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Drei Tage gingen hin unter Bangen, Herzklopfen, Wünschen, Hoffen und inniger Teilnahme. Am Abend des dritten brachte der Dampfer eine Antwort aus Schorfen, die Herminen Tränen der Glückseligkeit in die Augen trieb.
Der Vater schrieb, sie freuten sich auf ihr Töchterchen, nächster Tage werde er die Mutter, die Seeluft atmen solle, nach Göhren bringen, dabei wolle er seine Tochter von Kalkoffs frei machen und sie könne mit der genesenen Mutter die Rückreise antreten. – »Sie wird dich brauchen;« das war die einzige Stelle des Briefes, die Hermine weh tat: armes Mutterchen, gewiß hätte sie die Tochter schon längst gebraucht.
Bald kam der Tag, an dem die Eltern Gesterding in Göhren eintreffen sollten; noch nie hatten sie im Spatzennest so viel nach dem Wetter geguckt – zehnmal wurde Jens Sture am Abend vorher gefragt, ob es auch ganz bestimmt halte? – Jens Sture »nahm die Beständigkeit des Wetters auf seine Kappe«, und es hielt. Sonne von früh an, dazu ein sanftes Lüftchen, das keine Welle machte und die Boote vor dem Dampfer liegen ließ, als seien sie hingemalt. – So kamen die Eltern Gesterding ohne Beschwer und ohne Seekrankheit an, – der Vater braun und bärtig, wie ein Landjunker anzusehen, die Mutter »wie zum Zerblasen«, aber ihre Augen glänzten und als sie die reuige Tochter in die Arme nahm, da war sie doch die Starke, die ihr Kind schützend umfing.
Gustel hatte aus bescheidener Entfernung mit zärtlicher Teilnahme Herminens Eltern betrachtet und gar nicht bemerkt, daß da auch Sorgerts sich den Landungssteg entlang drängten; erst als Wolfgang Amadeus auf sie zustürmte, wurde ihr klar, daß Kapellmeisters diesmal wirklich in Göhren Sommerfrische halten wollten. Im Nu sammelte sich ein großer Kinderknäuel – Mausi, Ida, Frida, Os und Ot umtanzten sie und Mozart hing in ihren Armen und strampelte vor Wonne.
Dabei gingen ihre Augen aber doch immer wieder zu den Eltern Gesterding, und diesmal sahen sie hinter ihnen einen Fremden stehen, der ganz offenbar dazu gehörte. Es war ein großer Mann, etwas ins Gelbbraune verbrannt, ohne Bart, sonst aber dem Vater Gesterding nicht unähnlich.
»Der Indier,« dachte Gustel, ließ sachte Wölfchen aus den Armen gleiten, schob ihn zu Mausi und drückte sich verstohlen immer weiter hinter die lebhafte Begrüßungsgruppe zurück.
Es gelang ihr auch, der flüchtigen allgemeinen Vorstellung zu entschlüpfen. Gesterdings gingen gleich nach der ›Hoffnung‹, denn im Hause Beckers hatten sie Quartier bestellt und Frau Beckers erklärte, »für den Herrn Joseph seine Eltern tät sie den Kaiser von China an die Luft setzen«, was glücklicherweise nicht erst nötig gewesen war.
Nur wenige Worte waren zwischen Kalkoff und Gesterding nötig und Hermine wurde freigegeben. Gleich heute durfte sie übersiedeln. »Zur Pflege der Mutter.«
Sie war die einzige, die Gustel in den Dünen suchte und fand. Sie eilte zu ihr, drückte sie auf einen flüchtigen Augenblick ans Herz, flüsterte: »Ich bin sehr glücklich und Sie haben mir dazu geholfen!« und eilte dann wieder zu den Eltern zurück, die sich anschickten, den Strand zu verlassen.
»Wenn ich nur ein Mäuschen wäre,« dachte Gustel, aber so bequem ist's im Leben nicht, daß man nur seinen Feenring zu drehen braucht und zu flüstern:
Hinter mir Nacht, vor mir Tag,
Daß mich niemand sehen mag –
um unsichtbar zu werden. Außerhalb des Märchenbuchs muß man alle seine Taten selber ausbaden.
