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Philipp Jakob Spener und seine Zeit. Eine kirchenhistorische Darstellung von Wilh. Hoßbach (Berlin, 1828). 2 Theile. Vergl. die Vorrede von Steinmetz in der Sammlung der Spener'schen kleinen Schriften, besonders herausgegeben von Dr. Lange (Halle, 1840) und die Biographie von C. A. Wildenhahn in der Sonntagsbibliothek (Bielefeld, 1845).
Jener Geist des lebendigen Glaubens und wahrhafter christlicher Frömmigkeit, den die Reformation neu erweckt und gekräftigt hatte, war schon nach einem Jahrhundert wieder erstarrt im theologischen Schulgezänk über Rechtgläubigkeit, im todten Formelwesen, das unfähig war, das Leben zu durchdringen, und nur Sektenhaß, Priesterstolz und Heuchelei erzeugte. In einer solchen Zeit trat ein Mann auf, der war von Herzen fromm und demüthig, der lehrte nicht bloß von Christo, sondern lebte in und mit Christo und führte seinen Christenglauben in's Leben, brachte in Kirche und Schule den Geist des in der Liebe thätigen Glaubens und machte so die Theologie wieder praktisch. Dieser Mann war Philipp Jakob Spener.
Er wurde am 13. Januar 1635 zu Rappolsweiler im Ober-Elsaß geboren, wo sein Vater Rath und Registrator des regierenden Grafen von Rappolstein war, und hatte das freilich seltene Glück, in einer durchaus reinen Atmosphäre des christlichen Lebens aufzuwachsen, indem seine frommen Eltern, seine Pathe, die Gräfin von Rappolstein, seine Lehrer und Verwandten alle nach einer Richtung wirkten, und selbst die Universität Straßburg, wo Spener studirte, zeichnete sich damals vor den lutherischen Schwestern sehr zu ihrem Vortheile aus durch Professoren, die sich fern hielten von dem damals herrschenden Zelotenthume und von scholastisch-spitzfindiger Theologie.
Seine Eltern hatten den Knaben schon bei der Geburt zur Theologie bestimmt, und dessen früh hervorbrechenden geistigen Kräfte bestärkten sie in ihrem Vorhaben. Besonders vortheilhaft war es, daß seine Lehrer nicht in der damals völlig geistlosen Katechismuslehre sich versteiften, sondern ihren Schüler bald an den lebendigen Quell des Bibelworts führten, so daß die Lehre durch die Geschichte lebendig wurde. Mit der Lektüre der Bibel verbanden sie diejenige der besten Erbauungsschriften der damaligen Zeit, wie das Buch Joh. Arnd's »vom wahren Christenthum«, Southom's »güldenes Kleinod der Kinder Gottes« und Bayle's »Uebung der Frömmigkeit« (aus dem Englischen übersetzt). Der Knabe las diese Schriften nicht nur wiederholt und gern, sondern brachte einen Theil der Bayle'schen Schrift in deutsche Verse.
Die Gräfin hatte viel Freude an ihrem Pathchen, und wirkte höchst wohlthätig auf die Förderung seines religiösen Sinnes. Sie ließ ihn öfters zu sich kommen, sprach mit ihm über seine Fortschritte im Lernen, über sein leibliches und geistiges Wohl und behandelte ihn wie ihren Sohn. So wuchs der Knabe in der freundlichsten Umgebung auf, und da ihm die Eltern wegen des schlechten Zustandes der Volksschulen Privatlehrer hielten, blieb er von mancher unreinen Berührung, die das Schulleben mit sich bringt, fern. Uebrigens bedauerte das Spener in späterer Zeit sehr, daß er keine Volksschule als Kind durchgemacht hatte, als er zur Einrichtung solcher Schulen in seiner amtlichen Stellung mit Rath und That beihelfen sollte. Er wünschte auch hier, auf Grundlage des Erlebten, urtheilen zu können.
