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Immanuel Kant, geschildert in Briefen an einen Freund von Reinhold Bernhard Jachmann (Königsberg, 1804). Ueber Immanuel Kant etc. von Ludwig Ernst Borowski (Ebd.). Imman. Kants Biographie von Fr. W. Schubert (Leipzig, 1842). Ansichten aus Kants Leben von Dr. Fr. Th. Rink (Königsberg, 1805).
Der Lebensfaden des großen Weisen wickelte sich so einfach als möglich ab; Kant, der tiefblickende Menschenkenner, ist über den nächsten Umkreis von seiner Vaterstadt nicht hinausgekommen, war aber ebenso heimisch in der Welt der Sterne, als auf der Erde und in der Praxis des Menschenlebens. Wenn er mit einem Engländer über London, mit einem Italiener über Italien sich unterhielt, so fragten sie ihn, wie lange er in England oder Italien gereist sei? Er war der treueste Unterthan seines Königs, der gewissenhafteste Bürger seines Vaterlandes, das hinderte ihn aber nicht, den Gang der großen Weltbegebenheiten, vornehmlich des nordamerikanischen Freiheitskampfes und der französischen Revolution mit dem regsten Antheil zu verfolgen und mit dem Sinn des Weltbürgers für die Idee der Menschheit sich zu begeistern. Bescheiden und einfach, aber stets sicher und selbstbewußt, frei und natürlich sprach er mit seinem Könige und mit seinen Freunden, auf dem Katheder und an fröhlicher Mittagstafel; nirgends war eine Spur des Bücherstaubes und des pedantischen Gelehrten zu entdecken. Wahr in jedem Wort, ohne falschen Schimmer und Schein, wirkte er, wo er redete und schrieb, sittliche Erhebung; seine ganze Philosophie durchwehete die reinste, strengste Sittlichkeit: Kant war ein Weltweiser im edelsten Sinne des Wortes.
Aber noch mehr, Kant ist ein Reformator der philosophischen Wissenschaft geworden, hat für das Leben des deutschen Geistes eine neue durchgreifende Bewegung angebahnt, welche andauern wird, so lange es noch ein wissenschaftliches Denken und freie Wahrheitsforschung geben wird. Man hatte auf dem Gebiete der Philosophie ähnlich wie zu Luthers Zeit auf dem Gebiet der kirchlichen Lehre dem Geiste Gewalt angethan, indem man ihn in die Fessel der Ueberlieferung (Tradition), des Herkommens, des willkürlich aufgestellten Lehrsatzes schlug. Kant machte dem Dogma in der Philosophie ein Ende, indem er vor Allem auf Erforschung und Beobachtung der Fähigkeiten und Kräfte der menschlichen Seele drang, die Grenzen des menschlichen Wissens festzustellen und den Weg zu zeigen suchte, auf welchem der denkende Geist überhaupt zu seinen Begriffen gelangt. Er hat die richtige Methode des Philosophirens gefunden, wie ein Kepler, Galilei und Newton die richtige Methode der Naturwissenschaft fanden und durch dieselbe zur Erkenntniß des Naturgesetzes der sichtbaren Welt gelangten. Kant, der Zeitgenosse Friedrichs des Großen, machte wie dieser Eroberungen, erhob wie dieser den kleinen Staat Preußen zu einer Großmacht, so auch die bis dahin wenig gekannte und beachtete Universität Königsberg zu einer deutschen, ja zu einer europäischen Großmacht. Gleich ausgezeichnet als Lehrer im mündlichen Vortrage durch das immer treffende Wort, durch lebendigen geistvollen und witzigen Vortrag, wie als Schriftsteller durch die Gediegenheit der Ideenentwickelung und die Vielseitigkeit, mit welcher er jeden Gegenstand erfaßte und beleuchtete, wirkte er in nächsten und in weitesten Kreisen. Die deutsche wie die lateinische Sprache gebrauchte er mit gleicher Leichtigkeit und Gewandtheit auch da, wo der Stoff die größten Schwierigkeiten bot. Sein vortreffliches Gedächtniß kam ihm dabei sehr zu Statten.
Daß nebst dem von Gott verliehenen Talente auch die äußeren Lebensbedingungen, vornehmlich die ersten Jugendeindrücke viel mitwirkten gleicherweis zu dem weltumfassenden Sinn wie zu der sittlichen Lauterkeit des großen Philosophen – wer möchte das in Abrede stellen? Königsberg, die Hauptstadt des Herzogthums Preußen, eine regsame Handelsstadt, mit einer Bürgerschaft, welche durch mancherlei Kämpfe sich zu Freiheit und Wohlstand emporgeschwungen hatte und durch die Landesuniversität auch geistig sich zu regen begann, war kein ungünstiger Boden für junge, strebsame Geister. In der Sattlergasse, unfern der grünen Brücke, dem Mittelpunkte des Flußhandels, lag das Haus, in welchem Kant am 22. April 1724 geboren wurde. Jeder Gang nach der Schule und in die Haupttheile der Stadt führte ihn durch das anregende Gewühl der Handeltreibenden aus den verschiedensten Ländern, und weckte die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Sitten und Eigenthümlichkeiten der Völker. Der Vater, ein fleißiger Riemermeister, war zwar nur ein schlichter Bürgersmann, aber verständig genug, für seine Kinder eine möglichst gute Schulbildung zu erstreben. Die Mutter vereinigte mit einem lebhaften Geiste die innigste Frömmigkeit, von ihr sprach der große Mann stets mit der größten Rührung: »Meine Mutter,« so äußerte sich Kant oft gegen seinen Amanuensis Jachmann, »war eine liebreiche, gefühlvolle, fromme und rechtschaffene Frau und eine zärtliche Mutter, welche gegen ihre Kinder durch fromme Lehren und durch ein tugendhaftes Beispiel zur Gottesfurcht leitete. Sie führte mich oft außerhalb der Stadt, machte mich auf die Werke Gottes aufmerksam, ließ sich mit einem frommen Entzücken über seine Allmacht, Weisheit und Güte aus und drückte in mein Herz eine tiefe Ehrfurcht gegen den Schöpfer aller Dinge. Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir; sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.«