Schon am folgenden Tag war dem Indier, den Os und Ot und in ihrem Gefolge Ida und Frida beharrlich den Indianer nannten, nicht mehr zu entgehen. Os und Ot waren wieder auf den Pfad der Tugend eingelenkt, des Vaters Gegenwart wirkte kräftig, aber daß Fräulein Hermine ging, war ihnen auch nicht geheuer – sie fühlten sich schuldig und bemühten sich leise aufzutreten; je weniger man von ihnen merkte, desto besser war es.
Auch Myrrha fühlte sich unbehaglich – ihr Weihnachtswunsch war ja nun erfüllt – aber das Wie erschien ihr plötzlich beschämend. Als Hermine am andern Morgen ihre Sachen einpackte, trat sie zu ihr ins Zimmer, einen schönen goldenen Armreif verlegen in der Hand drehend.
»Wir haben doch wunderhübsche Zeiten zusammen verlebt – sei nicht so unnahbar – es ist doch wahr! wirklich du mußt nicht so sein wegen der letzten Zeit; jeder Mensch hat einmal unliebenswürdige Perioden, die Singvögel mausern sich auch und dann krächzen sie – und zur Erinnerung an die guten Stunden, bitte, nimm den Armring; bitte, du mußt ihn nehmen!«
Hermine wollte nein sagen – aber irgend etwas hinderte sie daran: urplötzlich fielen ihr all die Augenblicke ihres Lebens ein, in denen sie unrecht gehabt und jemandem weh getan hatte, Fälle, in denen ihr doch auch vergeben worden war.
»Ich danke dir,« sagte sie langsam und legte den Armring um das Handgelenk, »du hast recht, wir wollen, wenn wir aneinander denken, uns immer nur an die gute Zeit erinnern.«
Und nun saßen sie alle am Strand und waren froher denn seit langer Zeit – auch Friederike, denn sie begriff auf einmal, was diese Allerweltsgustel so viel an Herminen herumzulieben und zu trösten gehabt hatte.
»Heute sind einige Fuder Steine von unsern Herzen abgefallen,« sagte sie zu Doktor Born, dessen Ankunft gestern gar nicht bemerkt worden war, denn der bescheidene junge Mann hatte sich vor dem Familienjubel, zu dem er nicht gehörte, zurückgehalten.
Jetzt zwinkerte er etwas mit den Augen, als wolle er Jens Sture seinen schlausten Blick ablernen und ließ diese Augen schweifen; als er bis zu Gustel Elwers gekommen war, die abseits von den fröhlichen Menschen auf einem umgestürzten Kahne saß, sagte er: »Dort aber scheint mir noch irgend eine ungehobene Last zu liegen.«
»Sie denken, weil sie nicht tollt?« Friederikens Stimme wurde etwas spitz, – »Gustel hat auch ihre nachdenklichen Stunden, Gustel ist ein ganz reifer Mensch, durchaus nicht bloß Quirlewitsch und Heizchen Deizchen, wie Sie sich seit der Altenburger Hochzeit einzubilden scheinen.«
Doktor Born kreuzte die Arme über der Brust und senkte das Haupt wie ein Türke, der Ehrfurcht erweisen will. Ehe er aber antworten konnte, sagte Joseph Gesterding, zu dem das Wort Gustel hinüber geflogen war: »Richtig Gustel – Gustel Elwers – ich habe ja die kleine Gustel noch gar nicht gesehen.«
»Du hast Gustel noch nicht gesehen?« rief Hermine. »Aber das ist ja unglaublich! schnell komm mit mir, das mußt du gleich nachholen.« Sie hing sich an seinen Arm und führte ihn nach dem Kahn.
