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Johann Kaspar Lavater

Johann Kaspar Lavater.

Ulrich Hegner, Beiträge zur Kenntniß Lavaters (1804); Jungs Erinnerungen an Lavater (Frankfurt 1813); G. Geßner Lebensbeschreibung Lavaters, 2 Bände (Winterthur 1802-4); Göthe, Wahrheit und Dichtung (Buch XIV. und XVI.); Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirken von F. W. Bodemann (1856).


Unter den Männern, die in der Bildungsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts bedeutsam erscheinen, ragt Lavater in ganz eigenthümlicher Weise hervor, und charakterisirt ganz besonders die siebenziger und achtziger Jahre.

Er ward als das zwölfte Kind seiner Eltern zu Zürich geboren den 15. Dezember 1741. Sein Vater, Doktor der Medizin und Mitglied der Regierung, stand unter seinen Mitbürgern in großer Achtung wegen seiner erprobten Rechtlichkeit und seines natürlichen Verstandes. Er lebte still in seinem Berufe, hielt in seiner Familie auf Gottesfurcht, versäumte nicht, täglich seinen Abschnitt in der Bibel zu lesen, und hatte sonst keine hervortretenden Leidenschaften oder Neigungen; nur Neuigkeiten hörte und erzählte er gern. Die Mutter dagegen war im Gemüth viel bewegter und unruhiger, dabei aber von Herzen fromm und eine sehr tüchtige Hausfrau; ihre leicht erregte Einbildungskraft suchte gern das Große, Ueberraschende, ihre Wißbegierde war unersättlich, dabei konnte sie auf ihren scharfen Verstand im Vergleich mit anderen Frauen wohl stolz sein. Es fehlte ihr nicht an Strenge und Eifer in der Erziehung ihrer Kinder, doch ihr Temperament ließ es zu keiner Folgerichtigkeit kommen.

Schon früh trat bei dem kleinen Kaspar (wie das bei so zart organisirten Naturen häufig zu geschehen pflegt) ein sehr ungleiches Wesen hervor: er war bald still, bald höchst aufgeregt, indolent und wiederum höchst empfindlich, gutmüthig und heftig. Da mußte denn zuweilen das probate Hausmittelchen der Birkenreiser angewendet werden. In der Schule, wohin er schon in seinem vierten Jahre geschickt wurde, war er sehr unachtsam und flüchtig, und mit dem Lernen wollte es darum nicht recht vorwärts; vor dem kleinsten Ruthenstreich fürchtete er sich aber außerordentlich und gerieth schon in die bitterste Angst, wenn ein Mitschüler gezüchtigt wurde. Doch der Schulmeister, dem sein drolliges Wesen gefiel, hatte ihn sehr lieb und bewies die größte Geduld mit seinen Fehlern. Er tröstete die über die langsamen Fortschritte des Kindes ungeduldigen Eltern öfters mit den Worten: »Es wird doch noch was aus dem Kasparlin«. Phantasiebegabte Naturen versprechen stets mehr, als sie halten, und so mochten die Eltern Kaspars vielleicht größere Erfolge in kürzerer Zeit erwarten. »Wenn ich meine frühesten Jugendjahre zurück denke«, sagt Lavater selbst, »so erinnere ich mich noch lebhaft, daß ich erstaunlich viel fürchtete, litt, bemerkte, fehlte, ohne es irgend einem Menschen sagen zu können: ich war die Blödigkeit, Schiefheit, Furchtsamkeit selbst und hatte dabei doch auch wieder eine naive, in's Lächerliche fallende, Jedem sich mittheilende Offenherzigkeit.« Die Eltern verfuhren übrigens auch allzu behutsam mit ihm, indem sie ihm eine Menge von Knabenspielen untersagten, trotzdem, daß er so gern auf der Straße sich tummelte. Da schaffte er sich denn wohl selber einen Zeitvertreib, indem er etwa aus weichem Siegelwachs von allerlei Farben Figuren bildete. Aber Ausdauer war auch bei diesen selbsterfundenen Spielen nicht; so schnell es angefangen war, so schnell blieb's auch wieder liegen.