Den durchgreifendsten Einfluß auf das innere Leben Speners übte wohl der gräfliche Hofprediger zu Rappolsweiler, Joachim Stoll, der von seiner ganzen Gemeinde wie ein Vater geliebt ward, seiner uneigennützigen, opferbereitwilligen, unermüdlichen Thätigkeit willen, mit der er auf die Herzen wirkte. Er verstand die Kunst, mit biblischer Kraft und Einfalt seinen Zuhörern das Bibelwort auszulegen, hielt sich fern von allem gelehrten Wortschwall und vornehm klingender Rede, und wandte den Bibeltext auf das Leben an. Sein Schüler schrieb die Predigten eifrig nach und bildete dadurch sich selbst zur erbaulichen Predigtweise, wodurch er so segensreich wirkte. Auch in dem höchst praktisch geleiteten katechetischen Unterricht hatte Spener ein vortreffliches Muster. Stoll hatte mehrmals einen ehrenvollen Ruf zu einträglicheren Stellen erhalten, war aber seinem Rappolsweiler treu geblieben, und verheirathete sich mit Speners ältester Schwester.
In der Geschichte und Geographie verdankte Spener das Meiste seinem Privatstudium; in der Verskunst aber förderte ihn sehr der talentvolle Vorberger, der Dichter gehaltvoller geistlicher Lieder, die sein Schüler so treu im Gedächtniß bewahrte, daß er manche Verse derselben noch in seinen spätesten Lebensjahren am Kranken- und Sterbebette zur tröstlichen Erbauung betete. Sigismund Vorberger war es auch, der sich entschieden gegen den Mißbrauch erklärte, in christlichen Liedern die Namen heidnischer Götter anzubringen, und so nahm sich auch Spener vor, Alles, was er dichtete, von jener heidnisch-mythologischen Beimischung rein zu halten.
Eines eigentlichen Vergehens wußte sich der so sittenreine und sittenstrenge Mann aus seiner Jugendzeit nicht zu erinnern; nur auf einen Vorfall in seinem zwölften Jahre deutete er zuweilen hin als einen Beweis, daß er der Versuchung zum Bösen nahe gewesen sei, indem er einst, mit Knaben und Mädchen seines Alters zu einer Gesellschaft geladen, aufgefordert worden sei zu tanzen. Auf langes Zureden hätte er endlich den Versuch gemacht, wäre aber auch sogleich dabei von solcher Angst befallen worden, daß er mitten im Tanze davon gelaufen sei und in einem verborgenen Winkel durch Thränen seinem bedrängten Gewissen Erleichterung verschafft habe. Spener wollte das Tanzen nicht geradezu verbieten, aber er hielt es doch für die Erhaltung des christlichen Sinnes zuträglicher, nicht zu tanzen. Uebrigens hatte Spener von Natur ein schüchternes Wesen, über das er noch in seinem 65. Jahre klagte: »Die Klage über Mangel des Muthes aus natürlicher Blödigkeit anlangend, so ist es eben die Krankheit, die ich auch von Jugend auf fühle, daher ich in allen meinen Verrichtungen zu nichts mehr Vorbereitung (und daß sich meine Natur gleichsam zwingen muß) bedarf, als wo ich zu Jemanden, wie gering er auch wäre, also daß ich mich vor ihm nicht fürchten darf, mit wahrem Ernst reden soll. Manchmal däucht es mich, als ziehe mir etwas die Stimme zurück, daß die Worte nicht herauskommen; dies thut mir zwar weh und demüthigt mich, da ich es aber nicht zu ändern vermag, muß ich es mit Geduld tragen und des Herrn Gnade darüber suchen.«
Einen tiefen unvergeßlichen Eindruck machte auf ihn der Tod seiner mütterlichen Freundin, der frommen Gräfin von Rappolstein. Es hatte ihn schon sehr bekümmert, daß er seine Wohlthäterin acht Tage lang nicht hatte besuchen dürfen; da ward er zu ihr gerufen, und als er sie todtenbleich auf ihrem Bette liegen sah, ergriff sein Herz der tiefste Schmerz. Die Gräfin winkte ihn zu sich, legte die Hand auf sein Haupt und öffnete den Mund, ihm das letzte Lebewohl zu sagen; aber vom Schlagfluß gelähmt, konnte sie kein Wort mehr hervorbringen. Um so tiefer und inniger empfand ihr junger Freund, was sie ihm hatte sagen wollen; er war so ergriffen, daß er alle Lust zum Leben verlor und Gott flehentlich bat, er möchte auch ihn bald sterben lassen. Alle weltliche Eitelkeit hatte für ihn nun gar keinen Reiz mehr; ein tiefer Ernst ward fortan der Grundzug seiner Seele.
