissen wir nichts. Aber für die Gebäulichkeiten und Alles ist es gut, daß das Schloß in andere Hände kam, denn jetzt wird etwas darauf verwendet. Sie werden gesehen haben, in welch' schönem Stand Alles da droben ist.«

»Allerdings habe ich das gesehen,« entgegnete Eugen; »ich ließ mir Alles zeigen; nur Eines wundert mich: warum verkaufte die frühere Herrschaft das Schloß, da sie doch noch vor ein paar Jahren in der Kapelle desselben ein so schönes Monument setzen ließ?«

»Wer weiß, was so reichen Leuten oft durch den Sinn fährt!« antwortete Frau Rosel. »Aber das Monument wäre bald die Ursache geworden, daß der Gutsverkauf wieder rückgängig wurde; denn die frühere Herrschaft wollte die Marmorfiguren wegführen lassen, was aber der neue Käufer – eigentlich der Verwalter droben – unter keiner Bedingung zugeben wollte.«

»Lag denn beiden Theilen so viel an den marmornen Figuren?« fragte Eugen.

»So scheint es. Sie stehen auf dem Grabmal einer Gemahlin des früheren Besitzers.«

»Aber was konnte dem jetzigen daran liegen?«

»Das ist eine eigene Geschichte,« sagte Frau Rosel und schlug die Arme über einander, »Eigentlich eine dumme Geschichte; mich hat sie schon oft genug geärgert. Aber Sie waren ja selbst droben,« fuhr sie fort und blickte ihren Gast an; »Marie hat es mir gesagt. Sie haben ja zufällig die beiden Mädchen daneben gesehen; ist Ihnen dabei nichts aufgefallen?«

»Richtig!« sprach Eugen nach einer absichtlichen Pause des Nachdenkens und einer erkünstelten Ueberraschung; »das ist wahr, Frau Rosel, jetzt fällt mir's ein. Das sind ja die Portraits der beiden Mädchen. Wie man auch so was nicht gleich merkt! – Und das ist doch absichtlich geschehen?«

»Natürlich absichtlich! Hier im Hause hat der Bildhauer gewohnt, der das Ding droben gemacht hat. Es war ein braver junger Mann!« sagte die Frau mit einem Seufzer; »hier, wo ich jetzt sitze, hat er oft gesessen.«

»Ei, ei, Frau Rosel! Das Portrait der Marie hat er auch gemacht; da hat er wohl Ihr Schwiegersohn werden wollen, nicht wahr?«

»Ach, gehen Sie mir weg mit Ihren Possen!« sagte die Frau so ernst, als es bei ihrem freundlichen Gesichte möglich war. »Wenn das der Fall gewesen wäre, so hätte ich bei Gott Amen dazu gesagt; denn, wenn ich auch im Ganzen all das Künstlervolk – nehmt mir's nicht übel, – mögen es nun Musikanten oder Schauspieler, oder Maler oder Steinhauer sein, nicht besonders leiden kann, so weiß ich doch Ausnahmen zu machen. Und der Professor das war eine solche Ausnahme. Aber der hat nie an meine Marie gedacht.«

»Und an wen dachte er denn?«

»Nun, an die Andere, an, die Rosalie. Ach, das war Ihnen eine Liebe! So was Schönes und Jammervolles will ich nicht mehr erleben.«

»Sie machen mich neugierig, Frau Rosel,« antwortete Eugen. »Also der Bildhauer liebte die Tochter des Verwalters?«

»Die Rosalie, allerdings, und sie liebte ihn auch; die Marie wußte Alles. Und mit dem Verwalter hat er auch darüber gesprochen und hat sein gutes Auskommen nachgewiesen und wollte das Mädchen heirathen. – Umsonst! Wissen Sie, Herr Wellen, ich sage Ihnen da, was ich weiß. Aber da droben in dem Schlosse sind Geschichten, über die man nicht klar werden kann. Der Verwalter mochte den jungen Mann ebenfalls leiden und jammerte über die Geschichte.«

»Und gab ihm das Mädchen doch nicht?«

Frau Rosel schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »Er wollte nicht. Er that die Rosalie fort, und als sie abgereist war und der Professor sah, daß nichts zu machen sei, ging er ebenfalls in die weite Welt.«

»Das ist sehr traurig!« meinte Eugen.