Ein andermal sprach Kant über das christliche Verhältniß seiner Eltern sich gegen Rink also aus: »Waren auch die religiösen Vorstellungen der damaligen Zeit und die Begriffe von dem, was man Tugend und Frömmigkeit nannte, nichts weniger als deutlich und genügend, so fand man doch wirklich die Sache. Man sage dem Pietismus nach, was man will, genug, die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, jene Heiterkeit, jenen inneren Frieden, der durch keine Leidenschaft beunruhigt wurde. Keine Noth, keine Verfolgung setzte sie in Mißmuth, keine Streitigkeit war vermögend, sie zum Zorn und zur Feindschaft zu reizen. Mit einem Worte, auch der bloße Beobachter wurde unwillkürlich zur Achtung hingerissen. Noch entsinne ich mich, wie einst zwischen dem Riemer- und Sattlergewerke Streitigkeiten über ihre gegenseitigen Gerechtsame ausbrachen, unter denen auch mein Vater wesentlich litt: aber dessenungeachtet wurde selbst bei der häuslichen Unterhaltung dieser Zwist mit solcher Schonung und Liebe in Betreff der Gegner von meinen Eltern behandelt, und mit einem festen Vertrauen auf die Vorsehung, daß der Gedanke daran, obwohl ich damals ein Knabe war, mich niemals verlassen wird.«
Den Elementarunterricht empfing Kant in der vorstädtischen Hospitalschule, bis zu seinem zehnten Jahre; sein schwächlicher Körper einerseits, sein reger Geist andererseits (der Oheim mütterlicher Seite, ein wohlhabender Schuhmachermeister Namens Richter, fand schon früh an dem aufgeweckten Knaben sein Wohlgefallen) mögen wohl den Gedanken an's Studiren angeregt haben; der damalige Direktor des Collegii Fridericiani, der fromme Dr. Alb. Schulz, der Kants Eltern ihrer Frömmigkeit wegen liebte und unterstützte, gab den Ausschlag. So ward das Söhnchen auf das Fridericianum gebracht.
Von seinen jugendlichen Lieblingsbeschäftigungen und Spielen ist nichts bekannt geworden, mit Ausnahme zweier Züge, die gleicherweis auf große Erregbarkeit, die von einem Eindruck sich hinreißen läßt, wie auf große Besonnenheit hindeuten. Einmal auf dem Wege nach der Schule hatte er sich mit seinen Schulkameraden in ein Spiel eingelassen, seine Bücher deßhalb niedergelegt, sie aber vergessen und nicht wieder daran gedacht, bis er in der Schule zu ihrem Gebrauche aufgefordert wurde, welche Vergeßlichkeit ihm einen Denkzettel zuzog. Ein ander Mal war er auf einen Baumstamm gegangen, der quer über einem mit Wasser gefüllten breiten Graben lag. Als er einige Schritte gemacht hatte, fing der Stamm an unter seinem Fuß sich zu drehen und er selbst schwindlich zu werden. Er konnte, ohne Gefahr herunter zu fallen, weder stehen bleiben, noch sich umkehren; so faßte er, schnell entschlossen, genau nach der Richtung des Holzes einen Punkt am andern Rande des Grabens scharf in's Auge und lief, ohne nach unten zu sehen, gerade auf den Punkt hin und kam glücklich hinüber.
Während des siebenjährigen Schulunterrichts auf dem Coll. Fridericianum erlernte er die lateinische, griechische und hebräische Sprache, auch französisch; ferner Geschichte, Geographie, Mathematik; von der Logik konnte Kant in späteren Jahren nicht ohne Lachen sprechen; dagegen gewann er durch Heydenreich eine besondere Vorliebe für die römischen Klassiker, und mit zwei Mitschülern kam er wöchentlich mehrere Mal zusammen, um gemeinschaftlich solche Autoren, zu lesen, die nicht in den Kreis der Schullektüre aufgenommen worden waren. Die beiden Schulfreunde hießen Ruhnken und Cunde, und alle drei beschlossen, wenn sie einst als Schriftsteller auftreten würden, sich Ruhnkenius, Cundeus und Cantius zu nennen. Der erste als berühmter Philolog an der Universität Leyden hat Wort gehalten, der zweite ist ruhmlos gestorben, der dritte aber ohne die lateinische Endung der berühmteste Name geworden.
Noch ehe Kant seine Gymnasialbildung vollendet hatte, starb ihm die Mutter (18. Dez. 1737); den Vater verlor er 1746, aber der Oheim Richter nahm sich mit aller Liebe des hoffnungsvollen jungen Mannes an, und verschaffte ihm die nöthigen Mittel zur Fortsetzung seiner Studien. Zu Michaelis 1740, noch nicht siebzehn Jahre alt, bezog Kant die Universität seiner Vaterstadt, anfänglich in der Absicht, Theologie zu studiren und dadurch am besten das Andenken der geliebten Mutter zu ehren. Doch die Mathematik, Philosophie und die lateinischen Klassiker bildeten von vornherein seine Lieblingsstudien und mit Rücksicht auf seine schwache Brust gab er bald den Plan, Prediger zu werden, ganz auf und entschied sich für das Lehramt. Der Professor der Philosophie, welcher auf seine Geistesbildung den bedeutendsten Einfluß übte, war damals Kuntzen, der sich als Lehrer und als Schriftsteller einen großen Ruf auf der Universität erworben hatte. Durch ihn wurde Kant mit des großen Newtons Werken bekannt gemacht, die reich ausgestattete Bibliothek des Lehrers stand ihm stets zu Gebote. Der wackere Kuntzen hatte hohe Freude, als in dem Erstlingswerke des 22jährigen Kant sich schon zeigte, auf welchen fruchtbaren Boden die Aussaat gefallen war. Diese erste Schrift führt den Titel: » Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beweise, deren sich Herr von Leibnitz und andere Mathematiker in dieser Streitsache bedient haben; nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kräfte der Körper überhaupt betreffen.« Mit dem Bewußtsein eines Siegers, der eine neue Laufbahn betritt, sagt der junge Autor in seiner Vorrede: »Ich habe mir die Bahn vorgezeichnet, die ich halten will; ich werde meinen Lauf antreten und nichts soll mich behindern, ihn fortzusetzen.« Er, in seinem Alter, wagte es, den anerkannt großen Männern der Zeit und Vorzeit, die der gedankenlosen Nachbeter so viele gehabt hatten, zu widersprechen, nicht aus eitlem Stolz, sondern aus dem berechtigten Drange nach Freiheit des Gedankens.