Von seinem wackeren Lehrer Stoll gut vorbereitet, ward Spener in seinem 15. Jahre zu fernem Großvater mütterlicher Seite nach Colmar geschickt, wo er noch ein Jahr lang das Gymnasium besuchte und dann schon für reif befunden wurde (1651), die Universität Straßburg zu beziehen. Hier nahm ihn sein Oheim, Johann Rebhahn, Professor der Jurisprudenz, in sein Haus und an seinen Tisch, und ließ ihm auch sonst manche Unterstützung angedeihen.
Mit großem Eifer begann Spener sein Studium und zwar nicht sogleich die eigentliche Theologie, sondern die vorbereitenden Wissenschaften, Philologie, Geschichte und Philosophie. Er hielt ein strenges wissenschaftliches Studium für den Theologen höchst nothwendig, und hat sich später nachdrücklich darüber ausgesprochen. »Ich habe mich oft erklärt« (sagt er in seiner Vorstellung gegen Dr. Schelwigs »sectirische Pietisterey« §. 14), »daß ich kein einziges Stück der Erudition verwerfe, und wollte vielmehr, daß alle Studiosi nicht nur frömmer, sondern auch gelehrter würden. Deßwegen ist mir unter Frommen der Gelehrtere immer angenehmer; ja ich eifere dagegen, wo mich däucht, daß Jemand die Studia etwas zurücksetzt.« Das Studium der deutschen Geschichte trieb er mit vieler Lust, und besonders zog ihn Hugo Grotius an, dessen berühmte Schrift »vom Recht der Völker im Krieg und Frieden« ( de jure pacis et belli) so in seine Gesinnung und Denkweise überging, daß man noch späterhin in seinen Predigten Anklänge daran bemerken konnte. Aber auch die alten Geschichtschreiber wurden fleißig gelesen und neben dem Griechischen das Hebräische mit allem Eifer betrieben. Schon im Jahr 1653, kaum achtzehn Jahr alt, erwarb er sich den Grad eines Magisters, und disputirte bei dieser Gelegenheit über »die Verhältnisse der Vernunft zu dem Schöpfer«. Er bekämpfte die sogenannte »natürliche Theologie«, namentlich die Ansichten und Lehren des Engländers Thomas Hobbes, der den Geist des Menschen als schlechthin eins ansah mit der Materie.
Nach solcher dreijährigen Vorbereitung wurde im Juni 1654 das eigentliche theologische Studium begonnen, wozu die beiden Professoren Dannhauer und Seb. Schmidt sehr gute Anleitung gaben. Beide kamen darin überein, daß sie die Glaubenslehre mehr von ihrer praktischen Seite faßten und ihre Schüler für das damals sehr vernachlässigte Bibelstudium zu begeistern wußten. Dabei wurden die Uebungen in der Gottseligkeit nicht minder fleißig betrieben. Spener hatte schon durch seinen alten Lehrer Stoll den Grundsatz festzuhalten gelernt, daß man am Sonntage nichts thun müsse, wodurch man gelehrter, sondern nur das, wodurch man besser und frömmer zu werden hoffen könne. Nach beendigtem Gottesdienst las daher Spener nur erbauliche Schriften und Werke, wie Andreas Cramers »der gläubigen Kinder Gottes Ehrenstand und Pflicht«, und zwar nicht bloß allein, sondern auch mit einigen vertrauten Freunden. Diese jungen Leute führten einen förmlichen Hausgottesdienst ein, indem sie vor dem gemeinschaftlichen Lesen die zu jener Zeit neuen frommen Lieder von Rist, Homburg u. A. sangen, auch wohl über einzelne Bibelstellen selbst in Versen sich vernehmen ließen.