Schon am Ende des sechsten Jahres kam er auf die lateinische Schule, und schon in den unteren Klassen traten seine religiösen Neigungen sehr bestimmt hervor. Bibellesen und Gebet wurden ihm Bedürfniß, und er glaubte schon jetzt an die stetige Erfüllung seiner Bittgebete. Er äußerte sich später darüber also: »Es fachte sich in meinem Herzen eine sanfte Gluth an, etwas Höheres zu suchen, ich wußte nicht was? Lustig zwar in der Freiheit und bei Knabenspielen, aber in jedem stillen einsamen Momente wieder voll Ekel an diesen leeren Lustbarkeiten, voll Bedürfnisses eines höheren Objekts, was blieb mir übrig, als eine Zuflucht zu Gott? Gebrauch Gottes ist eine der ersten Ideen und tiefsten Grundgefühle meiner Jugend: Gott war mir Bedürfniß, ich suchte Gebrauch von ihm zu machen. Freilich blieb ich äußerlich noch so ziemlich, was ich immer gewesen war, flüchtig und lustig; auch hatt' ich durchaus nicht die Gabe zu hören, was mir in Ansehung meiner Mutter, die mich nach jeder Predigt um den Inhalt fragte, viel Mühe und Angst machte. Da ich theils nicht Aufmerksamkeit genug hatte, theils die Kanzelvorträge nicht verstand, so gerieth ich während der Predigt aufs Bibellesen. In meiner kleinen Handbibel, die ich mit zur Kirche nahm, las ich mit unersättlicher Begier, besonders im Alten Testament die Bücher Samuelis, der Könige und der Chronik – vorzüglich aber die Geschichte des Elias und Elisa. Meine Religion war mir gerade damals das, was man ein Arkanum nennt; es war mir, wie's einem sein muß, der den Stein der Weisen zu haben glaubt. Indessen warf mich meine Flüchtigkeit, meine unersättliche Neugier, mein Leichtsinn immer wieder von meinen Höhen hinab. Da wurde mir denn das Abbitten besorglicher Strafen, oder das Gebet, daß meine Mutter gewisse Dinge von mir nicht erfahren möchte, besonders geläufig; und da solche Gebete zu meinem größten Erstaunen von dem besten Erfolge waren, so attachirten mich diese Erfahrungen an Gott, machten mich zugleich aber auch wieder leichtsinnig! – Obgleich meine Mutter unaufhörlich ihren tiefen, unversöhnlichen Haß gegen alles Lügen aufs Nachdrücklichste bezeugte, obgleich ich aus ihrem Munde nie eine Unwahrheit gehört hatte, obgleich ich in meiner frühen Jugend schon so viel Gottesfurcht hatte, daß ich nicht so leicht sündigte, so gestehe ich dennoch, daß ich wegen der Strenge meiner Mutter oft zur Lüge meine Zuflucht nehmen mußte. Verläumdung, falsche Anklage, Lüge zum Nachtheil Anderer war mir unmöglich, aber die Nothlüge glaubte ich oft nicht umgehen zu können. Und war mir dann bange, so bat ich Gott, doch zu verhüten, daß es nicht an's Licht käme, weil ich untröstbar gewesen wäre, wenn mich meine Mutter ein einziges Mal bei einer Lüge ertappt hätte. – Von Christus hatte ich damals noch keinen Begriff, wie denn das Neue Testament mich viel weniger rührte, als das Alte. Christus war für das Attachement meines Herzens damals eine noch gar nicht existirende Person; mein Herz bedurfte seiner noch nicht, es verlangte nur nach einem Gebet-erhörenden Gott.«

Mit der Liebe zu Gott verband sich die Lust zum Großen, Erhabenen, Geheimnißvollen, so daß er in seiner Phantasie sich ausmalte, wie schön es sei, wenn er Anführer einer Diebsbande würde, oder in Gefangenschaft geriethe: die Idee, aus dem Verborgenen herauszuwirken in's Weite, Große, lag hier ebenso zum Grunde, wie bei den Versuchen, durch Gebet eine Sache im Geheimniß bewahren zu können durch die Mitwirkung Gottes. »Es ist,« sagt Lavater, »ein unaustilgbarer Grundzug meines Charakters, ungeheuer große Dinge zu sehen, in Gedanken zu bauen, zu veranstalten – und zwar ohne Rücksicht auf Ehre und Ruhm – wie es ein Bedürfniß meiner individuellen Natur und Kraft ist, mächtig zu wirken. Das Herz klopfte mir, wenn ich einen hohen Thurm sah, und aller meiner schwindelnden Furchtsamkeit ungeachtet war mir's die entzückendste Freude, Thürme zu besteigen. Alles, was ich anfing, war auf einen großen Plan berechnet, so daß es schwerlich vollendet werden konnte. So machte ich einmal von Siegelwachs einen ungeheuren militärischen Zug von Kanonen, Pferden u. s. w., ich arbeitete mit einem eisernen Fleiße daran, wo ich stand und ging, saß und lag, in der Tasche, im Bette, in der Schule und Kirche. Das Werk ward fertig und auf drei langen Brettern hingestellt. An einem Sonntag Abend spazierte ich, wo das Machwerk stand, auf und nieder; ein plötzlicher Ekel an dieser Arbeit überfiel mich, indem ich eine Menge Fehler daran entdeckte; dazu kam der Gedanke, welch einen ungeheuren Klumpen Wachs die zusammengeknetete Masse geben würde. Hier fiel ich über die ganze Armee, drückte, packte, drängte sie zusammen. Kaum war ich mit der Zerstörung fertig, so kam mein Vater, der eben Gesellschaft bei sich hatte und ihr dieß sonderbare Werk seines Knaben zeigen wollte. Hören und Sehen verging mir; lange mußte ich Vorwürfe hören, und später hat mich der Vorfall immer leise gewarnt vor allen Unternehmungen, die mich hätten reuen können.«

Unter den Mitschülern gab es manche rohe leichtsinnige Bürschchen, die sich über den zarten und stillen Träumer lustig machten; dann machte Kaspar, um nicht hinter den Andern zurückzubleiben, auch mit, trotzdem, daß sein stets empfindliches Gewissen ihn bei jeder Vergehung strafte, und wenn sich darauf sonst etwas Unangenehmes ereignete, so schrieb er es als gerechte Strafe seinem Leichtsinn zu. Eine Reise nach dem nahgelegenen Badeorte Baden, die er im neunten Jahre mit der Mutter machte, führte ihn wieder zu größerem Ernst; in der Betrachtung der einsamen schönen Natur fand er einen süßen Zauber, und in dieser gehobenen Stimmung nahm er sich vor, in der Schule und daheim alle Unarten zu meiden. Als nicht lange darauf der Aufsicht führende Pfarrer in die Klasse trat, und die Schüler fragte, wer unter ihnen Pfarrer werden wollte, rief Kaspar sogleich: Ich, ich! Er hatte das Wort ohne Ueberlegung, ganz unwillkührlich gesprochen, nun aber gefiel ihm der Gedanke und er fing an, eine wirkliche Sehnsucht nach dem geistlichen Stande zu fühlen, auch den Eltern seinen Wunsch auszusprechen, obwohl diese meinten, daß er wenig zu einem Pfarrherrn tauge. Nannte man ihn doch schon lange den »Unmündigen«, weil ihm die Gabe zum Reden und Erzählen ganz zu fehlen schien. Und doch fehlte ihm nicht diese Gabe, wohl aber der Muth zum freien Reden, und daran war die Mutter Schuld, die ihn ohne Unterlaß hofmeisterte und durch unzeitige Strenge zum schüchternen Wesen veranlaßte. Daß es ihm nicht an moralischem Muth fehlte, zeigte er, als er in die letzte Klasse der lateinischen Schule kam, und da wegen eines geringen Vergehens, ja wie es ihm schien, ohne alle Ursache gezüchtigt wurde. Zornig fuhr er den Lehrer an: »Bei Gott, ich will wissen, warum ich gestraft bin? Ihr seid ein Tyrann, ein Unmensch!« Mit diesen Worten lief er fort. Ja, er konnte, wenn er Unrecht sah oder durch Gewaltthätigkeit gereizt ward, die ungeheuersten Verwünschungen und Flüche ausstoßen.