»Freilich ist es sehr traurig,« entgegnete Frau Rosel. »Ach! er hat als noch geschrieben, und was für herzbrechende Briefe! Wissen Sie,« fuhr die Wirthin fort und sah sich vorsichtig um, »mit der Marie habe ich nie etwas von den Briefen gesprochen. Frau Rosel – sagte der Verwalter in der Zeit zu mir, – lassen Sie die Geschichte gehen; als ehrlicher Mann schwöre ich Ihnen zu, daß da nichts zu machen ist. Sagen Sie auch der Marie, sie soll mit meiner Tochter nicht mehr darüber sprechen, und wenn Briefe kommen, so lassen Sie sie nichts davon wissen. Versprechen Sie mir das. Nun, ich habe es ihm versprochen und Wort gehalten.«

»Und er schrieb Ihnen mehrmals?« fragte Eugen nach einem längeren Nachdenken; »und in letzter Zeit?«

»In letzter Zeit nicht mehr,« entgegnete die Frau. »Es mögen nun über zwei Jahre sein, daß ich nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß auch bestimmt, warum er nicht mehr geschrieben. Glauben Sie mir, Herr Wellen, er ist zu Grunde gegangen.«

»Ah!« machte Eugen.

»Gewiß!« fuhr die Frau fort; »ich bin davon überzeugt. Da war im Jahr 1848 ein Krieg drunten in Italien« – das sagte sie mit ganz leiser Stimme, nachdem sie sich vorher umgeschaut, – »dahin ist er gegangen; denn er schrieb mir das und setzte hinzu, er wolle in die Schlacht gehen, er wolle seinen Tod suchen.«

»Und Rosalie?« fragte Eugen.

»Das arme Herz träumt sich auch nichts Gutes. Ach, wie haben sich die Beiden so lieb gehabt! Ja, es ist nicht zum Verantworten! Sehen Sie sich das Mädchen an; schön ist sie noch immer, aber bleich wie der Tod. Es geht ihr ans Leben, und wenn sie auch nicht klagt und weint, so bricht es ihr langsam das Herz ab.«

»Und hat der junge Bildhauer an Rosalie nie geschrieben?« fragte Eugen. »Hat er ihr seinen Entschluß nicht mitgetheilt?«

»Ich glaube wohl, daß sie etwas der Art weiß,« entgegnete die Frau; denn schon seit zwei Jahren weint und klagt sie auch gegen die Marie nicht mehr; sie ist ruhig und still geworden, und wenn sie über jene Zeit spricht, so kann sie wohl sagen: ach, Marie, ich habe auf der Welt doch nichts, als Leid und Schmerz; wenn es nicht sündhaft wäre, so zu denken, so möchte ich wohl, ich könnte sterben. Dann sehe ich ihn wohl wieder! – Und dann haben die Beiden zusammen geweint, und meine Tochter, die ihre Freundin sehr lieb hat, erzählte mir das wieder und setzte hinzu: ach, ich möchte mit der Rosalie sterben, gewiß recht gern, wenn ich nur Jemanden da droben zu erwarten hätte! – Ich habe sie aber heimgeschickt und ihr den Kopf ordentlich zurecht gesetzt.«

Eugen wußte nicht, was er machen sollte, ob es thunlich sei, die Mittheilungen, die er über jenen jungen Mann von Doktor Wellen erhalten, sei es durch Marie oder den Verwalter selbst, an Rosalie gelangen zu lassen. Er verstand wohl die trüben Ahnungen, die das Herz des armen Mädchens erfüllten, die Ahnungen über das Schicksal des Mannes, den sie so innig geliebt, und es dünkte ihm nicht grausam, wenn er ihr die traurige Gewißheit hierüber verschaffte. Ist doch die traurigste Gewißheit weit besser und nicht so quälend, als immerwährende bange Zweifel.

Die Wirthin schien, ohne es zu wissen oder zu wollen, in seine Gedanken einzugehen; denn sie sagte: »Wenn man nur etwas Bestimmtes wüßte über das Schicksal des armen jungen Mannes, wenn man es nur Schwarz auf Weiß hätte! Es läge doch eine Art von Beruhigung für das unglückliche Mädchen darin. Ueber Jemand, der gestorben ist, klagt sich weit sanfter und besser, über ihn beruhigt sich das Herz leichter, als über Jemand, von dem man keine Sylbe weiß, wo er geblieben ist.«

»Aber Rosalie glaubt, daß er todt sei?« fragte Eugen bekümmert.