Da Spener sehr viel Geschwister hatte und die Geldunterstützungen von zu Hause spärlich einliefen, erwarb er das Fehlende, indem er wohlhabenden Studenten Unterricht ertheilte. Im Jahre 1654 wurde er zum Hofmeister der beiden Pfalzgrafen am Rhein ernannt, als diese die Universität Straßburg bezogen, und verwaltete dieses ehrenvolle Amt 1½ Jahr mit aller Treue. Als die Pfalzgrafen nach damaliger Sitte eine Reise nach Frankreich unternahmen, luden sie ihren geliebten Lehrer zur Begleitung ein; dieser, so sehr er auch das Reisen liebte, schlug das Anerbieten aus, um seine Studien nicht zu stören. Wie eifrig er arbeitete, ersieht man aus einer späteren Aeußerung: »Ich entsinne mich, daß zur Zeit meines Studiums in Straßburg, als ich bei den Pfalzgrafen war, und diese eine kleine Reise unternommen hatten, ich mit einer alten Magd allein im Hause geblieben war. Etwa sechs Wochen gingen dabei auf eine solche Art hin, daß ich zuweilen mehrere Tage hinter einander kaum einen Menschen gesehen habe, selbst nicht einmal die Magd, denn diese mußte mir mein Essen außerhalb der Thür niedersetzen. Ich brachte meine ganze Zeit unter den Büchern hin, und dieses Lebens wurde ich so wenig überdrüssig, daß ich vielmehr betrübt wurde, daß die Zeit herannahete, wo meine Herren wiederkommen und ich also eine so süße Einsamkeit aufgeben sollte.« Nicht zufrieden mit diesem eisernen Fleiß, wollte er sich noch mehr in der Entsagungskraft üben und bestimmte den Sonnabend zum Fasttag, indem er sich aller Speise enthielt und den quälenden Hunger erst am Abend mit einigen Stückchen Brod stillte. Ein volles Jahr setzte er dies Experiment fort, bis seine Hinfälligkeit ihn zwang, ärztliche Hülfe zu suchen und die Einsicht ihm kam von der Schädlichkeit solcher Uebertreibungen.
Um seine wissenschaftliche Bildung durch den Besuch anderer Universitäten zu erweitern, ging er 1659 nach Basel, wo er den Unterricht des berühmten Buxtorf genoß und sich in der hebräischen und rabbinischen Sprache vervollkommnete. Sein wissenschaftlicher Ruf war bereits so gestiegen, daß auf seine Anregung eine historische Disputation gehalten wurde, wobei freilich einige calvinische Eiferer ihm wegen seiner lutherischen Strenggläubigkeit allerlei Kränkung zu bereiten suchten. Auch die französische und italienische Sprache wurde, soweit es die Zeit erlaubte, erlernt, und obwohl es Spener hierin nicht weit brachte, gestand er doch, daß er das Wenige nicht um vieles Geld hingeben möchte. Bei dieser Allseitigkeit seiner Studien unterstützte ihn sein außerordentliches Gedächtniß, wodurch er in den Stand gesetzt wurde, selbst die Seitenzahl anzugeben, wo er diese oder jene Stelle gelesen hatte. Seine Predigten schrieb er auf, las sie dreimal durch und hielt sie dann wörtlich so, wie er sie aufgeschrieben hatte. Brachte er zufällig in seinem Vortrage ein anderes Wort, so korrigirte er sogleich beim Nachhausekommen die Stelle im Manuscript, um stets ganz genau zu wissen, was er an heiliger Stätte gesprochen.
Von Basel begab sich Spener nach Genf. Hier lernte er einen geborenen Waldenser kennen, der mehrere Jahre bei der holländischen Gesellschaft zu Konstantinopel Prediger gewesen war, und ihm über die Geschichte und den Zustand der Waldenser, wie über die Beschaffenheit der griechischen Kirche die interessantesten Aufschlüsse gab. Von Genf aus wollte Spener eine Reise durch Frankreich machen, aber eine Gliedergicht, die ihn drei Monate an's Zimmer fesselte, hinderte ihn, und so begnügte er sich mit einem Ausfluge nach Lyon. Reich ausgestattet mit allerlei Erfahrung, kehrte er dann über Basel nach Straßburg zurück, wo er seine lange unterbrochenen Vorlesungen wieder begann. Den bald darauf an ihn ergehenden Ruf zur zweiten Freipredigerstelle in Straßburg nahm er gern an, und im folgenden Jahr (1664) promovirte er auch zum Doktor der Theologie, an demselben Tage, wo er seine Hochzeit feierte. Da nämlich bei der Doktorpromotion ein festlicher Schmaus nicht fehlen durfte, so hatte er in seinem Sinne für Sparsamkeit es so angeordnet, daß der Hochzeitsschmaus damit zusammenfiel. Bald darauf erhielt Spener noch anderweitige ehrenvolle Anträge, die er aber ausschlug, bis ihm die wichtige Stelle eines Seniorats des Ministeriums zu Frankfurt a. M. angetragen wurde, die er auf den Rath seiner Freunde und in Aussicht einer reichen Wirksamkeit annahm (1666). Es war keine geringe Aufgabe für den erst einunddreißigjährigen Mann, als Senior einem geistlichen Kirchenkollegio vorzustehen, in welchem die nächsten seiner vier Kollegen über 60 Jahre alt waren. Spener hatte sich aber seine »Amtsregeln« entworfen, und verband mit dem klarsten Verstände den besten Willen. Diese Regeln waren folgende:
a. Gegen den Magistrat.