Früher hatte ihn die Mutter immer zu älteren Knaben getrieben, und ihm dadurch die Spiellust ganz verdorben; nun erhielt er zu seiner großen Freude die Erlaubniß, an einer Sonntagsabend-Gesellschaft, die aus Knaben seines Alters bestand, Theil nehmen zu dürfen. In dem Hause, wo sich die Gesellschaft zusammenfand, herrschte die größte Sauberkeit und Ordnung, und Kaspar, der bisher nicht viel Rücksicht auf seine leibliche Reinlichkeit genommen hatte, betrachtete sich selber nun auch von dieser Seite und gewann die Ordnung und Sauberkeit lieb. Es lag ihm daran, der Hausfrau zu gefallen, die ein scharfes Auge für äußere Wohlanständigkeit hatte.

Im Erlernen der Sprachen waren die Fortschritte gering, aber die Lektüre wurde allmählig Lieblingsbeschäftigung; doch da er ohne Plan und Ordnung las, gab diese Leserei nur noch mehr Veranlassung, bloß seine Phantasie aufzuregen. Des Nachts wurde er durch allerlei ungeheure Träume gequält, in denen er die größten Gefahren zu bestehen glaubte; die Gespensterfurcht quälte sogar den zum Jüngling heranreifenden Knaben. Als er (1754) in die oberen Klassen des Gymnasiums (in das sog. collegium humanitatis) eintrat, wo damals Bodmer und Breitinger unterrichteten, die, seinen regen Geist erkennend, ihn freundlich aufmunterten: da entschloß er sich zu ausdauerndem soliden Fleiß, stand des Morgens sehr früh auf und war noch um Mitternacht bei der Arbeit. Doch für ein tieferes Sprachstudium war er einmal nicht gemacht; selbst mitten in seinen Schularbeiten war der religiöse Drang so stark, daß er eine Reihe geistlicher Lieder dichtete, und daß ihm die Beobachtung des eigenen Seelenzustandes über Alles ging. Mit mehreren edlen Jünglingen (den beiden Heß und Heinrich Füßli) knüpfte er Freundschaftsbündnisse, sprach mit aller Beredtsamkeit zu ihnen über die Uebungen in der Frömmigkeit, wachte über ihren Seelenzustand und übte sich so für seinen geistlichen Beruf.

Als einundzwanzigjähriger Jüngling sprach er sich durch eine auffallende Probe von Thatkraft und Unerschrockenheit mündig. Er klagte nämlich den Landvogt Grebel an, einen durch hohe Verbindungen geschützten Beamten, dessen Bedrückungen und Ungerechtigkeiten niemand zu rügen gewagt hatte. Heinrich Füßli (der nachher in England berühmt gewordene Maler) unterstützte ihn dabei. Die Regierung nahm die Klage an, Grebel wurde verurteilt, mußte die Uebervortheilten entschädigen und die muthigen Rächer des Unrechts wurden mit ausgezeichneter Achtung belohnt. Im folgenden Jahre reiste Lavater in Gesellschaft Füßli's über Leipzig und Berlin, wo er die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit kennen lernte, zu Spalding nach Barth in Schwedisch Pommern, um seine Bildung zum Geistlichen im Umgänge dieses Theologen zu vollenden. Er verlebte hier mehrere Monate unter theologischen und ästhetischen Studien, und konnte auch Spaldings Ruhe und Klarheit nicht auf sein unruhiges Wesen übergehen, so verdankte er doch diesem Aufenthalte manchen Wink über die würdige Führung des Predigtamts. Auch hatte diese Reise ihm eine nähere Bekanntschaft mit der deutschen Literatur verschafft, und nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt (1764) theilte er seine Zeit zwischen jener freundschaftlichen Seelsorge, biblischen Studien und poetischen Versuchen. Klopstocks und Bodmers Musen hatten auch sein Dichtertalent angeregt, das sich nun täglich in Liedern ergoß, aber auch sogleich die ernste Richtung auf Religion und Vaterland nahm. Seine kernhaften »Schweizerlieder«, die 1767, und die »Aussichten in die Ewigkeit«, die 1768 erschienen, erwarben ihm eine Menge Verehrer; wie in den Liedern sich eine treffliche Gesinnung offenbarte, so fesselten in den »Aussichten« das warme Gefühl und die phantasiereiche Darstellung, bei der man vergaß, daß im Grunde doch keine näheren Aufschlüsse über das Jenseits gegeben wurden. Schon 1766 hatte er die durch Frömmigkeit und Herzensgüte ausgezeichnete Anna Schinz zu seiner Gattin erwählt; und erst 1769 übernahm er die Pflichten eines öffentlichen geistlichen Amts als Diakonus an der Waisenhauskirche zu Zürich. Seine Predigten, ausgezeichnet durch Geist und lebendigen Glauben, wie durch eine eben so kräftige, als Herz gewinnende Sprache, fanden den größten Beifall; nicht minder trug auch seine edle Einfalt, seine Herzensgüte, die kein Opfer zu schwer fand, wo es galt, den Armen zu helfen und die Traurigen zu trösten, viel dazu bei, ihn zum Manne des Volks und Liebling der Gemeinde zu machen. Seit 1772 wurden seine Predigten gedruckt und auch im Auslande gern gelesen, und wie er dadurch auf die Gebildeten wirkte, so suchte er durch sein »Sittenbüchlein für Dienstboten« auch auf die niederen Klassen zu wirken. Dabei dienten seine »Gedichte«, die von Zeit zu Zeit herausgegeben wurden, obwohl sie auf poetische Schönheit wenig Anspruch machen konnten, Vielen zur Stärkung und Freude.