»Sie sagt, sie wisse es gewiß,« entgegnete Frau Rosel. »Es ist ihr etwas Eigenthümliches passirt. Sie können sich denken, daß die Kapelle ihr Lieblingsplatz ist. Da saß und sitzt sie oft Stunden lang und betrachtet die Marmorbilder und denkt an ihn. Und vor zwei Jahren, im Jahre 1849, war sie ebenfalls da, an einem trüben Nachmittage im Frühjahre – Marie war nicht droben; die arme Rosalie war ganz allein in der Kapelle. Da habe sie inniger als je an ihn gedacht und habe ihn im Geiste vor sich gesehen, als sie unwillkürlich ihre Augen geschlossen; aber nicht lebend und gesund, wie sonst wohl, sondern bleich und mit Blut bedeckt. Und sie habe plötzlich die Augen wieder geöffnet, denn es sei ihr gewesen, als fahre Jemand mit der Hand über die Marmorfiguren. Aber das war nichts unnatürliches, sondern nur ein verwelkter Blumenkranz, der von selbst losgerissen und herabgefallen war. Aber den Blumenkranz hatte sie damals als ein Zeichen um ihr eigenes Bild gehängt und hatte zu sich selber gesagt: dort soll er hangen bleiben, bis ich von ihm sichere Nachricht erhalte. Der fiel nun herunter, und das durchschauerte sie. Als Marie an dem Abend hinauf kam, warf sie sich ihr weinend um den Hals und sagte: du kannst mir glauben, heute ist er gestorben. Das war am 23. März.«

»Ja, sie hatte Recht!« rief Eugen erschüttert, »das war der Tag der Schlacht von Novara.«

Die Wirthin sah den jungen Mann ängstlich fragend an und nickte mehrere Mal mit dem Kopfe. »Ja, ja,« sagte sie nach einer Pause, »so hätte es geheißen, meinen Sie – Novara. Ja, ich habe es nicht vergessen. Aber sprechen Sie, Herr Wellen, was wissen Sie um Gottes willen davon? Sagten Sie nicht, es wäre so, er wäre gestorben?«

»Das sagte ich gerade nicht, gute Frau Rosel,« sprach Eugen einigermaßen bestürzt; »sondern ich meinte nur –«

»Macht mir keine Flausen!« antwortete die Frau. »Habe ich mit Ihnen offenherzig gesprochen, so thun Sie es auch mit mir. Sie sind mir ein feiner Vogel! Gehen Sie da her und forschen mich aus und wissen am Ende mehr als ich! Pfui! schämen Sie sich!«

»Sie thun mir wahrhaftig Unrecht! Ich will Ihnen gern sagen, was ich weiß. Allerdings habe ich durch Zufall eine Geschichte erfahren, die sehr viel Aehnlichkeit mit der Ihres jungen Bildhauers hat. Aber wie hätte ich ahnen können – und ich glaube es noch nicht, – daß es Eine und dieselbe Person ist.«

»Aber die Schlacht von Novara!« meinte ängstlich die Frau, »am 23. März – das trifft doch zusammen.«

»Ach, meine gute Frau,« entgegnete Eugen, »das will am Ende nichts sagen. Da sind Viele geblieben, sehr Viele, und haben ihren Eltern und Verwandten nicht mehr schreiben können, wie es ihnen ergangen ist.«

»Ziehen Sie sich nicht so zurück!« rief emsig die Wirthin. »Gottes Wunder! es wäre wahrhaftig besser, wenn wir etwas Genaueres über diese trostlose Geschichte erführen.«

»So schicken Sie wenigstens Ihre Tochter hinein,« sagte Eugen, indem er sich zu der Wirthin vornüber neigte. »Ich glaube, die braucht das jetzt nicht zu hören.«