1. Keinerlei Einmischungen in weltliche Geschäfte, keinerlei Gesuch
um leibliche Aushilfe weder für mich noch die Meinen, um desto
freier in amtlichen Sachen auftreten zu können.
2. Willige Unterwerfung unter obrigkeitliche Anordnung, mit Ausnahme
in Dingen, welche das Gewissen betreffen.
3. Vorsichtiges Urtheil über alle obrigkeitliche Handlungen und
volles Vertrauen in die Amtsthätigkeit.
4. Im Umgange mit Einzelnen aus ihrer Mitte stets die aufrichtigste
Herzlichkeit zeigen.
5. Ihre Fehler und Sünden niemals öffentlich strafen.
b. Gegen die Kollegen.
1. Es sie niemals fühlen lassen, daß ich ihr Vorgesetzter bin und
mich jederzeit ihnen zur Aushülfe anbieten.
2. Keinerlei Einfluß üben auf die Freiheit ihrer Abstimmung in
kirchlichen Angelegenheiten.
3. Mich fern halten von Neid und Mißgunst.
4. Brüderliches Zusammenhalten für das Eine, was der Kirche
Noth thut.
c. In Betreff meiner Predigten.
1. Ich will nichts, als erbauen. Daher Vermeidung alles gelehrten
Wesens.
2. Ich will mich einer deutlichen, faßlichen Redeweise befleißigen.
3. Die jedesmalige Gemüthsbewegung, in die mich die Predigt setzt,
offen zeigen und niemals verbergen.
4. Meine Schwachheit gern eingestehen.
5. Auch den Schein vermeiden, als suchte ich für meine Person eine
Herrschaft über die Gewissen.
6. Die Gemeinde öfters bitten, mich durch ihr Gebet in meiner
Arbeit zu unterstützen.
7. Alle Streitfragen wo möglich unberührt lassen.
8. Keine eigentliche Strafpredigt halten, sondern vielmehr die Herzen
durch Vorstellung der Liebe Gottes und aller göttlichen Wohlthaten
erinnern.
9. Die Zuhörer allzeit zur Prüfung ihrer Herzen und Gewissen auffordern.
10. Das Evangelium mehr predigen, als das Gesetz.
11. Fleißige Ermunterung zum Lesen der heiligen Schrift.
Gegen alle pharisäische Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit zog Spener entschieden zu Felde, und strebte unablässig dahin, seine Zuhörer in ihr eigenes Innere zu führen. In vielen Häusern begannen die Hausväter und Hausmütter wieder, mit den Ihrigen die Bibel zu lesen, ja die Bürger unterhielten sich in ihren geselligen Zusammenkünften über diesen und jenen Spruch oder über die letzte Predigt ihres verehrten Seelsorgers. Auf den Wunsch mehrerer frommer Gemeindeglieder eröffnete Spener sein Collegium pietatis; d. h. er empfing die Heilsbegierigen in seiner Studirstube und las mit ihnen anregende christliche Schriften, woran sich dann ein freies Gespräch über dunkle Stellen knüpfte. Bald fand es Spener am zweckdienlichsten, ausschließlich die Bücher des Neuen Testaments diesen frommen Unterhaltungen zum Grunde zu legen. Im Jahre 1675 gab er die Arnd'sche Postille neu heraus und begleitete die neue Auflage mit einer Vorrede, worin er die Gebrechen der Kirche und des weltlichen Standes in scharfer Eindringlichkeit aufdeckte und daran seine pia desideria (fromme Wünsche) knüpfte, wie es besser werden könnte und sollte. Er stellte mit allem Freimuth das sündhafte Treiben der großen Herren, besonders der Höfe dar, den unchristlichen Sinn der Obrigkeiten, den Mangel häuslicher Zucht in den Familien, aber auch das Unwesen der Theologen, die ihr Studium mehr »in zanksüchtigen Disputationen, als in der Gottseligkeit suchten«. Diese Vorrede erregte großes Aufsehen und wurde besonders abgedruckt unter dem Titel: » Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche nebst einigen dahin abzweckenden christlichen Vorschlägen«.