Gewohnt, die Geister und Herzen der Menschen zu erforschen und von dem inneren Menschen sich ein Bild zu entwerfen, trat ihm der Gedanke immer näher, daß, weil der äußere Mensch die Offenbarung des inneren sei, der sittliche Charakter auch schon in der Gesichtsbildung sich müsse erkennen lassen. Und wie all' sein Wirken immer in's Praktische ging, glaubte er dadurch ein vorzügliches Mittel zu gewinnen, desto sicherer auf die verschiedenen Charaktere wirken zu können, je klarer er sie gleich auf den ersten Blick durchschaute. So nahm er sich vor, eine neue Kunst und Wissenschaft, »die Physiognomik«, in's Leben zu rufen, sammelte (seit 1769) aus allen Gegenden die Schattenrisse bekannter Personen, wobei ihm seine ausgebreitete Korrespondenz, die alles in den Zauberkreis seines neuen Unternehmens zog, sehr zu Statten kam. Besonders ging er auf Christusköpfe aus, denn wie in Christo die reinste Menschheit sich dargestellt hatte, so glaubte er auch nach dessen Vorbilde die reine aus der sündigen Menschheit wieder herstellen zu können. So war das scheinbar der theologischen Wirksamkeit Fernliegende doch, nach der Absicht ihres Urhebers, ein christliches Werk.

Lavater selber erklärt sich über die Entstehung der physiognomischen Fragmente also: »Von meiner frühesten Jugend an hatte ich einen starken Hang zum Zeichnen, und besonders zum Porträtzeichnen, obwohl ich wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durch's Zeichnen fing mein dunkles Gefühl an, sich nach und nach einigermaßen zu entwickeln. Die Proportion, die Züge, die Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der menschlichen Gesichter wurden mir merkbarer. Es fügte sich, daß ich etwa zwei Tage nach einander ein paar Gesichter zeichnete, die sehr ähnliche Züge hatten. Dieß fiel mir auf und ich erstaunte noch mehr, da ich aus andern Datis wußte, daß die Personen sich durch etwas ganz Besonderes in ihrem Charakter auszeichneten. Ich ward nachher durch Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover veranlaßt und aufgeweckt, etwas darüber zu schreiben. Ich fand häufigen Widerspruch. Dieß nöthigte mich, die Sache mehr zu entwickeln, von allen Seiten anzusehen, und endlich entstand, was entstanden ist, das physiognomische Werk.«

Als Probe mögen nur folgende kurze Charakteristiken hier eine Stelle finden.

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Bildquelle: Dieses Buch

Zwingli.

Gewaltige Festigkeit. Mindere Feinheit als Erasmus und Breitinger.

Ernst, Nachdenken und männliche Entschlossenheit, Vielwissen ohne Ausdehnung, sich zusammenziehende Thatkraft, Bewußtsein seiner Erkenntniß ohne Spiegelung und Selbstgefälligkeit scheinen mir in diesem Gesichte auffallend zu sein.

Bis zum Steifsinn gehender Muth in der im Ganzen genommen perpendikulären Stirn.

Ernst und Nachdenken in diesen Falten, besonders im Uebergange von der Nase zur Stirn.

Nasenloch und Spitze der Nase gemein, wenigstens in der Zeichnung; wie verschieden von Erasmus feindeutiger Beschnittenheit!

Der Umriß der Oberlippe gewiß keiner gemeinen Seele. Desto gemeiner die rohe und nur hinten sich verfeinernde Unterlippe.

Im Kinn mäßige Festigkeit.

Schauender durchdringender Verstand im schrägen Augapfel. Güte in den Falten um's Auge, die der lächelnde Witz bildet.

Die Geradheit des Ganzen ist auffallend.

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Jesuiten.