»Da haben Sie recht,« antwortete die Frau und rief mit lauter Stimme: »Marie, geh in mein Zimmer hinauf, in der dritten oder vierten Schublade der großen Komode wirst du ein Tuch finden, roth mit weiß. Setz' dich damit gleich oben hin und säume es; ich brauch's nachher. – So,« wandte sie sich zu dem jungen Manne, »jetzt ist die Luft rein, jetzt sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Darauf hin erzählte Eugen, was er damals in jener Sitzung der Leimsudia über den Freiwilligen, der in der Schlacht von Novara geblieben war, von dem Doktor Wellen erfahren, und alle Einzelnheiten, die sich auf den Aufenthalt des jungen Mannes in dem Dorfe hier bezogen, fand die Wirthin so getreu und wahr, daß man unmöglich daran zweifeln konnte, der Bildhauer, der droben das Denkmal gearbeitet, sei derselbe, der sich in Italien so brav gehalten und dort den Tod gesucht und gefunden.

Frau Rosel legte die Hände in den Schooß, und wir müssen gestehen, daß über die sonst immer lächelnden und freundlichen Wangen der guten Wirthin ein paar dicke Thränen herab rollten.

»So hat also das arme Mädel in ihrem Herzen richtig gewußt, wann ihr Liebster geendet,« sagte die Frau nach einer Weile. »Aber was meinen Sie, Herr Wellen? Ich halte es für unbedingt nothwendig, den Verwalter droben, der im Allgemeinen ein sehr braver Mann ist, von diesem traurigen Ende in Kenntniß zu setzen. Es ist besser, daß sowohl er wie Rosalie wissen, woran sie sind.«

Eugen konnte nicht umhin, der Frau in diesem Punkte Recht zu geben, und nach einigem Ueberlegen entschloß sich die Wirthin, trotz des heißen Tages, selbst den Berg hinauf zu steigen, um mit dem Verwalter über diese Angelegenheit zu sprechen.

Eugen sollte sie begleiten, doch mochte er sich dazu nicht entschließen. Er nahm einen unbegreiflich innigen Antheil an dem Mädchen; er wußte selbst nicht, weßhalb. »Was nützt es,« sagte er der Wirthin, »daß ich bei einer so traurigen Scene gegenwärtig bin? Will mich Rosalie nach ein paar Tagen sprechen und von mir nochmals alle Einzelheiten hören, so bin ich gern dazu bereit. Aber glauben Sie mir, es ist besser, wenn sie ihr Unglück vom Vater erfährt ohne Beisein von Zeugen.«

Frau Rosel fand dies begründet und schickte sich darauf an, den bei dem heißen Nachmittage für sie doppelt sauren Gang zu machen. Da sie aber die vorwitzigen Fragen ihrer Tochter fürchtete, so ging sie, ohne ein Wort weiter zu sprechen, in das hintere Gastzimmer, rückte sich dort vor dem Spiegel ihre Haube zurecht, band eine frische weiße Schürze vor und verlor sich, ohne viel Geräusch und Aufsehn, aus dem Hause, gerade, als wollte sie in die nächste Nachbarschaft einen Gang machen.

Eugen ging hin und suchte den lustigen Rath auf. Doch fand er ihn nicht in ihren gemeinschaftlichen Zimmern, auch nicht auf der Terrasse neben dem Hause, noch weniger bei dem vortrefflichen Herrn Trommler, der im Garten unter einem großen Lindenbaum ausgestreckt lag und Hinko, den Freiknecht, studirte. Am Ende ist er gar im Theaterlokale, dachte Eugen, als er so gar keine Spur von dem Freunde fand, und stieg abermals die Treppe hinauf, um droben zu suchen. – Hier war er auch nicht. Der Saal lag öde und finster, und es war Niemand da, als Herr Holder, der mit dröhnenden Schritten auf der Bühne hin und her ging und ebenfalls eine Rolle zu memoriren schien.

Eugen, dem es gar nicht darum zu thun war, diesen würdigen Kollegen zu stören, zog sachte den Kopf wieder zurück und wollte eben die Treppe wieder hinabsteigen, als er neben sich laut lachen hörte und dazwischen die Stimme des Herrn Sidel vernahm.