Der günstige Ruf, den sich Kant schon als Student erworben hatte, veranlaßte mehrere seiner wohlhabenden Studiengenossen, ihn zum Repetenten für die Mathematik und Naturwissenschaften zu wählen; durch diese Thätigkeit bekam er Gelegenheit, für die künftige Laufbahn eines akademischen Dozenten sich einzuschulen und der Wunsch ward rege, von der königsberger Universität sich nicht mehr zu trennen. Seine Vermögensumstände brachten es aber mit sich, daß er sich nach einer Brodstelle umsehen mußte, und so meldete er sich für eine Schulkollegen-(Unterlehrer-)Stelle an der damaligen lateinischen Schule im Kneiphofe (dem heutigen Domgymnasium). Bei der Wahl wurde er zu seinem großen Verdruß übergangen und ein ganz unfähiger Kandidat ihm vorgezogen. Und doch war dies ein großes Glück für Kant und für die Wissenschaft, daß er dieser täglichen Abstumpfung durch Elementarunterricht entrissen wurde. Denn nun wandte er sich dem Hauslehrerleben zu, das einen dreifachen Vortheil gewährte: seine Kraft nicht durch zu schwere Arbeitslast niederbeugte, hinreichende Muße zum Selbststudium bot und den Blick ins gesellige Leben aufschloß, eine feinere, weltmännische Bildung gewährend.
Zuerst ging Kant als Hauslehrer zum reformirten Pfarrer Andersch in Judschen bei Gumbinnen; sodann kam er zu der Familie des Rittergutsbesitzers von Hülsen auf Arensdorf bei Mohrungen. Diese Familie wurde bei der Huldigung Friedrich Wilhelms I. in den Grafenstand erhoben, und Kants Zöglinge aus dieser Familie gehörten zu den ersten Gutsbesitzern Preußens, die freiwillig das Band der Gutsunterthänigkeit für ihre Bauern lösten und darüber noch im Grafendiplome die königliche Anerkennung erhielten. Zuletzt trat er als Hauslehrer in die Familie des Grafen Kayserlingk zu Rautenburg ein, der den größten Theil des Jahres sich in Königsberg aufhielt. Seine Gemahlin, eine geborene Reichsgräfin Truchseß zu Waldburg, war eine höchst geistvolle Frau und galt für die Tonangeberin der höheren Stände Königsbergs. Sie erkannte bald die großen Anlagen des Erziehers ihres Sohnes und zog ihn gern in das Gespräch, das den mannigfaltigen Stoff aus der französischen, italienischen und englischen Literatur, aus der Geschichte und der Politik der Gegenwart nahm und den jungen Philosophen zwang, durch angestrengte Lectüre sich auch dieses Stoffes zu bemeistern Die Kunst des feinen Umganges, des guten Erzählens, gefälliger Darstellung und geistreicher Unterhaltung wurde dem jungen Manne zur zweiten Natur, und eine lebhafte Tischunterhaltung blieb noch bis in sein spätestes Alter seine liebste Erholung.
Die neunjährige Hauslehrerzeit hatte keineswegs erschlaffend gewirkt; Kant brachte seinen längst gehegten Plan in Ausführung, bestand das Magister-Examen für die Philosophie und habilitirte sich als Privatdozent. Mit dem Wintersemester 1755 begann er die Reihe seiner akademischen Vorlesungen über Mathematik und Physik nebst Logik, Metaphysik, Moralphilosophie und philosophische Encyklopädie. Er legte zwar herkömmliche Lehrbücher zu Grunde, aber nur der Eintheilung des Stoffes willen, sonst sprach er völlig frei und bediente sich bloß zu Anhaltspunkten kleiner Zettel, auf die er sich kurz diesen und jenen Gedanken notirt hatte. Sein außerordentliches Gedächtniß bot ihm Belege und Beispiele aus allen Wissenschaften, aus der Länder- und Völkerkunde wie aus der Geschichte des Tages, und seine Vorträge fesselten überdies durch ungezwungene Beimischung von heiterer Laune und geistreichem Witz. Obwohl seine Stimme schwach war, verhielten sich die Zuhörer so still, daß man ihn doch gut verstand. Der Zudrang wurde bald so groß, daß der Saal zu klein war für das Auditorium, und Mancher schon eine Stunde früher kam, um einen guten Platz zu bekommen. Eine besondere Kunst bewies Kant in der Entwickelung philosophischer Ideen, indem er vor seinen Zuhörern gleichsam Versuche anstellte, als wenn er selbst anfinge, über den Gegenstand nachzudenken, allmählig neue bestimmende Begriffe hinzufügte, schon versuchte Erklärungen nach und nach verbesserte, endlich zum völligen Abschluß des vollkommen erschöpften und von allen Seiten beleuchteten Begriffs überging, und so den streng aufmerksamen Zuhörer nicht allein mit dem vorliegenden Object bekannt machte, sondern auch zum methodischen Denken anleitete. Wer diesen Gang seines Vortrags ihm nicht abgelernt hatte, seine erste Erklärung gleich für die richtige und völlig erschöpfende nahm, ihm nicht angestrengt weiter folgte, der sammelte bloß halbe Wahrheiten ein. S. Jachmann, a. a. O. S. 30.