Gustel sah sie kommen und langsam stieg ihr die Röte über Wangen und Stirn; aber auskneifen wie ein Schulmädchen konnte sie doch nicht, und einmal mußte die Begegnung doch überwunden werden. »Mut, Auguste Charlotte Dorothee Elwers, blamiere dich nicht!«
Da standen sie vor ihr und Hermine sagte heiter: »Hier bring' ich Ihnen den geliebten Bruder und dies, Joseph, ist meine treue Freundin, meine Trosteinsamkeit: unsre liebe Gustel Elwers.«
»Das? – Sie sind die kleine Gustel?« rief Joseph Gesterding aufs höchste überrascht.
»Ja – ich werde wohl nicht mehr viel wachsen.« – Das Rot ihrer Wangen wurde noch tiefer, aber es huschte schon wieder ein Lächeln um ihren Mund, seine sichtliche Verlegenheit half ihr.
»Verzeihen Sie – Sie sind eine junge Dame und ich hatte Sie mir als ein Kind gedacht. Ihre Unterschrift unter dem gemeinsamen Briefe war die letzte und Ihr Briefchen –« er brach ab.
»Sagen Sie nur getrost, was Sie von meinem Zettel gedacht haben,« fiel Gustel ihm eifrig ins Wort. »Es war ein böses Machwerk: aber das alles kam vom Kaffeekochen und von den steifen Fingern am offenen Kammerfenster.«
»Und,« sagte er lebhaft, »weil ich dachte, daß ein kleines mitleidiges Kinderherz die steifen Finger geführt habe, ein Kinderherz, das am Ende noch Schelte bekommen könnte ob des eigenmächtigen Schreibens, deshalb hab' ich nicht geantwortet, sondern den Dank – einen sehr herzlichen Dank aufgeschoben auf eine Begegnung.«
»Das Nichtantworten war sehr gut; der Zettel verursachte mir natürlich Unruhe; durch Ihr Schweigen vergaß ich glücklicherweise manchmal, daß ich mich in eine Angelegenheit gemischt hatte, die mich so gar nichts anging. Sie können sich gar nicht denken, wie froh ich war, als keine Antwort kam; ich glaube, ich bildete mir manchmal ein, meine Buchstaben seien von der Seeluft ausgebleicht worden und gar nicht angekommen.«
Er lächelte, ehe er aber zu antworten vermochte, fragte Hermine hastig: »Was heißt das? Ich muß es unbedingt wissen – ihr habt euch geschrieben? Mir dürft ihr nichts vormachen!«
Sie dachten gar nicht daran, noch länger etwas zu verheimlichen – es war ja nun alles gut, Hermine hatte sich heimgefunden; verdorben konnte jetzt nichts mehr werden. Also erzählte Gustel unter Lächeln und Erröten, wie jenes Zettelchen zwischen Kaffeeaufguß und Durchguß entstanden und nachher in den Hauptbrief eingeschmuggelt worden war, und Joseph Gesterding berichtete dagegen, daß dies Zettelchen ihn vermocht habe, unter allen Umständen die halb und halb beschlossene Reise nach Deutschland durchzusetzen.
»Zwei scheinbar unüberwindliche Hindernisse hat er besiegen helfen,« schloß Joseph Gesterding und Hermine sagte mit weicher Stimme: »O ihr! ihr gefährlichen Verschwörer!« –
Vater Gesterding war wieder abgereist, nachdem er Frau und Tochter behaglich in der »Hoffnung« eingerichtet und sich am Enkel gefreut hatte, der sich mit den Eltern im Haus Brandenburg verwöhnen ließ. Herr Joseph war geblieben, obwohl er eigentlich mit dem Vater zurück gewollt hatte. »Die frische Ostseeluft tue ihm mächtig wohl nach dem weichen indischen Gesäusel.«
Acht Tage vergingen. Tante Rickwitz rückte ein und brauchte eine volle Woche dazu, sich mit diesen neuen Freundschaften der Familie Elwers abzufinden.
»Charlottchen,« schrieb sie nach Eisenach, »reite nicht das Prinzipienpferd – hast du im Winter zu viel Geld verreist, so habe ich meines noch in der Tasche und lade dich ein, denn ich brauche dich. Du mußt her – hier ist ein Haufen Menschen, sogar überseeisches Volk darunter – das sollst du mir mit observieren. Also flink! alte Paten läßt man nicht im Stich.«
Charlotte ritt nicht auf dem Prinzipienpferd, sondern kam. Es vergingen noch einmal acht Tage.