Vielleicht ist unter allen religiösen Physiognomieen keine leichter erkennbar, als die jesuitische. Jesuiten-Augen sind zum Sprichwort geworden. Und in der That; ich getraute mir fast Umrisse jesuitischer Augen angeben zu können, und nicht nur der Augen, sondern auch beinahe der Form des Kopfes. Ein Jesuit möchte beinahe in welchem Kleide er wollte erscheinen, er hätte das Ordenszeichen im Blicke für den gemeinen, in dem Umrisse seines Kopfes für den geübten Physiognomen. Zu diesem Umrisse gehören denn vorzüglich drei Stücke: die Stirn, die Nase und das Kinn. Beinahe immer stark gewölbte, vielfassende, selten scharfe, feste, gedrängte Stirnen; beinahe immer große, meist gebogene und vorn scharf knorplige Nasen; beinahe immer große, nicht fette, aber rund vorstehende Kinne; immer fast etwas zusinkende Augen, bestimmt gezeichnete Lippen. Merkwürdig, daß unter allen den so gelehrten Jesuiten so wenig Beispiele sind, vielleicht nicht Ein entscheidendes ist von einem wahrhaft philosophischen Kopfe. Mathematiker, Physiker, Politiker, Redner, Poeten, wie viele hatten sie! Wie wenige philosophische Köpfe! Und das ist auch leicht zu begreifen. Die Art von Biegsamkeit, die Einschmeichelungskunst, die künstliche Beredsamkeit, die Uebungen im Schweigen und Verstellen, die ihnen so geläufig sein mußten, wie konnten die so gar nicht neben freier, kühner, allprüfender Philosophie bestehen! Also, wo das Eine mußte gesetzt werden, ward das Andere dadurch schlechterdings aufgehoben. Sehr wenige Jesuiten wird man finden von außerordentlicher Kühnheit. Eben die Bildung zur Feinheit kann nicht mit der Bildung zur persönlichen Kühnheit bestehen, wenigstens wird gewiß nicht die Kühnheit, sondern die Feinheit immer die Oberhand behalten. Der religiöse Enthusiasmus, Enthusiasmus sage ich, nicht die so oft damit verwechselte Affektation des Enthusiasmus, haftet selten, ich dürfte sagen niemals in stark geknochten Körpern. Die Kühnheit der Jesuiten, ich weiß es, war unbegrenzt, aber ihre Kühnheit war Geheimniß, gründete sich auf Verborgenheit, war lichtscheu. Und lichtscheue Kühnheit ist so wenig wahre Kühnheit, als lichtscheue Tugend Tugend ist.

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Bildquelle: Dieses Buch

Ignatius Loyola.

Erst Kriegsmann, dann Ordensstifter. Eines der merkwürdigsten Phänomene, Klippe und Charybdis unserer philosophischen Historiker.

Von dem Kriegerischen ist noch Ausdruck genug übrig in diesem Gesichte. Wo? In der Feste des Ganzen, dann im Munde und Kinn; aber der Umriß der Stirn ist nicht des kühnen vordringenden Kriegers. Ueberschwenglich aber ist der frömmelnde planmachende Jesuitismus über dieses Gesicht ausgegossen. Nur der Mund, wie er hier – ich vermuthe fehlerhaft – erscheint, hat in der Unterlippe vieles Schwache; aber Stirn und Nase, besonders das Auge, dieses zusinkende Auge, dieser durchblickende Blick, zeigen den Mann von Kraft, still zu dulden und still zu wirken, und weit und tief zu wirken durch Stille. Die Stirn hat geraumen Sitz für tausend sich kreuzende, verworfene und wieder ergriffene Anschläge. Der Mann kann nicht müßig sein, er muß wirken und herrschen. Die Nase scheint Alles von fern zu riechen, was für ihn und wider ihn ist; doch eben hier, in diesem Bilde wenigstens, fehlt ihr viel von Größe.

So selten man frei-offene, kühnbogige Augen finden wird, die der Schwärmerei ergeben sind, so selten solche Augen, wie diese, die nicht in Schwärmerei versinken. Nicht, daß sie es müssen; aber unter gewissen Umständen, bei gewissen Veranlassungen ist es höchst wahrscheinlich, daß sie es werden.

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Mitten in der Blüthezeit dieses physiognomischen Treibens fiel seine Reise in's Bad Ems, der wir eine sehr ansprechende Episode in Göthe's »Wahrheit und Dichtung« (Bd. 3) verdanken. Mit Göthe hatte Lavater schon korrespondirt, ehe er ihn noch persönlich kannte, und der junge Dichter war eigens nach Ems gereist, um den berühmten Physiognomiker zu begrüßen, der, wohin er kam, von Hohen und Niedern gesucht, bewundert, gefeiert wurde. Lavater ließ sich von einem geschickten Zeichner, Namens Lips, begleiten, welcher gleich an Ort und Stelle einen Schattenriß entwarf, der dann später in Kupfer gestochen wurde. Lavaters Erklärung dieser Bilder, in schwunghaft-mystischer Sprache gegeben, klang wie ein Orakelspruch. Als die Frucht seiner physiognomischen Studien unter dem Titel »physiognomische Fragmente« von 1775 ab an's Licht trat, erregte das Werk allgemeine Sensation und es mußte alsbald auch eine französische Uebersetzung veranstaltet werden. Es war eine Zeit des Enthusiasmus, in welcher das Neue, wenn es nur geistreich war, den größten Anklang fand. Doch fehlte es auch nicht an der scharfen Kritik des kalt prüfenden Verstandes. Schon im Anfange, als Lavater durch seine Physiognomik Aufsehen erregt hatte, schrieb der witzige Professor Lichtenberg in Göttingen seine pikante Flugschrift: »Timorus, die Vertheidigung zweier Israeliten, die, durch die Kräftigkeit der Lavater'schen Beweisgründe und der Götting'schen Mettwürste bewogen, den wahren Glauben angenommen haben, von Konrad Photorin, der Theologie und belles lettres Kandidaten«. Lichtenbergs Satyre verfolgte die Physiognomiker weiter in dem Aufsatze: »Ueber die Physiognomik wider die Physiognomen, zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß«. Der berühmte Arzt Zimmermann in Göttingen hatte Partei für Lavater genommen und wurde nun durch Lichtenbergs Ausfall auf denselben in Feuer gesetzt. Es entspann sich zwischen beiden verdienten Männern eine literarische Fehde, die von Zimmermann mit Bitterkeit und Persönlichkeit, von Lichtenberg mit überlegenem Witz geführt wurde. Als Lavater 1778 seinen Sohn auf die Universität Göttingen brachte, besuchte er ohne Groll den Professor Lichtenberg, wurde freundlich von diesem aufgenommen, und Beide söhnten sich vollkommen mit einander aus.