Auch als Schriftsteller zeigte sich der angehende Universitätslehrer gleich in glänzendster Kraft durch seine »allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, welche Schrift er seinem Landesherrn, Friedrich dem Großen, dedizirte, der sie freilich gar nicht zu sehen bekam. Wenige Wochen nach dem Erscheinen dieses Werkes (1755) gab das denkwürdige Erdbeben von Lissabon Veranlassung, daß die Königsberger auch Kants außerordentliche Kenntnisse in der Naturlehre und Naturgeschichte kennen lernten, indem er eine »Geschichte und Naturbeschreibung« des Erdbebens herausgab.
Laut einer königlichen Verordnung, nach welcher kein Privatdozent zu einer außerordentlichen Professur vorgeschlagen werden durfte, der nicht drei Mal über eine gedruckte Abhandlung disputirt hatte, mußte er im folgenden Jahre (1756) noch einmal öffentlich disputiren, und bethätigte abermals seine entschiedene Meisterschaft; dann meldete er sich zu der durch den Tod seines Lehrers Kuntzen erledigten außerordentlichen Professur der Mathematik, Logik und Metaphysik. Aber die Regierung, vielleicht durch den ausbrechenden Krieg veranlaßt, war überhaupt nicht Willens, erledigte außerordentliche Professuren wieder zu besetzen. Zwei Jahre später meldete er sich für die ordentliche Professur der Logik und Metaphysik, aber auch dies Mal glückte es ihm nicht, indem ein älterer Professor ihm vorgezogen wurde, und so verlängerte sich seine Stellung als Privatdozent auf 15 Jahre. Dies schadete keineswegs dem Rufe des immer berühmter werdenden Mannes, der die lernbegierigen Jünglinge mit unwiderstehlicher Kraft an sich zog. Herder, der 1762-64 in Königsberg studirte, schildert noch in einem dreißig Jahre später geschriebenen Briefe mit aller Lebhaftigkeit jene Zeit in seinen »Briefen zur Beförderung der Humanität« also: »Ich habe das Glück gehabt, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offene zum Denken gebaute Stirne war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebote, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang; mit eben dem Geiste, mit welchem er Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emil und seine Heloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie, und kam immer wieder zurück auf unbefangene Kenntniß der Natur und auf den moralischen Werth des Menschen. Die Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vortheil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüthe fremd. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir.«
Kant saß etwas erhaben vor einem niedrigen Pulte, über welches er fortsehen konnte. Er faßte bei seinem Vortrage gewöhnlich einen nahe vor ihm sitzenden Zuhörer in's Auge, und las gleichsam aus dessen Gesicht, ob er verstanden worden wäre. Dann konnte ihn aber auch die geringste Kleinigkeit stören, besonders wenn dadurch eine natürliche oder angenommene Ordnung unterbrochen wurde. In einer Stunde – schreibt Jachmann – fiel mir seine Zerstreutheit ganz besonders auf. Am Mittage versicherte mich Kant, er wäre immer in seinen Gedanken unterbrochen worden, weil einem dicht vor ihm sitzenden Zuhörer ein Knopf am Rocke gefehlt hätte. Unwillkürlich wären seine Augen und seine Gedanken auf diese Lücke hingezogen worden und das hätte ihn so zerstreut. Er machte dabei zugleich die Bemerkung, daß dieses mehr oder weniger einem jeden Menschen so ginge, und daß, wenn z. B. die Reihe Zähne eines Menschen durch eine Zahnlücke unterbrochen wäre, man gerade immer nach dieser Lücke hinsähe. Diese Bemerkung hat er auch mehrmals in seiner bekannten »Anthropologie« angeführt.
Endlich, nach langem Warten, hatte der arme Magister im Jahre 1770 die Freude, als ordentlicher Professor der Philosophie mit einem fixen Gehalt von 400 Thalern angestellt zu werden. Er erhielt bald darauf die ehrenvollsten Anträge nach Mitau, Halle etc., aber er blieb seiner Vaterstadt treu. In seiner akademischen Antrittsschrift de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (von der Form und den Prinzipien der sinnlichen und übersinnlichen Welt) gab er zuerst die Grundzüge seines Hauptwerkes, der »Kritik der reinen Vernunft«, die 1787 in erster, 1790 in dritter Auflage erschien, und anfangs mehr ein dumpfes Staunen nebst Klagen über die Schwerfälligkeit und Dunkelheit des Ausdruckes, bald aber auf dem ganzen philosophischen Gebiete ein ganz neues Leben erweckte. Kant stellt an den Anfang aller philosophischen Forschung die Frage: Was kann der Mensch wissen? Wo sind die Grenzen seiner Erkenntniß? Die Dogmatiker, welche auf unerwiesene Sätze ihr System erbauten und Alles demonstriren zu können vermeinten, ohne vorhergegangene Prüfung (Kritik) ihrer Grundlage, wurden zu dem Bekenntniß getrieben: Was wir so zuversichtlich behaupten, das können wir im Grunde gar nicht wissen! So führte der »Alles zermalmende Kant«, wie M. Mendelssohn ihn nannte, die Philosophie wieder zum Menschen zurück, da sie vorher in übersinnliche Regionen sich verloren hatte, in denen sie Ahnungen und Grübeleien an die Stelle des Wissens setzte; die ganze Masse des menschlichen Wissens wurde einem Läuterungsprozesse unterworfen und mancherlei Auswüchse mit scharfem Messer abgeschnitten. Es war eine Revolution im Reich des Geistes; eine Reihe glänzender Namen trat auf Kants Seite, und nicht bloß auf protestantischen, sondern auch auf katholischen Hochschulen (zu Mainz von den Professoren Dorsch und Blau, zu Würzburg von Reuß) wurde kantische Philosophie gelehrt. Es erhoben sich auch würdige Gegner, wie Garve, Jakobi, Herder, G. E. Schulze, und gerade durch gründliche Entgegnung mußte die Sache der Wahrheit gewinnen.