»Nun, was meinst du, Charlottchen? Gefallen sie uns?«
»Ich denke wohl, Tante Rickwitz,« antwortete Charlotte mit verstohlenem Lächeln.
»Auch der Ueberseeische?«
»Auch der Ueberseeische. Er bekommt sogar schon rote Backen.«
»Das find' ich auch. Also der Ueberseeische gefällt uns.«
Und das war gut, denn er blieb in Göhren. Nur lobte merkwürdigerweise Herr Joseph »der Indianer« die Ostseeluft je weniger, je frischer sie ihn machte, ja er fing sogar mehr und mehr an, Indien zu loben. Bei jedem Gespräch, das er geschickt über den Ozean zu steuern wußte, ließ er eine neue, gute Seite von »drüben« leuchten und bewundern. Tante Rickwitz räusperte sich manchmal dabei, flocht auch hie und da das Wort Klapperschlange ein, doch achtete niemand darauf.
»Himmlisch muß es dort sein,« behauptete Myrrha. »Ein bißchen weit weg von unserm Himmel,« meinte Gustel, die Arme dem lichten Blau über ihnen entgegenbreitend.
»Aha, also ganz Spatz geworden,« neckte Charlotte, »wer tat denn einstmals so, als ob eine Schwalbennatur in ihm schlummre?«
»Fräulein Brant,« fiel Doktor Born würdevoll ein, »Sie vergessen, daß Klapperschlangen auch einer Schwalbe gefährlich werden können.«
»Herr Kollege,« antwortete Charlotte ebenso feierlich, »Ihre Naturgeschichte ist schwach, ich habe noch nie gehört, daß eine Schwalbe aus Schlangenfurcht die Reise nach dem Süden unterlassen hätte.«
»Nein, nein,« rief Gustel, »aber im Sommer ist sie noch jedesmal wieder nach Hause gekommen. Quivit quitschivit.«
Bei dieser Bemerkung runzelte Joseph Gesterding die Stirn, obwohl ihm der heimische Sommer ja ganz besonders zu gefallen schien. Er blieb keine Stunde im Zimmer; noch nie hatten die Göhrener so viel Ausflüge nach Nord und West unternommen, wie in diesen »Gesterdingwochen«.
Heute sollte es nach Bergen gehen. »Das muß man auch sehen! Natürlich – der höchste Punkt der Insel – mitten auf dem höchsten Punkt der Arndtturm und von diesem Punkt aus Land und See, Meerbusen und Inseln, Natur und Menschenwerk wie eine Landkarte dem Beschauer zu Füßen ausgebreitet.
Es waren Wagen bestellt, die ganze Gesellschaft nach Baabe zu bringen, von da sollte es, erst mit dem Dampfer, dann mit der Eisenbahn weiter gehen. Da kam eben, als man ans Sammeln dachte, Hermine mit dem Bescheid, sie könne nicht mit – Mama habe Migräne und dürfe da nicht allein gelassen werden.
Es gab allerlei Hin- und Herreden, bis Gustel bat: »Lassen Sie mich bei Ihrer Mama bleiben! Bitte! Sie kennen Bergen noch nicht und kommen vielleicht nie wieder hierher – ich aber Jahr für Jahr, dank dem Spatzennest. Bitte, ich will Ihre Mama sehr gut versorgen, sie leidet's gewiß.«
Hermine wehrte sich lebhaft, aber die Eltern Elwers redeten zu und schließlich auch Joseph. So ging Hermine mit Gustel nach der »Hoffnung«, um die Mutter zu fragen, ob die fremde Pflegerin ihr genehm sei.
Frau Gesterding lag blaß und schmerzgequält auf dem Bett in ihrem verdunkelten Zimmer, aber sie nahm Gustels Hand, streichelte sie leise und sagte, sie sei ihr ein liebes Ersatztöchterchen.