So wirkte der fromme Spener zwanzig Jahre lang in der freien Stadt Frankfurt mit Segen. Nachdem er im Sommer 1685 von einer schweren Krankheit genesen aus dem Bad Ems zurückgekehrt war, erhielt er von Dresden aus wiederholte dringende Anfragen, ob er sich nicht entschließen möge, die Stelle als Oberhofprediger und Beichtvater des Churfürsten, der sehr nach ihm verlange, anzunehmen. Spener antwortete jedesmal ablehnend und schlug einen anderen tüchtigen Mann zu der Stelle vor. Als aber zu Anfang des Jahres 1686 der Oberhofprediger Dr. Lucius gestorben war, erhielt er bald darauf von Dresden aus eine förmliche Bestallung zu dem wichtigen Amte eines Oberhofpredigers, churfürstlichen Beichtvaters, Kirchenrathes und Consistorial-Assessors. Der Churfürst hatte sogar noch einen Reisepaß zum freien Abzuge und sicheren Geleite und für den Magistrat zu Frankfurt ein eigenhändiges Schreiben beigelegt, in welchem er um Ueberlassung ihres Seniors bat. Nach langem inneren Kampfe begab sich Spener im Sommer desselben Jahres auf die Reise und wurde in Dresden mit größter Ehrerbietung empfangen.
Die sächsischen Theologen blickten neidisch auf einen Mann, der nun ihr Vorgesetzter geworden und von dem zu erwarten stand, daß er noch mehr die althergebrachte lutherische Orthodoxie angreifen würde. Professor Carpzov in Leipzig hätte gern aus seinem Anhange den Posten in Dresden besetzt gesehen, und fing alsbald seine Kabalen gegen den neuen Oberhofprediger an, obschon er es vermied, ihn bei Namen zu nennen. In demselben Jahre, in welchem Spener sein Amt angetreten hatte, begannen die Magister in Leipzig, A. H. Franke, Anton und Schade ihre Collegia philobiblica, worin sie biblische Bücher nach Speners Plan mit großem Beifall ihrer zahlreichen Zuhörer praktisch erklärten. Diese Kollegia griff nun Carpzov zunächst an und suchte sie als Sectirerei darzustellen. Man nannte jetzt alle die Mitglieder jener Bibelstunden »Pietisten«, und brauchte diesen Namen als Schmähwort. Es war nicht zu läugnen, daß manche Schwache, die durch ihr Aeußeres auffallen und sich von den weltlich Gesinnten durch fromme Geberden absondern wollten, Anlaß zum Spott gaben; aber die Mehrzahl jener Vereine war vom reinsten Streben beseelt.