Die »Kritik der Urtheilskraft« (Berlin 1790, 3. Aufl. 1799) wirkte höchst belebend auf die Lehre vom Geschmack und von der Schönheit, und Schillers werthvolle ästhetische Abhandlungen entstanden auf Anregung und im Sinn und Geist der kantischen Philosophie. Durch Schiller wurde wiederum Göthe veranlaßt, Kenntniß von den Fortschritten der kritischen Philosophie zu nehmen, wenn auch mehr durch Gespräche als durch eigentliches Studium. Er äußert sich darüber (Sämmtl. W. Bd. 50, S. 50-58) in dem Kapitel: »Einwirkung der neueren Philosophie«: »Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen, sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wie viel unser Selbst und wie viel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage. – Einzelne Kapitel glaubte ich vor anderen zu verstehen und gewann gar Manches zu meinem Hausgebrauch. Nun aber kam die Kritik der Urtheilskraft mir zu Handen, und dieser bin ich eine höchst frohe Lebensepoche schuldig. Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen neben einander gestellt, Kunst und Naturerzeugnisse eines wie das andere behandelt« etc. Auch Frau von Staël gab sich alle Mühe, durch Uebersetzung die kantische Philosophie kennen zu lernen, deren reine Moral ihr Hochachtung einflößte. Sie sagte: »Wenn der Alte in Königsberg auch weiter nichts ausgesprochen hätte, als daß der Mensch stets Zweck sei, nie als Mittel gebraucht werden dürfe: so sei dieß schon einer Ehrensäule werth.« Sie ließ, als sie in Weimar war, von Jena den Engländer Robertson eigens herüber kommen, daß ihr derselbe die Hauptsätze der kantischen Aesthetik vortragen sollte. Vergl. Frau v. Staël in Weimar im Jahre 1804. (Aus K. A. Bötticher's Nachlaß. Morgenblatt 1855, 27.)
Die höchsten und für den Menschen wichtigsten Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit wollte Kant der Botmäßigkeit der grübelnden theoretischen Vernunft entzogen wissen und verwies sie ganz in das Gebiet des sittlichen Lebens, der »praktischen Vernunft«, die sie unbedingt fordert und deren Forderung wir unbedingt Folge leisten müssen. Thue deine Pflicht lediglich der Pflicht willen! Das war der oberste Grundsatz seiner Sittenlehre wie seines Lebens. Das Pflichtbewußtsein einzuschärfen war sein eifrigstes Bemühen als akademischer Lehrer. Nicht Furcht vor Strafe, nicht Ehre, Ruhm, irdischer Gewinn und Vortheil soll uns zur Pflichterfüllung treiben, nicht die Rücksicht, auf unsere Glückseligkeit, sondern das Gebot der Pflicht als solches; ob du durch Erfüllung des Pflichtgebotes dein Wohlbefinden opfern mußt, mit deiner Neigung oder Abneigung in Kampf geräthst: darauf ist gar keine Rücksicht zu nehmen. Thue das Gute und Rechte, weil es gut und recht ist, nicht damit es dir wohl gehe auf Erden.
Diese scharfe Auffassung führte den großen Denker freilich zu dem Irrthume, als spräche das Gefühl in der Sittlichkeit nicht mit, als hätte es keine entscheidende Stimme. Wenn uns die Tugend nicht innerlich beseligte, ihre Uebung nicht das Gefühl des wahren Glückes, das uns keine Macht der Erde rauben, kein äußeres Glück ersetzen kann, gewährte – so würden und müßten wir sie meiden. Die Pflichterfüllung gewährt uns schon im Diesseits, nicht erst im Jenseits Glückseligkeit und das biblische Wort »auf daß es dir wohlgehe auf Erden« hat seinen guten Sinn. Aber des großen Denkers Polemik war im Grunde nur gegen die egoistische Glückseligkeitstheorie gerichtet; wollte das Sittlichkeitsprincip von allem selbstsüchtigen Zusatz befreit wissen. Durch diese Scheidung erhielt die kantische Philosophie etwas Strenges, Sicheres und Festes für die sittliche Ueberzeugung. Von dem Eindrucke, den seine Vorlesungen über Moral machten, berichtet uns Jachmann: »Sie hätten seine Moral hören sollen! Hier war Kant nicht bloß spekulativer Philosoph, hier war er auch geistvoller Redner, der Herz und Gefühl ebenso mit sich hinriß, als er den Verstand befriedigte. Ja, es gewährte ein himmlisches Entzücken, diese reine und erhabene Tugendlehre mit solcher kraftvollen Beredsamkeit aus dem Munde ihres Urhebers selbst anzuhören. Ach, wie oft rührte er uns bis zu Thränen, wie oft erschütterte er gewaltsam unser Herz, wie oft erhob er unsern Geist und unser Gefühl aus den Fesseln seiner selbstsüchtigen Glückseligkeitslehre zu dem hohen Selbstbewußtsein einer reinen Willensfreiheit, zum unbedingten Gehorsam gegen das Vernunftgesetz und zu dem Hochgefühl einer uneigennützigen Pflichterfüllung! Der unsterbliche Weltweise schien uns dann von himmlischer Kraft begeistert zu sein und begeisterte auch uns, die wir ihn voll Verwunderung anhörten. Seine Zuhörer verließen gewiß keine Stunde seiner Sittenlehre, ohne besser geworden zu sein.«