Es ist nicht zu verkennen, daß Lavater, hätte er eine gediegene, streng-wissenschaftliche Bildung sich erworben, von manchen Ueberspannungen fern geblieben wäre. Sein unruhiges, stets aufgeregtes Wesen, in welchem das Herz oft mit dem Kopfe durchging und die Phantasie den Erfolg schon sah, wo der Verstand noch gar nicht die Mittel erwogen hatte, verführte ihn sogar zu manchen Thorheiten. So hatte er im ersten Jugendfeuer die Bekehrung des jüdischen Philosophen Mendelssohn unternommen, ein Versuch, der ihm jene beschämende Zurechtweisung zuzog, ohne ihn doch von ähnlichen Wagstücken abzuhalten. Verdarb er es doch mit seinem Freund Göthe durch seinen Eifer, der gut gemeint, aber schlecht angewendet war. Göthe, der mit so viel Liebe in die Eigenthümlichkeit des Lavater'schen Wesens eingegangen war, durfte wohl auch an Lavater die Forderung stellen, das Göthe'sche Wesen tiefer zu würdigen und nicht mit der frommen Schablone zurecht schneiden zu wollen. Hatte er ja schon im Jahre 1777 an Lavater ganz offenherzig geschrieben: »Ich denke auch aus der Wahrheit zu sein, aber aus der Wahrheit der fünf Sinne, und Gott habe Geduld mit mir, wie bisher.« Das konnte Lavater nicht fassen. In seiner Sucht nach dem Uebernatürlichen, Wunderbaren und Geheimnißvollen, glaubte er oft etwas Neues und Unerhörtes gefunden zu haben, was doch mit sehr natürlichen Dingen zugegangen war. Gaßners Teufelsbeschwörungen machten großen Eindruck auf sein Gemüth, und er erwartete von den Erscheinungen des Magnetismus ganz besondere Aufschlüsse über die Geisterwelt, und glaubte auch, daß nun der Schlüssel zu den wunderbaren Heilungen Jesu gefunden sei.

Man würde aber die ganze Eigenthümlichkeit und in ihrer Art einzige Wirksamkeit Lavaters falsch beurtheilen, wenn man sich bloß an das Excentrische halten, sich bloß auf den Standpunkt der Wissenschaft und Aesthetik stellen wollte. Der tiefinnerste Kern seines Gemüths war rein und edel, und eben darum hat er auch so tief auf manche edle Gemüther gewirkt und eine Verehrung genossen, wie sie wohl kein Geistlicher seines Jahrhunderts gefunden hat. Einen ehrenvollen Ruf zum Diakonat bei der reformirten Gemeinde in Bremen schlug er, aus Liebe zu seiner Vaterstadt, aus; dafür beförderten ihn die Züricher zu ihrer besten Pfarrstelle. Als Republikaner begrüßte auch Lavater anfangs die französische Revolution mit Jubel, aber bald ward er anderen Sinnes, und seit dem Königsmord sprach er mit Abscheu von den französischen Greueln. Als auch die Schweiz von der Revolution ergriffen wurde, sprach er auf der Kanzel und unter dem Volke mit einer Kühnheit und Besonnenheit über die öffentlichen Angelegenheiten, wie sie nur die Begeisterung für Wahrheit und Recht und echte Vaterlandsliebe einflößen kann. Er rügte das unlautere Parteigetriebe und die Willkür der Machthaber trotz aller Gefahr, die für seine Person daraus erwuchs. Als er endlich auf den lächerlichen Argwohn einer verrätherischen Gemeinschaft mit Rußland und Oesterreich, während er an einer schmerzlichen Krankheit litt, 1796 nach Basel deportirt wurde, freute er sich dennoch, in seiner Verantwortung das Mittel zu haben, den damaligen Direktoren der Schweiz die Wahrheit mit aller Entschiedenheit vorzuhalten. Nach einigen Monaten entlassen, kam er glücklich durch die französischen Vorposten wieder nach Zürich zurück, und fuhr nun mit erneuetem Eifer in seiner Amtsthätigkeit fort, bis diese auf die schrecklichste Weise gehemmt wurde.