Also blieb Gustel gleich da, half Herminen sich eilig fahrtfertig machen und setzte sich dann ans Fenster des Vorderzimmers, von dem aus sie zusehen konnte, wie sich vor dem Spatzenneste die Freunde versammelten. Jetzt stiegen sie ein, voran die Eltern, dann Frau Bewermann mit einem Strauß kleiner Rosenknospen, zuletzt die jungen Leute. Herr Joseph saß zwischen Friederike und Myrrha, Hermine zwischen dem Studenten Paul und Doktor Born gegenüber – ein leises Bedauern regte sich in Gustels Seele: es wäre natürlich ein wundervoller Tag gewesen – aber traurig war sie nicht. »Man ist nie traurig, Auguste Charlotte, wenn man jemandem hat eine Freude machen können!«
Und hätte sie gehört, was eben jetzt in dem Wagen der Jugend, da draußen im grünen Wald, gesprochen wurde, sie wäre vor Vergnügen wahrscheinlich rosenrot geworden.
Myrrha plauderte sehr angelegentlich mit dem »interessanten Indier« und bemühte sich vergeblich, ein paar Artigkeiten – Zuckererbsen nannte es Doktor Born – von ihm zu erhaschen. Aber ob sie den Kopf rechts oder links auf die Schulter legte, es gelang ihr nicht, und als sie ihn endlich fragte: »Was finden Sie nun eigentlich an einem jungen Mädchen am hübschesten?« da antwortete er sehr gelassen: »Wenn es sich selbst um der andern willen vergessen kann.«
Gustel hörte es nicht, es war sehr still und friedlich um sie her; die ganze Familie Beckers schlich auf den Fußspitzen durch die »Hoffnung«, denn Herrn Josephs Mutter war krank – auch Gustel schlich leise, wenn sie einmal gebraucht wurde, was nicht zu häufig geschah. Sie hatte sich an das Fenster des Hinterzimmerchens gesetzt, von dem aus man die See sehen konnte und in weiter Ferne den kleinen Leuchtturm der Greifswalder Oie; dicht vor ihr flatterte lustig die Wäsche im Hofe der »Hoffnung« und zwischen Wäsche und See lag das sanft abfallende Land mit Feldern und Weiden. Wenn sie das Fenster öffnete, kam der starke Duft der Lupinen hereingezogen, deren hochgelbe Blüten da und dort zwischen den matten Farben des Landes aufleuchteten.
Frau Gesterding schlief und Gustel hatte das nächste Buch ergriffen, was auf dem Tische lag – ein Buch über Indien war's – das las sie, während draußen der frische, heimische Wind mit den Laken spielte und herrisch an den leichten Sommerblusen zupfte – »flattriges Gesindel«.
Da erklang plötzlich in der tiefen Stille ein Männerschritt – erst hörte ihn Gustel die Straße herabkommen, dann hielt er vor der Haustür still, dann kam er die Treppe herauf.
Sie ließ das Buch sinken und lauschte. Die Tür drüben wurde vorsichtig aufgeklinkt und wieder geschlossen, dann öffnete jemand das Hinterzimmer, in dem Gustel saß, und Herr Joseph trat ein.
»Wie geht es der Mutter?«
Gustel erschrak und richtete an den Eintretenden die Frage, ob unterwegs ein Unglück geschehen sei?
Joseph aber lachte nur leise und schüttelte den Kopf. »Ich soll Sie wohl hier den ganzen Tag allein lassen, als Opfer unsrer Eigensucht? Nein. Ihre Eltern fanden auch, daß ich den Helfer machen dürfte; ich bin also in Baabe umgekehrt, nachdem ich die Vergnügungslustigen glücklich in den kleinen Putbuser Dampfer eingeschifft hatte. Zu Fuß ging ich dann durch den Wald zurück, wobei ich mir allerlei Hübsches gedacht habe, und nun wollen wir zusammen pflegen.«
An meine Waldweibchen.