In Beziehung auf akademische Disziplin hegte er sehr liberale Ansichten und pflegte sie mit dem Ausspruch zu rechtfertigen: »Bäume, wenn sie im Freien stehen und im Wachsthum begriffen sind, gedeihen besser und tragen einst herrlichere Früchte, als wenn sie durch Künsteleien, Treibhäuser und konfiscirte Formen dazu gebracht werden sollen.« Diesen Grundsätzen gemäß handelte er auch als Rektor der Universität. In sein erstes Rektorat (1786) fiel der Tod Friedrichs des Großen und die Huldigung seines Nachfolgers Friedrich Wilhelms II. in Königsberg. Die Geschäfte des Rektorates wurden dadurch sehr vermehrt, aber von Kant mit großer Würde und zur Befriedigung der Professoren und Studenten verwaltet. Die Huldigungsanrede von Seiten der Universität, die Kant an der Spitze der Abgeordneten des akademischen Senats zu halten hatte, erwiderte König Friedrich Wilhelm II. auf die huldreichste Weise, indem er zugleich den Redner der Universität in seiner ausgezeichneten Stellung unter den Philosophen Deutschlands begrüßte. Der den König als Huldigungs-Kommissarius begleitende Kabinetsminister Graf v. Herzberg, der mit seiner staatsmännischen Tüchtigkeit die wissenschaftliche verband, zeichnete, wo er mit Kant zusammentraf, den großen Philosophen auf ganz besondere Weise aus. Durch seine Verwendung erhielt Kant eine persönliche Zulage von 220 Thalern, unter folgendem Rescript:
» Friedrich Wilhelm, König u. s. w. Da Uns die Aufnahme und Verbesserung Unserer Universitäten sehr am Herzen liegt: so verdienen die Männer, welche mit ausgezeichnetem Eifer dazu beitragen, auch Unsere vorzügliche Aufmerksamkeit und Achtung. Schon lange haben Wir den Fleiß und die Uneigennützigkeit des so geschickten und rechtschaffenen Mannes, des Professoris Philosophiae Kant, der, ohne irgend eine Zulage und Verbesserung zu verlangen, mit unermüdetem Eifer zum Besten der dortigen Universität arbeitet, mit wahrer Zufriedenheit bemerkt, und in dem von Euch unterm 9. vor. Monats eingesandten Lektionsverzeichniß, nach welchem der etc. Kant die Logik publice ankündigt, ist uns der abermalige Beweis seines Eifers und seiner patriotischen Bemühungen keineswegs entgangen.«
»Wir haben daher dem Professor Kant, zum Zeichen Unserer vollkommenen Zufriedenheit, aus dem Fonds Unseres Ober-Schulkollegiums, eine jährliche Gehaltszulage von 220 Thalern zu akkordiren Allergnädigst geruhet etc. etc.
Berlin, den 3. März 1789.
Auf Spezialbefehl.
An das Ost-Preußische Etats-Ministerium.«
v. Wöllner.
Unterdessen nahm die französische Revolution eine immer bedenklichere Richtung; zu Anfange war sie, wie von den besten Männern der deutschen Nation, so auch von Kant freudig begrüßt worden, denn sein klarer Blick hatte längst das Faule und Morsche der damaligen politischen Zustände erkannt, und ließ sich auch nicht von den Uebertreibungen und Ausschweifungen jener großen Umwälzung irre machen, das Vernünftige und Berechtigte in der neuen Ordnung der Dinge anzuerkennen. Aber ebenso entfernt war er davon, für irgend einen gewaltsamen Umsturz im deutschen Vaterlande seine Stimme zu erheben, er war stets mit gutem Beispiele voran, wo es galt, den Landesgesetzen Gehorsam zu beweisen. Nur durch die stille Wirkung geistigen Fortschrittes, durch Beseitigung von Irrthümern und Vorurtheilen wollte er das Bessere herbeiführen; auch für das sittlich-christliche Leben suchte und fand er eine Stütze in der freien Forschung auf allen Gebieten der Wissenschaft. Da traf ihn der empfindliche Schlag jener Reaktion, veranlaßt durch den Minister Wöllner, der durch das berüchtigte »Religionsedikt« die freie wissenschaftliche Forschung zu hemmen suchte, und auch den großen königsberger Philosophen durch eine Kabinetsordre vom 1. Oktober 1794 so beschränkte, daß dieser erklärte, aller öffentlichen Vorträge, die Religion betreffend, es sei die natürliche oder die geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften, sich gänzlich zu enthalten. Den inneren Kampf, welchen Kant bei den verschiedenen Entwürfen dieser Erklärung mit sich bestand, verräth ein kleiner Zettel in seinem Nachlasse, auf welchem er niedergeschrieben hat: »Widerruf und Verleugnung seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Falle, wie der gegenwärtige, ist Unterthanenpflicht; und wenn Alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen.« Mit welchem Abscheu er aber später noch an das Getriebe der berliner Glaubenskommission gedachte, geht aus seiner unverholenen Freude über ihre Aufhebung und aus seiner kräftigen Schilderung ihrer verderblichen Folgen hervor, die, statt die sittliche Kraft zu heben, nur in Heuchelei, Haß, Zwietracht und Verwirrung der Gewissen sich offenbarten.