Den Feinden Speners kam es zu Statten, daß auch die Höflinge in Dresden, denen der fromme Mann zu stark in's Gewissen predigte, gegen ihn sich erhoben und jede Gelegenheit ersahen, um den Churfürsten wider ihn aufzubringen. Johann Georg III. mochte auch den strengem Sittenrichter zu unbequem finden, und als Spener nach der Weise seiner Vorgänger ihm ein Schreiben überreichte, worin er ihm bescheiden zwar, doch freimüthig, die wahre Beschaffenheit seines Gemüthszustandes entdeckte, fiel er darob in Ungnade und mußte den Hof meiden. Deßgleichen zerfiel Spener mit seinen dresdener Kollegen, weil er, ohne diesen davon Mittheilung zu machen, seine Katechismus-Examina eingeführt hatte, in denen er durch Frage und Antwort Erwachsene, die sich einfinden wollten, über die christliche Lehre nachzudenken veranlaßte. Spener wollte dies neue Institut zuvor in Gang bringen, und dann zu den Uebelwollenden sagen: »Kommt und sehet!« Aber bald erschien ein churfürstliches Rescript, worin alle Bibelvereine und Privatgottesdienste dieser Art »als bedenkliche Konventikula« alles Ernstes und bei Gefängnißstrafe verboten wurden, weil der Churfürst nicht gemeint sei, »solchem weit aussehenden und zu allerhand gefährlichen Folgen abzielenden Unwesen nachzusehen«. Franke und Schade wurden aus Leipzig verwiesen, Spener aber von seinen Feinden nun laut als »Patriarch der Pietisten« und Ursache solcher »Greuel« bezeichnet. Carpzov griff in seinen Predigten und Universitätsprogrammen den ihm verhaßten Spener ohne Unterlaß an; Dr. Alberti, als oberster Inspektor der churfürstlichen Stipendiaten, kam bei dem Kirchenrathe mit dem Gesuche ein, es möchten alle des Pietismus verdächtigen oder überwiesenen Studenten aufgefordert werden, ihre Irrthümer abzulegen bei Strafe der Entziehung ihrer Stipendien. Obwohl Spener in den Berathungssessionen das Unbillige eines solchen Verlangens nachwies, ertheilte der Kirchenrath dennoch dem Dr. Alberti seine Zustimmung. Eine große Zahl der fleißigsten und besten Studenten wurden nicht bloß der bisher genossenen Unterstützung beraubt, sondern auch aller Hoffnung auf eine Anstellung im Vaterlande für verlustig erklärt.
Unter solchen Umständen war dem verkannten und verfolgten Spener der Ruf des Churfürsten von Brandenburg und späteren Königs von Preußen, Friedrichs I, der ihn 1691 zum Konsistorial-Rath und Probst an der Nicolaikirche zu Berlin ernannte, eine wahre Friedensbotschaft. Der Umzug Speners nach Berlin beruhigte aber keineswegs seine Widersacher, die ihn nun der Treulosigkeit gegen die lutherische Kirche beschuldigten, daß er von einem reformirten Fürsten eine Vokation angenommen habe. Nun zeige sich klar, daß es mit seiner lutherischen Rechtgläubigkeit schlecht bestellt sei. Spener sah sich genöthigt, nachdrücklich zu erklären, daß er an eine evangelisch-lutherische Kirche berufen worden sei und mit der Lehre der Reformirten nichts zu thun habe; als die Beschuldigungen nicht aufhörten, schrieb er unter Ermunterung seines Fürsten die kräftige Streitschrift: » der evangelischen Kirche Rettung von falscher Beschuldigung der Trennung und der Gemeinschaft mit aller Ketzerei«. Er setzte seine Katechismusübungen auch in Berlin fort, die sich eines guten Fortganges erfreuten, seine Predigten waren stets zahlreich besucht und bei der ihm zugetheilten Aufsicht über die Kirchen und Schulen hatte er reiche Gelegenheit, für Ausbreitung des christlichen Geistes zu wirken. Zu der 1688 errichteten Universität Halle waren zwei treue Lehrer, Dr. Breithaupt und A. H. Franke berufen worden; Spener übte nun mit seinem Freunde Herrn von Seckendorf den entschiedensten Einfluß auf eine gedeihliche Entwickelung jener Universität. Das Aufkommen von Halle war um so wichtiger, als in Sachsen und besonders in Wittenberg damals der Geist der Unduldsamkeit und Parteisucht den höchsten Grad erreicht hatte. War doch jene Schmähschrift, worin dem guten Spener 240 Irrthümer im rechten Glauben zur Last gelegt wurden, von der theologischen Fakultät zu Wittenberg ausgegangen! Der Religionshaß, den man den hier studirenden Brandenburgern einpflanzte, wurde dann durch diese wieder dem Volke und der Jugend eingeflößt, wenn sie in ihrem Vaterlande Kirchenämter und Schulstellen erhielten. Von Gesinnungen der Treue und des Vertrauens gegen den reformirten Landesherrn konnte da keine Rede sein.