Da die Thüre, aus welcher dieses Lachen erscholl, zu den allgemeinen Wirthschaftszimmern gehörte, dieselbe auch nur angelehnt war, so drückte Eugen sie leise auf, sah hinein und erblickte zu seinem nicht geringen Erstaunen den lustigen Rath, wie er eben beschäftigt war, der kleinen Marie zu helfen, die dem Befehl ihrer Mutter gemäß eifrigst an dem roth und weißen Tuche zu nähen schien. Obgleich sich nun die Hülfe des lustigen Raths darauf beschränkte, daß er sehr unnöthiger Weise zwei Zipfel des Tuches mit seinen Händen ausgebreitet hielt, so schien doch Marie über diese Unterstützung nicht sehr ungehalten zu sein; denn sie lachte laut auf, so oft Herr Sidel sich den harmlosen Spaß machte, das Tuch ihrer Hand zu entreißen, und schien gar nicht einmal sehr böse darüber, daß sie dadurch genöthigt war, ihre Nadel nicht nur wieder zu suchen, sondern auch aufs Neue einzufädeln.

Nachdem Eugen diesem Spiele einen Augenblick zugeschaut, trat er leise wieder zurück, ging an die Treppe, trat dann mit starken Schritten auf die halb geöffnete Thüre zu und sagte darauf sehr laut, als spreche er mit Jemand drunten: »Haben Sie Herrn Müller nicht gesehen?« und alsdann schritt er wieder auf die Thüre zu und trat geräuschvoll in das Zimmer.

Hier hatte sich unterdessen die Scene verändert. Der lustige Rath und Marie hatten ihre Stühle einen guten Schritt aus einander gerückt und schien Ersterer beim Nähen nicht mehr behülflich zu sein, vielmehr hatte er das roth und weiße Tuch fahren lassen, sich sogar halb abgewandt und blickte mit einem außerordentlich gleichgültigen Gesichte zum Fenster hinaus.

»Ah, da bist du!« rief er dem eintretenden Eugen entgegen.

»Ja, da bin ich,« sagte dieser. »Du hast mich vielleicht gesucht?«

»Gesucht nun gerade nicht,« meinte der lustige Rath, »aber ich habe dich erwartet; du willst wahrscheinlich spazieren gehen.«

»Wenn es dir recht ist,« antwortete Eugen lachend, »so gehen wir zusammen. Willst du aber da bleiben, so gehe ich allein.«

Marie, die sich selbst nicht so in der Gewalt hatte, wie der ehemalige Schullehrer, war roth geworden wie das Tuch, welches sie in ihren Händen hielt. Es mochte vielleicht der Widerschein eben dieses Tuches sein; und der lächelnde Blick, mit dem Eugen sie betrachtete, brachte sie so außer Fassung, daß sie aufstand und davon lief.

»Warum läuft sie fort?« fragte Eugen so unbefangen wie möglich.

»Nun, begreiflicher Weise vor dir,« entgegnete der lustige Rath mit einem leichten Aerger. »Du hast aber auch eine Manier, die Leute anzuschauen –«

»Daß sie in Verlegenheit kommen müssen,« antwortete laut lachend Eugen.

»Danach die Leute sind,« entgegnete achselzuckend Herr Sidel.

Und damit gingen die Beiden fort, um einen kleinen Spaziergang zu machen.

An diesem Nachmittage mußte übrigens der Genius der Zusammenkünfte, wenn es einen solchen gibt, seine Flügel über dem Wirthshause zur wilden Rose schwingen. Denn in einer schattigen Partie des Gartens, ziemlich entfernt von dem Lindenbaume, unter welchem Herr Trommler lag, saß ein anderes Paar und schien sehr vertraulich mit einander zu sprechen.

Es war dies Herr Hannibal und die blonde Schwester der Prinzipalin.

Beide hatten offenbar eine Rolle zusammen studirt; denn ein paar vergilbte Papierhefte lagen zu ihren Füßen im Grase. Doch mußten sie eben diese Rollen bereits auswendig kennen, denn sie blickten nicht hinein und sprachen doch Worte, die sicherlich irgend einem Drama angehören mußten. Die blonde Schwester saß auf einer Rasenbank und hatte den Kopf in malerisch schöner Haltung an einen Baumstamm gelehnt, der zufällig hinter ihr empor wuchs. Herr Hannibal saß etwas tiefer auf einem umgekehrten Fäßchen und schaute zu ihr in die Höhe.