Am 26. September 1799, bei der Einnahme Zürichs durch Massena, unmittelbar nach dem Eindringen siegesberauschter Franzosen, eilte er aus seiner Wohnung, in der Absicht, einigen hartbedrängten Nachbarn kräftig beizustehen. Die raubgierigen rohen Krieger fielen über ihn selber her. Da setzte er ihnen besonnen und ruhig die Beredsamkeit seiner Liebe entgegen; sein Wort schien Eindruck zu machen, aber alsbald traf ihn ein Flintenschuß durch die Brust, von der Hand eines Soldaten, welchen er kurz vorher beschenkt und besänftigt hatte, dessen blinde Wuth aber verderblich wieder entbrannt war. Nach Raoul-Rochette's »Histoire de la révolution helvétique (Paris 1823), war weder ein Franzose noch Russe der Mörder: Ce crime appartient tout entier à la fureur des partis; et Lavater, qui connaissait son assassin, emporta dans la tombe cet horrible secret, avec tous les autres secrets de sa belle âme et de son inépuisable charité.« Der Schuß war zwar nicht für den Augenblick tödtlich, führte jedoch ein langwieriges Brustleiden herbei, das schmerzlicher war, als der Tod. In dieser letzten Leidenszeit entwickelte Lavater alle edleren Kräfte seines Wesens, seinen christlichen Muth und Glauben, seine Liebe und seine Standhaftigkeit und sein rastloses Wirken für Menschenwohl – zu schönster Blüthe. Während seine Linke das von Schmerzen gefolterte Herz hielt, verlor seine geschäftige Rechte keinen Augenblick, um seinen Freunden, seiner zahlreichen Gemeinde, seinem gesammten Vaterlande noch alles das schriftlich zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Krank bis zum Tode ließ er sich noch in die Kirche tragen, und zu kraftlos, um die Kanzel zu besteigen, erhob er am Fuße derselben zum letzten Mal seine ermangelnde Stimme, um von seiner geliebten Gemeinde segnend und ermahnend zu scheiden. Mit letzter Anstrengung rief er ihr zu: Ruhig ist keine Seele, als die, so sich vor dem Herrn demüthigt, als die, welche auf Ihn sieht, als die, welche sich hält an Ihn! Und als er dann vernahm, die Gattin seines Bruders, die er immer vorzüglich geschätzt und geliebt, ringe mit dem Tode, riß er das letzte Vermögen in sich empor, und kleidete sich hastig an; er ließ sich durchaus nicht abhalten, zu ihr gebracht zu werden. Der Sterbende saß am Bett der Sterbenden und gab ihr, zwar nur schwach lallend, aber mit der ganzen Fülle seines Glaubens, seiner Liebe und seiner Hoffnung labende Worte des Trostes und der Zuversicht, Worte eines treuen, zärtlichen Abschieds, welcher »für sie beide kein Abschied mehr sei, da schon so bald nach ihr Gott auch ihn abrufen werde«. – Während einer solchen gewaltsamen Anstrengung seiner letzten Kräfte war Lavater einige Mal aus Mattigkeit in seinem Sessel umgesunken, und endlich an dem Lager des Todes sogar auf einige Zeit entschlummert. Diese Erschöpfung beschleunigte sein gänzliches Hinscheiden, denn schon nach acht Tagen starb auch er (am 2. Januar 1801).

Wer möchte Göthe nicht beistimmen, wenn er sagt, daß er Niemand gekannt habe, der ununterbrochener handelte, als Lavater? Und dieses Handeln galt überall der Liebe, der Freundschaft, der Wahrheit und Gerechtigkeit, mit Einem Worte christlicher Humanität. Sein Christusglaube machte ihn zum Propheten, seine Christusliebe zum Apostel. »Eines meiner liebsten Geschäfte,« sagte er selbst, »ist das Predigen, Briefe schreiben, die erleuchten, erwärmen, vergnügen, Freunde und Freundinnen besuchen, Armen helfen, die mit ihrer Noth auf meine Stube kommen,« er hätte hinzusetzen können, die Armen suchen und finden, denn mit gleicher Lust ging er zu den Großen der Erde, wie zu den Geringen. Und Allen imponirte das Zarte, Jungfräuliche, Reine und Reinliche seines Wesens; mehr als seine Schriften wirkte seine Persönlichkeit. Seine Gestalt hatte etwas Feines, Vornehmes. Lang und wohl gewachsen, aufrecht, leise und leichtschwebend in Gang und Bewegung, dabei eine unverkennbare geistliche Haltung, ohne alle Ziererei. Auffallender noch war seine Gesichtsbildung, deren richtiges Verhältniß und Ebenmaß selbst von der vorspringenden Nase wenig gestört wurde. Milde und lebhaft im Ausdruck war die Miene und rein blaß seine Farbe, daher ihn auch Asmus den »Mann mit Mondstrahl im Gesichte!« hieß. Das Schönste aber waren die Augen, von denen er selbst in einem Scherzgedichte sagt:

»Du wirst in meinem Aug' ein amoroses Schmachten,
Licht, Nacht, Etourderie und List, mit Lust betrachten.«

Manche Schwächen und Uebereilungen eines leicht erregten Temperaments wurden doch immer durch den auf das Höchste und Edelste gerichteten Gottessinn überwunden, und dieser Adel der Gesinnung war auch im Antlitze zu lesen

Man hat nicht mit Unrecht Lavater den deutschen Fenelon genannt, und in der That finden wir in der merkwürdigen Schilderung, die der Duc de St. Simon von Fenelons Persönlichkeit macht, die sprechendsten Parallelen: Le prélat était un grand homme maigre, bien fait, pâle, avec un grand nez, des yeux dont le feu et l'esprit sortaient comme un torrent, et une physionomie teile, que je n'en ai point vu qui y ressemblait, et qui ne se pouvait oublier quand on ne l'aurait vue qu'une fois. Elle avait de la gravité et de la galanterie, du serieux et de la gaieté. Dieser Verein eines würdevollen Wesens mit heiterster Natürlichkeit, der Sicherheit in allen Feinheiten des Umgangs, mit froher Laune und beweglichem Scherz machte Lavater so beliebt bei den Damen und den Weltleuten. Ungeachtet aber aller Sanftmuth und Feinheit seines Wesens wußte er (ja vielleicht eben deßhalb) auch den Großen der Erde kühn und eindringlich die Wahrheit zu sagen, und gleich Fenelon hatte er »mit dem Ansehen eines Propheten, das er bei seinen Anhängern erlangte, sich an eine Herrschaft gewöhnt, die in ihrer Sanftmuth doch keinen Widerstand duldete«.