Ihr lieben drei! So viel hat euch eure Gustel zu schreiben, daß ihr den einen Brief für euch alle gelten lassen müßt und sehr flink von einer zur andern schicken. Die Reihenfolge wird Mausi nachher aus Papas Hut herausziehen – drei Röllchen: mit Lyddi, Schönchen und Lisa beschrieben, stecken schon drin und warten auf den Augenblick, wo das kleine Frauenzimmer ausgeschlafen hat.
»So! Nun richtet euch einstweilen darauf ein. Nächstes Jahr im Frühling müßt ihr alle nach Göhren kommen, gerade so, wie wir voriges Jahr alle in Holkwitz waren: eure Gustel will heiraten. Und kommen müßt ihr, denn es wird ein großer Abschied, und es ist ganz gut, daß ich mir das große Wasser alljährlich zu Sommerszeiten so gründlich betrachtet habe, sonst wäre mir vielleicht doch ein wenig bange vor der Fahrt nach Indien.
»Also fein ordentlich.
Als Verlobte empfehlen sich:
Fräulein
Auguste Charlotte Dorothee Elwers
und Herr
Joseph Gesterding aus Bombay.
»Der Spatz wird doch noch eine Schwalbe!
»Wunderbar – nicht wahr, liebe Weibchen? – Ich habe freilich immer gesagt, als ich so einen Gesterding nach dem andern kennen lernte: das hat was zu bedeuten! Daß es aber so etwas Wunderbares zu bedeuten haben könnte, das wäre ›der kleinen Gustel‹ nie eingefallen.
»Und wie es gekommen ist? – Ich weiß nicht – ganz mit einemmal. Lydia wußte es ja auch nicht nachher – kein Wort, aber da hatte ich glücklicherweise acht gegeben – ich weiß nur noch, daß Joseph auf einmal sagte: ›Sie erinnern mich so lebhaft an meine Schwester.‹
»›An welche denn?‹ fragt' ich natürlich; denn ich konnte mir's gar nicht denken; drauf sagt er: ›An Traud, an die junge Frau Professorin.‹
»Wißt ihr, was ich da dachte? (Frau Adelheid hatte sie einmal goldige Traud genannt) – also ich dachte: Ob er sie, und folglich auch mich, ebenfalls goldig findet? – Und gleich dazu: Goldige Gustel, das klänge fein! – Ehe aber meine Gedanken noch recht so weit waren, fuhr er fort: ›Die war immer mein Liebling.‹
»Ja – und nun bin ich sein Liebling.
»Mama weinte erst sehr, aber sie läßt mich fort, und Papa hatte es schon gewußt, als Joseph von Baabe zurückkam und mir die Mama Gesterding pflegen half. Nur als ich gleich mit sollte, da gab es ein Nein. ›Die kleine Gustel‹, – wie mich jetzt alles nennt, wenn ich geneckt werden soll, weil Joseph, ehe er mich kannte, gedacht hat, ich sei ein Kind – die kleine Gustel solle erst noch wachsen an Lebens- und Hausfrauenverstand. Ein klein bißchen indisch umlernen muß ich doch auch, wenn es in Bombay schon teilweis so ziemlich europäisch zugehen soll. Also reist Joseph sehr bald ab und kommt übers Jahr wieder, um mich zu holen und dann gehen wir auf sechs Jahre fort; – geht in diesen sechs Jahren alles so, wie wir's planen und hoffen, dann siedeln wir nach Hamburg über; bis dahin aber lebt ›unser‹ (wie wunderlich das klingt) Compagnon hier, dessen Kinder eine Zeitlang deutsche Schulen besuchen sollen, und wir sind ganz festgebunden ›drüben‹. – ›Drüben‹ sagten wir sonst von Pauls Idealen, von denen uns nur eine winzige Mauer trennte.