Die Unterhaltung schien einen Augenblick in's Stocken zu gerathen. Endlich nahm sie das Wort. »Herr Hannibal,« sagte sie und bewegte eine Aster mit langem Stiele vor ihrem Gesichte hin und her, »Sie sehen, welchen Antheil ich an Ihnen als Künstler und Mensch nehme. Deßhalb ist es nicht recht von Ihnen, mir gegenüber den Geheimnißvollen zu spielen. Daß Sie früher in einer anderen Laufbahn waren, als Ihre jetzige ist, sah ich auf den ersten Blick, Sie und Ihre beiden Collegen; warum nun fortwährend läugnen? – Sie sind nicht das, was Sie scheinen.«

Hannibal seufzte.

»Ja,« fuhr die Dame fort, »auch der Name, mit dem Sie bei uns auftreten, der Name Hannibal, obgleich von sehr schönem Klange, ist ein anderer, angenommener; Sie heißen in Wahrheit anders.«

Hannibal seufzte abermals.

»Glauben Sie,« nahm die Blonde wieder das Wort, »daß Sie sich in meinen Augen herabsetzen würden, indem Sie mir eingestehen, daß Sie früher in anderen Kreisen gelebt, Sie und Ihre Freunde? O, Herr Hannibal« (hier seufzte die Dame ihrerseits), »ich weiß wohl, daß es oft sonderbare Motive sind, welche junge Leute von Stand veranlassen oder nöthigen, ihre bisherige Stellung aufzugeben und sich an uns anzuschließen. Nennen Sie mir die Gründe, welche Sie und Ihre Freunde dazu bewogen, hieher zu kommen, namentlich das Motiv, das Sie dazu antrieb, theurer Herr Hannibal! Ich bin darauf gefaßt, Alles zu hören, selbst wenn dieses Motiv eine unglückliche Liebe gewesen wäre.«

Bei diesen Worten sah der junge Künstler die Dame mit offenem Blicke an und sagte: »Nein, es war keine unglückliche Liebe!« – Und das war keine Unwahrheit.

»Aber Sie gestehen mir ein,« sagte sie mit einem freundlichen Lächeln, »daß Sie sich früher in anderen Kreisen bewegt haben.«

»Ich will Ihnen dies eingestehen. Aber weiter kann und darf ich Ihnen nichts sagen.«

»Sie lebten in guter Gesellschaft?«

»Vielleicht.«

»Sie und Ihre Freunde sind von Stande!« fuhr sie mit bestimmtem Tone fort und setzte hinzu, indem sie ihn mit ihrer Aster sanft auf den Kopf schlug: »O, nur Eines gestehen Sie mir, gewiß, es hat Sie nur die Lust, eine Zeit lang unser Leben zu führen, zur Gesellschaft gebracht? Sie sind unabhängig, reich, Sie können morgen ein anderes Leben beginnen, es hat Sie keine traurige, finstere Vergangenheit zu uns geführt?«

Hannibal schauderte gelinde zusammen, als er diese Worte vernahm und an den Justizrath Werner dachte und an den Aktenfascikel, welcher jetzt vielleicht auf dessen Schreibtisch lag.

Sie aber blickte ihn schmachtend an und wiederholte mit süßem Lächeln: »nicht wahr, theuerster Herr Hannibal, Sie haben es nicht nöthig, Künstler zu bleiben, um sich in dieser Welt fortzubringen? Im Verein mit Ihren beiden anderen Collegen, Ihren beiden Freunden, werden Sie uns morgen, übermorgen verlassen und, in der rothsammtnen Loge irgend eines Hoftheaters sitzend, über die Stunden lachen und spotten, die Sie bei uns zugebracht?«

»Dieses Letztere gewiß nicht!« sagte ernst und bestimmt der junge Künstler und schaute einigermaßen verlegen um sich; denn es wäre ihm sehr erwünscht gewesen, wenn irgend ein kleines Naturereigniß ihm von dieser Unterredung weggeholfen hätte.

Doch der Himmel blickte klar und blau auf die beiden Liebenden herunter, ebenso wie auf andere Menschen, unter ihnen auch auf die Frau Rosel, welche, so schnell es ihr möglich war, den Schloßberg hinauf stieg.


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