Das tiefe Gemüth und die ebenso reiche, als bewegliche Phantasie gab auch der Rede Lavaters große Eindringlichkeit und Fülle; er überzeugte übrigens mehr mit seiner reinen Gegenwart, als mit Worten. Der hochdeutschen Mundart war er nie mächtig, und er predigte allenthalben, in Bremen, wie in Zürich, im schweizerischen Kanzeldeutsch. Man hat ihn der Eitelkeit beschuldigt, daß er es z. B. litt, wie die bei seinem Erscheinen in Bremen sich begeistert zudrängende Menge ihm die Hände küßte; man lese aber den Brief, den er Tags darauf an seinen Sohn nach Zürich schrieb und thue einen Blick in sein Inneres:

Morgens um 8 Uhr.

»Mein gestriger Tag in Bremen war ein lehrreicher Tag für mich, … ein einziger in seiner Art. Das Einzige in seiner Art muß auf die möglichste Weise benutzt werden. Je einziger, desto heiliger. Ich will Dir, mein Sohn, aus dem gestrigen Tage einige Lehren abziehen, die Dir vielleicht einmal nützlich sein können.

»Unterziehe Dich ohne Grimasse, mit heiterer Ruhe und froher Demuth auch dem Schicksale, auf einem Theater vor einem unzähligen, sehr vermischten Parterre zu stehen. Sei nicht eitel und nicht spröde – gieb Dich ruhig hin, wo Du Dich hinzugeben bestimmt bist. Laß weder Stolz noch Ungeduld Dich anwandeln. Verehre Alles was ist und sein muß. Vergiß Dich so wenig, und so sehr wie möglich. Denke so wenig wie möglich an Dein bewundertes oder angegafftes Wesen – und so sehr wie möglich an die Würde der Menschheit, und an Deinen Beruf, die vom Himmel Dir aufgetragene Rolle auf die demüthigste, uneigensüchtigste und wohlwollendste Weise zu vollenden. Erwecke Dich täglich, mehr zu sein, als zu scheinen. Strebe danach, etwas in Dir zu haben, welches Niemand kennt, Niemand angaffen, bewundern, ahnen kann, und dessen Dasein doch in stillen, ewigen Wirkungen sich äußern muß. Gieb Keinem zu viel und Keinem zu wenig, d. h. übe Dich, Dich nach den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Kräften der Menschen zu richten, die etwas von Dir wollen oder zu wollen meinen. Erwecke Bedürfnisse da, wo keine sind, wofern Du gleich etwas an der Hand hast, sie zu befriedigen, und etwas zurück lassen kannst, wodurch sie weiter erweckt und befriedigt werden. Schließe Dich an nichts zu sehr an. Wirke immer auf die beste, gesundeste Partei der Menge oder der Individuen, die Dich umringen. Behandle Alle, die nicht entscheidende Beweise von Unredlichkeit gegeben haben, als redlich; hundert Halbredliche macht diese Behandlung ganz redlich. Sammle Dir täglich Vorrath von Beispielen, Lehren, Erzählungen, Fabeln, Gleichnissen, wodurch Du allen Klassen von Menschen nützlich sein kannst. Richte Jedem seine Speise nach seinem Geschmacke zu, und lasse die Arzenei so wenig bitter sein, als möglich. Was Dich nicht lieben kann, müsse Dich achten. Wer sich selbst achtungswürdig ist, ist es gewiß Allen, die ihn zu kennen Gelegenheit haben. Gelegenheit, achtungswürdig zu handeln, fehlt dem wahrhaft und innerlich Achtungswürdigen gewiß nie. Suche sie nicht, fliehe sie nicht! Ist sie da, benutze sie mit Einfalt, Demuth und Muth. Wer vor sich edel handelt, der handelt edel vor dem Himmel – und wer vor sich und dem Himmel edel handelt, darf sich um die Urtheile der Welt nicht bekümmern – darf Schurken und Satane, wie viel mehr gute, edle, achtungswürdige Menschen zustehen lassen. Sei gut vor Dir selber – so bist Du gut vor allen Guten und Bösen. Sei nebenabsichtslos, und Du wirst mehr als ein guter Mensch zu sein scheinen. Je mehr Du Dich selbst vergissest, desto mehr wirst Du existiren und existiren machen«

Durch seine vier prächtig gedruckten und mit Bildern reich ausgestatteten Bände der »physiognomischen Fragmente« hat sich Lavater dem großen Publikum und dem Auslande bekannt gemacht. Auf dieses Werk hat er viel Geld und unendliche Arbeit verwandt; und als es – soweit das der Gegenstand erlaubte – einigermaßen abgerundet war, setzte er noch immer die Sammlungen zu seinem physiognomischen Kabinette fort, das weniger aus Kupferstichen, als aus alten und neuen Handzeichnungen, aus Bildern seiner Freunde und der ihn besuchenden Fremden bestand. Diese Sammlung, sehr sorgfältig aufgezogen und unter Glas gebracht, füllte sein Zimmer in eigenen Schränken und war höchst sehenswerth. Von der Physiognomik hoffte er, daß mit der Zeit Fürsten, Richtern, Lehrern diese Erkenntniß so unentbehrlich sein werde, wie das tägliche Brod; er erwartete eigne Lehrstühle für diese Wissenschaft – und doch mußte er sich selber sagen, »daß er sich unzählige Mal in seinem Urtheile geirrt habe und noch täglich irre, daß er täglich Gesichter sehe, über die er kein Urtheil zu fällen im Stande sei.« Immerhin bleiben aber die »Fragmente« ein schönes Denkmal von Lavaters durchdringendem Geiste, der in die Tiefen und zu den Höhen der menschlichen Natur schaute, und dem für die individuellen Züge stets der rechte Ausdruck zu Gebote stand. Er hat mit seinen Charakterschilderungen nicht bloß die Menschen- und Seelenkunde, sondern auch unsere Sprache bereichert.


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