Mit der besseren Richtung im kirchlichen Leben brach nun Spener auch einer besseren Pädagogik die Bahn.
In Bezug auf den Schulunterricht suchte er besonders folgende Mängel zu beseitigen. Die lateinische Sprache, deren Studium allerdings unentbehrlich sei, werde in den gelehrten Schulen fast einzig und allein, und doch nicht zweckmäßig betrieben; Griechisch viel zu wenig und Hebräisch fast gar nicht; nach Gelegenheit zum Unterricht in den Anfangsgründen anderer nützlicher Kenntnisse (der »Realien«) frage man vergebens. An der Anleitung zu einem frommen und dem Sinne Christi gemäßen Wandel fehle es beinahe durchgängig auf höheren und niederen Lehranstalten, und zur heilsamen Benutzung der Bibel werde keine Anleitung gegeben. Der Religionsunterricht richte sich statt auf das Herz, bloß auf das Gedächtniß, und die Jugend komme wohl mit einigen Kenntnissen bereichert aus der Schule, aber nicht gebessert. Vor allen Dingen sei nöthig, tüchtige Schulamtskandidaten heranzubilden und keine anderen als wohlgeprüfte zu Lehrern zu bestellen. – Es waren dieselben Grundsätze, von denen auch Franke ausging, der sie in den Schulanstalten des von ihm gegründeten hallischen Waisenhauses mit wahrhaft genialer Meisterschaft verwirklichte.
Speners häusliches Leben war wie seine Seelsorge, unausgesetzte Erfüllung des Spruches »bete und arbeite«. Jedes wichtige Geschäft wurde mit Anrufung Gottes begonnen, ein gemeinschaftliches Morgengebet fing den Tag an, ein gemeinschaftliches Abendgebet schloß ihn. Seine treue Gemahlin Susanna half ihm wacker in der Erziehung seiner Kinder, sie stand ihm treulich bei mit Rath und Trost in allen Gefährnissen des Lebens, und durch die Ordnung, welche sie im Hauswesen erhielt, erleichterte sie dem Manne die vielseitige außerordentliche Thätigkeit. Jede Stunde des Tages hatte ihre bestimmten Geschäfte. Doch mußte Spener seine eigentliche Arbeitszeit auf den Vormittag beschränken, da der Nachmittag wegen des vielen Zuspruchs von Einheimischen und Fremden und wegen anderer unvermeidlicher Zerstreuungen nie in seiner Gewalt war. Sein ausgebreiteter Briefwechsel verursachte ihm vielen Zeitaufwand. Er erzählte einstmals Franken, als dieser ihn in Dresden zur Neujahrszeit besuchte, es lägen noch 300 Briefe vom vorigen Jahre von ihm unbeantwortet da, und doch hatte er 622 im selbigen Jahre mit eigener Hand geschrieben, und von diesen waren manche sehr ausführlich. Auf seinen Inspektionsreisen brachte er den ganzen Tag mit Lektüre zu; den hinter seinem Hause zu Berlin gelegenen Garten hat er nur zwei Mal besucht. Sein Hauswesen, sein Tisch, seine Kleidung und sein Auftreten waren von der höchsten Einfachheit; auch bei dem schlimmsten Wetter machte er seine Gänge in der Stadt zu Fuß ab. Sein Körper war nicht stark, eher schwächlich zu nennen, aber sehr zähe. Er starb am 5. Febr. 1705, in einem Alter von 70 Jahren, nachdem er noch kurz zuvor an seinen königlichen Herrn Friedrich I. einen Brief geschrieben hatte, worin er ihm dankt für alle bisher ihm so unverdient erwiesene Gnade, für des Königs treue Vorsorge für die Kirche Christi, besonders für die Aufnahme der aus Frankreich durch das Edikt von Nantes vertriebenen Reformirten in seinen Landen, – ferner die weitere christliche Sorge für die Universität Halle an das landesväterliche Herz legt und endlich auch für seine Wittwe und Kinder um Fortdauer der bisherigen Unterstützung bittet. Seine letzte Seelenstärkung war das 17. Kapitel aus dem Evangelio Johannis gewesen (das hohepriesterliche Gebet des Herrn), das man ihm dreimal vorlesen mußte.