»Wenn ich aber auch drüben bin, wo es keinen Tannenbaum gibt, wie auf dem Rennsteig, keine Kirschbäume wie in Holkwitz, keine Kiefern und Buchen wie auf Rügen: euer getreues Waldweibchen bleibe ich trotz alledem; und denken werde ich oft an unsre wehenden Wipfel und alles, was wir zusammen unter ihnen erlebt haben, wenn ich auch im Lande der Palmen und des Zuckerrohrs hause. Und nun lebt wohl und freut euch mit uns und kommt übers Jahr recht bald nach Göhren, damit wir noch viel voneinander haben – alle müssen kommen, die ich lieb habe und alle Geschwister Gesterding – denkt nur, drei habe ich immer noch kennen zu lernen! – aber Weihnachten werden wir Elwerse alle nach Schorfen reisen und Mozartchen will mir alles zeigen, weil ich ›armer kleiner Tustel so dumm bin und gar nichts weiß von Großpapas‹. Er natürlich weiß schon ganz genau, daß ich seine Tante bin, und gestern hat er zu Os und Ot gesagt: ›Aetsch, eure ist sie nicht.‹
»Sie sind alle zu lieb und gut in ihrer Freude – auch Hermine – sogar der Herr Kapellmeister, um den ich sonst immer einen Hochachtungsbogen schlug. Nur Tante Rickwitz schüttelt den Kopf, aber ganz leise und sagt nicht mehr: ›Klapperschlange‹ in die schönsten indischen Pläne hinein. (Paul und Charlotte besuchen uns!) Kriecht ihr das schlimme Wort doch mal auf die Zunge, so sehe ich ganz deutlich, wie sie das Ungeheuer verschluckt, ehe es zu Tage kommen kann.
»Herr Born hat Tantes Klapperschlange nämlich in Verse gebracht – in sehr drollige Verse, und sie unter die Seeschlangen verwiesen, die sommers in den Zeitungsspalten leben, sonst aber nur spärlich fortkommen können. Aber als er mir Glück wünschte, war er ernsthaft und sagte, er hätte nie gedacht, daß ich auf und davon fliegen könne.
»Und was für einen schönen Glückwunsch brachte mir das Dorf! Jens Sture als Redner an der Spitze! – Nun sei ich een Richtiges von der ›Waterkant‹ geworden, was sich vorm größten Wasser gar nicht fürchtet, und Frau Beckers schluckt allemal, wenn sie mich sieht, so gerührt ist sie.
»Nur Frau Bewermann träumt die Seekrankheit schon im voraus für mich und legt sich die Karten über meine Zukunft.
»Nun aber lebt wohl, lebt wohl. Ich könnte euch noch viel erzählen, wenn nur nicht immer häufiger angefragt würde, ob ich noch immer nicht fertig sei. Mausi hat Schönchen als erste aus dem Loshut gezogen und der Kaffee steht warm, was Indier noch schlechter ertragen können als Europäer.
»Sie grüßen euch alle und ich küsse euch der Reihe nach.
Euer Spatz,
dem doch noch Schwalbenflügel wachsen.«
Gustel hatte den Brief geschlossen und an Wanda überschrieben. Der Kaffee aber stand immer noch warm; unwillkürlich sah sie zum Fensterchen hinaus über die Wipfel und Dächer nach dem Streifen See, der heute dunkel am Horizonte emporstieg.
Weit, weit hinaus.
Plötzlich stand sie auf, legte den Brief hin, nahm den Atlas vom Bücherregal, schlug Mercators Projektion der Erde auf und maß die Entfernung von Hamburg nach Bombay.
Weit, weit hinaus.
Sie hatte gar nicht gehört, daß wieder ein Bote kam; nun stand Joseph Gesterding neben ihr, legte die Hand auf ihre Schulter und fragte leise: »Fürchtest du dich vor der langen Fahrt?«
Sie sah lächelnd zu ihm auf und schüttelte den Kopf. »Nein, o nein; nur wunderbar ist's. – Wo du bist, fürcht' ich mich gar nicht – weder auf der Fahrt, noch drüben, wo es keine Tannen gibt – und sollte je einmal so etwas Aehnliches über mich kommen wie Sehnsucht, dann sag' ich wie damals, als ich dem großen Fragezeichen der Villa Schering entgegenfuhr: ›Tapfer, Auguste Charlotte Dorothee Elwers, blamiere dich nicht!‹«
»Einverstanden,« meinte Joseph, »aber Auguste Charlotte Dorothee Gesterding muß es dann heißen!«