Kant hatte sein 71. Jahr angetreten, als diese Verketzerung ihm eine seiner liebsten Vorlesungen, nämlich die »über rationale Theologie«, entzog, wodurch er bei so vielen Theologen, die gern sein Kollegium besuchten, Klarheit, Lauterkeit und Sicherheit religiöser Ueberzeugungen verbreitet hatte. Das Gefühl, von derselben Staatsbehörde, die noch vor wenigen Jahren ihm eine so glänzende Anerkennung hatte zu Theil werden lassen, in seinem reinsten Streben gehemmt und verletzt worden zu sein, die Aussicht auf eine absichtliche Einengung der gewichtvollsten Studien, dazu die allgemeine Unzufriedenheit im Lande über die anbefohlene Gläubigkeit: alles dieß wirkte sehr ungünstig auf die Heiterkeit seines Geistes, und auch die bis in ein so hohes Alter rüstigen Körperkräfte fingen an zu sinken. Kant erschien nicht mehr in größeren Gesellschaften, suchte seit 1794 überhaupt nicht mehr außerhalb des Hauses die geistige Erholung und beschränkte sich auf die Unterhaltung seiner lieben Tischgäste. Mit dem Sommer 1795 stellte er alle seine Privatvorlesungen ein, und las nur noch täglich eine Stunde die öffentlichen, abwechselnd über Logik und Metaphysik. Dagegen arbeitete er eifrig an der Vollendung seiner Metaphysik der Sitten und an der Herausgabe seiner Anthropologie. Dieses ganz populär gehaltene Werk sollte kein strebender Jüngling, dem es um hellen klaren Blick in's Leben und um die Gewinnung leitender Grundsätze zu thun ist, ungelesen lassen. Es vereinigt die guten Eigenschaften Kants des Denkers, des sittlichen Charakters, des witzigen Weltmannes und feinen Gesellschafters, ist auf jeder Seite belehrend und nie langweilig. Nur einige Sätze als Probe. Ueber die lange Weile und Kurzweil heißt es:
»Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts Anderes, als sich kontinuirlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen (der also ein ebenso oft wiederkehrender Schmerz sein muß). Hieraus erklärt sich auch die drückende, ja ängstliche Beschwerlichkeit der langen Weile für Alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind (kultivirte Menschen). – Der Karaibe ist durch seine angeborene Leblosigkeit von dieser Beschwerlichkeit frei. Er kann stundenlang mit seiner Angelruthe sitzen, ohne etwas zu fangen; die Gedankenlosigkeit ist ein Mangel des Stachels der Thätigkeit, der immer einen Schmerz bei sich führt, und dessen jener überhoben ist. Unsere Lesewelt von verfeinertem Geschmack wird durch ephemerische Schriften immer im Appetit, selbst im Heißhunger zur Leserei (eine Art von Nichtsthun) erhalten, nicht um sich zu kultiviren, sondern um zu genießen, so daß die Köpfe immer leer bleiben und keine Uebersättigung zu besorgen ist, indem sie ihrem geschäftigen Müßiggange den Anstrich einer Arbeit geben.«
»Dieser Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen, ist accelerirend und kann bis zur Entschließung wachsen, seinem Leben ein Ende zu machen, weil der üppige Mensch den Genuß aller Art versucht hat und keiner für ihn mehr neu ist; wie man in Paris vom Lord Mordaunt sagte: »die Engländer erhenken sich, um sich die Zeit zu passiren.« – – Die in sich wahrgenommene Leere an Empfindungen erregt ein Grauen ( horror vacui) und gleichsam das Vorgefühl eines langsamen Todes, der für peinlicher gehalten wird, als wenn das Schicksal den Lebensfaden schnell abreißt.«
»Hieraus erklärt sich, warum Zeitverkürzungen mit Vergnügen für einerlei genommen werden, weil, je schneller wir über die Zeit wegkommen, wir uns desto erquickter fühlen; wie eine Gesellschaft, die sich auf einer Lustreise mit Gesprächen im Wagen wohl unterhalten hat, beim Aussteigen, wenn einer von ihnen nach der Uhr sieht, fröhlich sagt: wo ist die Zeit geblieben? oder: wie kurz ist uns die Zeit geworden! Da im Gegentheil, wenn die Aufmerksamkeit auf die Zeit, nicht Aufmerksamkeit auf einen Schmerz, über den wir hinwegzukommen uns bestreben, sondern auf ein Vergnügen wäre, man wie billig jeden Verlust der Zeit bedauern würde. – Unterredungen, die wenig Wechsel der Vorstellungen enthalten, heißen langweilig, sind eben hiermit auch beschwerlich, und ein kurzweiliger Mann wird, wenn gleich nicht für einen wichtigen, so doch für einen angenehmen Mann gehalten, der, sobald er in's Zimmer tritt, gleich aller Mitgäste Gesichter erheitert – wie durch ein Frohsein wegen Befreiung von neuer Beschwerde.«
Kant erlebte noch den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. (1797) und die zugleich erfolgende Aufhebung der Censurbedrückungen. Von einer Krankheit erholte er sich, las mit dem größten Interesse das von Hufeland ihm übersandte Werk: »Kunst, das menschliche Leben zu verlängern«, und hierdurch angeregt schrieb er seinerseits »von der Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden« – eine Kunst, die er selber in ausgezeichnetem Maaße sich erworben. Leider waren die letzten Lebensjahre des großen Mannes eine lange Sonnenfinsterniß für den so lange in höchster Klarheit erschienenen Geist. Das sonst so riesenmäßige Gedächtniß schwand der Art, daß Kant zuletzt seine nächsten Freunde nicht mehr erkannte und sich nicht erinnerte, sie vorher gesehen zu haben; ein fortwährender Druck des Gehirns, das freilich so sehr und so lange in Anspruch genommen worden war, schien alle Kombination der Begriffe zu verhindern; es schwand endlich der Geruch und die Sehkraft und der stets rebellische Unterleib versagte seine Dienste, so daß der ohnehin außergewöhnlich magere Körper schon bei Lebzeiten zu einer Mumie einschrumpfte. Nur das schön gebildete Haupt mit der Denkerstirn konnte keine Krankheit verändern, das Angesicht ward durch den Tod nicht merklich entstellt, der – ein sanftes Entschlummern – am 12. Februar 1804 den Geist von den Banden des Leibes erlöste.
Durch die regelmäßigste Lebensweise und unbedingteste Herrschaft, die der Geist über den Leib errang, hatte es Kant dahin gebracht, daß sein gebrechlicher körperlicher Theil doch so lange Stand hielt für den Dienst der Seele. Er stand Sommer und Winter regelmäßig um 5 Uhr des Morgens auf, und ging um 10 Uhr Abends zu Bette. Er hielt nur Eine (Mittags-)Mahlzeit, und wenn er nicht außerhalb des Hauses speiste, hatte er täglich in der Regel zwei Tischgäste bei sich, höchstens fünf. Seine Tischgespräche vermieden alle Erörterung streng wissenschaftlicher Materien, waren aber nichtsdestoweniger voll von feinen Bemerkungen über Welt und Menschen. Frau v. d. Recke rühmte ausdrücklich die leichte Konversation, die der große Denker auch mit den Frauen zu führen wußte: »Schöne, geistvolle Unterhaltungen dank' ich dem interessanten persönlichen Umgange dieses berühmten Mannes, täglich sprach ich diesen liebenswürdigen Gesellschafter in dem Hause meines Vetters, des Reichsgrafen von Kayserlingk zu Königsberg. Kant war der dreißigjährige Freund dieses Hauses und liebte den Umgang der verstorbenen Reichsgräfin, die eine sehr geistreiche Frau war. Oft sah ich ihn da so liebenswürdig unterhaltend, daß man nimmer den tiefen abstrakten Denker in ihm geahnt hätte, der eine solche Revolution in der Philosophie hervorbrachte. Im gesellschaftlichen Gespräch wußte er bisweilen sogar abstrakte Ideen in ein liebliches Gewand zu kleiden und klar setzte er jede Meinung auseinander, die er behauptete. Anmuthsvoller Witz stand ihm zu Gebot und bisweilen war sein Gespräch mit leichter Satire gewürzt, die er immer mit der trockensten Miene anspruchslos hervorbrachte.« Besonders gern pflegte Kant auch den Umgang mit achtbaren Kaufleuten; – bei Motherby war er des Sonntags regelmäßig zu Tische, der Engländer Green einer seiner liebsten Freunde. Höchst charakteristisch ist die Art, wie Beide in ein näheres Verhältniß kamen. Zur Zeit des englisch-nordamerikanischen Krieges ging Kant eines Nachmittags in dem Dönhoffschen Garten spazieren und blieb vor einer Laube stehen, in welcher er Einen seiner Bekannten in Gesellschaft einiger ihm unbekannter Männer entdeckte. Er ließ sich mit der Gesellschaft in ein Gespräch ein, das sich gar bald auf die großen Ereignisse der Zeitgeschichte lenkte. Kant nahm sich der Amerikaner an, verfocht mit Wärme ihre gerechte Sache und ließ sich mit einiger Bitterkeit über das Benehmen der Engländer aus. Auf einmal springt ganz voll Wuth ein Mann aus der Gesellschaft auf, tritt vor Kant hin, sagt, daß er ein Engländer sei, erklärt seine ganze Nation und sich selbst für beleidigt und verlangt in der größten Hitze eine Genugthuung durch blutigen Zweikampf. Kant läßt sich durch den Zorn des Mannes nicht im Mindesten aus seiner Fassung bringen, sondern setzt sein Gespräch fort und fängt nun an seine politischen Grundsätze und Ansichten, und den Standpunkt, von welchem jeder Mensch als Weltbürger, unbeschadet seines Patriotismus, dergleichen Weltbegebenheiten beurtheilen müsse, mit einer solchen hinreißenden Beredsamkeit zu schildern, daß Green – dieß war der Engländer – ganz voll Erstaunen ihm freundlich die Hand reicht, den hohen Ideen Kants beipflichtet, wegen seiner Hitze ihn um Verzeihung bittet und ihn am Abend bis an seine Wohnung begleitet. Beide Männer waren von Stund' an die intimsten Freunde, und als Green starb, war für Kant eine der tiefsten Quellen der Lebensfreude versiegt. – Auch mit Hippel und Hamann ward Umgang gepflogen, doch waren diese Charaktere, namentlich der in seiner überwiegenden Phantasie mehr springende als stetig forschende Geist Hamanns zu verschieden von der kantischen Klarheit und Gründlichkeit, um ein herzliches Freundschaftsverhältniß herbeizuführen. Uebrigens behandelte der große Mann jeden seiner verschiedenen Freunde auch mit der größten Zartheit nach dessen individuellem Charakter. Er mischte sich nie zudringlich in ihre Angelegenheiten; seinen Rath gab er mit größter Schonung und meist so, daß er auf einen Andern Bezug zu haben schien. Er handelte oft zum Besten namentlich seiner jüngeren Freunde, ohne daß diese es merkten.
Kant besaß in den letzten siebzehn Jahren seines Lebens ein eigenes Haus, das acht Stuben in sich faßte; im untern Stock war auf dem einen Flügel der Hörsaal, auf dem andern die Wohnung seiner alten Köchin; im oberen Stock auf dem einen Flügel sein Eßsaal, seine Bibliothek (die sehr klein war) und die Schlafstube, auf dem andern das Besuchs- und das Studirzimmer, welches nach Osten lag und die Aussicht auf einige Gärten hatte. Das Ameublement war höchst einfach. Nur im Visitenzimmer und in der Eckstube hing ein Spiegel, in den übrigen Zimmern standen einige Tische, Stühle und ein kleines Kanapee. Die weißen Wände waren gar nicht ausgeziert; nur in der Studirstube hing an der Wand das Bildniß von Jean Jaques Rousseau.
In den Jahren, als Kant sich noch auf seinen alten, nachmals schwach gewordenen Diener, Namens Lampe, ganz verlassen konnte, stand fast Alles unter dessen Aufsicht. Er war der Haushof- und Kellermeister. Kant gab am Abend den Küchenzettel für den folgenden Mittag, und sein Lampe mußte dann für die Ausführung Sorge tragen. Pünktlich um drei Viertel auf fünf Morgens mußte der Diener vor dem Bette des Herrn erscheinen und wecken; bisweilen war Kant noch so schläfrig, daß er den Bedienten bat, er möchte ihn heute noch etwas ruhen lassen, aber dieser hatte für solche Fälle schon die nöthige Weisung und ging nicht eher von dannen, als bis er sah, daß sein Herr sich erhob. Kant hielt einen Schlaf von sieben Stunden und zwar von 10 bis 5 Uhr für die Grundlage der ganzen Diät. Sobald er angekleidet war, ging er im Schlafrocke und mit einer Schlafmütze, über welche er noch ein kleines dreieckiges Hütchen setzte, in seine Studirstube, wo er sogleich sein Frühstück genoß, das in einer Pfeife Taback und zwei Tassen sehr dünnen Thees bestand. Er rauchte sehr gern, aber er hatte sich's zur Maxime gemacht, täglich nie mehr als eine Pfeife zu rauchen, und was er einmal sich zur Lebensregel gemacht hatte, daran hielt er unerschütterlich fest. Vir propositi tenax. Kant, dessen Einnahme nie glänzend war, hinterließ ein baares Vermögen von 20,000 Thalern, das er theils seinen Angehörigen, theils für wohlthätige Zwecke bestimmte. Eine seiner Hauptmaximen war auch gewesen, nie Schulden zu machen.