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Nun winterten sie ein in der Villa Schering. Herr und Frau Professor pflegten ihre Fischchen gut an Leib und Seele, Fräulein Charlotte kam allsonntäglich als »Mädchen aus der Fremde« und wurde, seit Friederike nicht mehr da war, jedesmal von Fanny angedichtet. Die frischgefangenen Fischchen waren »gute Dinger«, die sich behaglich einreihten, und Gustels Briefe berichteten von neuen Kenntnissen und Erfahrungen – Aufregendes und Beschämendes, von ihr »Haarsträubendes« genannt, war nicht mehr darunter.
Der Wildfang saß fest im Käfig, denn ein »Obmann muß sich natürlich ganz mächtig zusammennehmen, weißt du«.
Weihnachten durfte Gustel heim. Sie hatte nicht gebettelt – »was sein muß, wird ausgehalten«, sagte sie sich früh, mittags und abends vor; aber die Geschwister besorgten es, die bettelten alle vier. Eines Sonntagmorgens rückten sie in Papas Zimmer ein, während er dort mit Mama »das stille Stündchen« hielt; Paul, als Sprecher voran, entwickelte ciceronianische Beredsamkeit, Ida und Frida trugen ein Klageduett vor, das beweisen sollte, wie es ohne Gustel durchaus nicht gehe, und sogar Mausi war angelernt worden zu den voll Stolz immer wiederholten Worten: »Gussel muß her, Gussel is Weihnachengel.«
Diese Fürsprecher eroberten Gustel Weihnachtsferien, die leider mit Schnellzugsgeschwindigkeit davonrollten. Was gab es alles zu tun und zu genießen in dieser Zeit! Vor allem Briefe zu schreiben – an Tante Rickwitz Neujahrswünsche ganz besonderer Art – an Fräulein Charlotte desgleichen mit dem Geständnis: »Ihre Gustel verblüfft hier durch Anstand; der Wildfang steckt aber doch noch manchmal die Nasenspitze heraus!« – an Liese, Wanda und Lydia richtige lange Briefe.
Wanda war eine Beschreibung der Paulschen Ideale versprochen worden, das Versprechen konnte aber nicht recht gehalten werden.
»Denn siehst du, Schönchen, wir hatten hier viel zu viel vergnügliche Geschäfte in der Weihnachtsstube, als daß Mama mit mir nebenan hätte Besuch machen können; das soll erst geschehen, wenn ich Ostern als ›junge Dame‹ – ich verbitte mir jeden Zweifel – nach Hause komme. Und drüben haben sie in den zwölf Nächten so viel Gesellschaften, daß auch keines, wie sonst manchmal, auf einen Husch herübergelaufen kommt. Gesehen habe ich sie aber doch, als sie an einem sonnigen Vormittag spazieren ritten. Ida und Frida schrieen auf einmal in den höchsten Tönen nach mir, und als ich nicht gleich kam, stürmte Paul herein und schleppte mich wie einen Verbrecher nach dem Eßzimmer, von dem aus wir hinüber zu Kalkoffs sehen können. Da sah ich sie eben noch aufsteigen.
Ich mußte unbedingt piek sagen, so hübsch sah es aus. Diesmal war der Professorin Schwester bei weitem die Schönere; sie saß auf dem Pferd, als könne man gar nirgends anderswo sitzen, und sah stolz und königlich aus! Myrrha schien mir ein bißchen zu beweglich; zappelig würde Paul es bei gewöhnlichen Menschenkindern nennen. Als ich sie aber das zweite Mal sah, da war es umgekehrt, da fuhren sie Schlittschuh. Wir spazierten allesamt durch den Tiergarten, hörten Musik auf der Rousseauinsel und liefen natürlich hin. Reizend, sage ich dir! Dort fuhren sie eine Quadrille auf Schlittschuhen, immer je ein Offizier und eine junge Dame. Die Regimentsmusik blies auf der Insel, ringsum auf allen Wegen wimmelte es von vergnügten, geputzten Menschen und unter den Tänzerinnen waren auch Myrrha und Hermione. Diesmal war Myrrha die Reizendere, sie wiegte sich leise im Takt der Musik, so schmiegsam und wunderhübsch, und lachte dazu mit dem ganzen Gesicht, als könne sie überhaupt nie anders aussehen, während die andre ein wenig steif war. Das Näschen ganz hoch, schrecklich unnahbar. Paul aber sagte auch hier: ›Ist sie nicht königlich?‹ – So, das ist alles, was ich von den ›Ideälern‹ in Erfahrung gebracht habe.«
Fanny und Erna bekamen nur Blumenkarten, und am Neujahrstag mußte der Briefträger sich auch für Gustel »lahm tragen«. Alle hatten die gehegten Erwartungen erfüllt; nur Lydia schickte statt des »pflichtschuldigen« Briefes eine kurze Karte. Eine sehr reizende Karte, auf der ein Waldweibchen zu sehen war, das zu erhalten ihr gewiß viele Mühe gemacht hatte, aber eben doch nur eine Karte mit wenigen Zeilen, denen eine ebenso wortkarge für Eltern und Geschwister beilag.
»Lydia ist immer wunderlich,« dachte Gustel; »sie, auf dem Lande, hätte doch am ehesten Zeit gehabt zu einem recht langen, langen Brief. Ob ich sie gekränkt habe?«
Das schien aber nicht so, denn als sich die beiden auf der Fahrt nach Eisenach trafen, gab es eine zärtliche Begrüßung und Gustel mußte den ganzen Weg lang erzählen; wenn sie freilich auch etwas von Holkwitz wissen wollte, dann kam Lydia allemal flink mit einer neuen Frage dazwischen, an der Gustel sehr lange zu beantworten hatte.
Während des letzten Vierteljahres, das nun begann, schloß Lydia sich enger und enger an Gustel an, als mache ihr die Aussicht, die Freundin nun so bald zu verlieren, wirklich Herzensangst.
Leid tat freilich der Gedanke an die Trennung allen, und Gustel, die sich so »unbändig« auf »nach Hause« freute, begriff gar nicht recht, warum ihr nun doch wieder so bange wurde vor dem Abschied von der Villa Schering.
»Lydia,« sprach Gustel, wehmütig auf die jungen Keimspitzen ihres Beetes blickend, deren Blütenpracht sie nun nicht mehr sehen würde; »Lydia, das Leben ist wunderbar und wir Menschenkinder sind Querköpfe.«
»Behüte,« rief Liese dazwischen, die eben herankam, »ich bin kein Quer-, sondern ein Ruschelkopf.«
»Doch! Liese, sei mal ernsthaft! Guck, als ich hier ankam, da graute mir vor den Fischen und dem Feldzug gegen den ›Wildfang‹, und ich konnte die Zeit nicht erwarten, bis ich wieder heim durfte. Ich habe damals die Stunden ausgezählt. Und nun freue ich mich wohl auf die vortreffliche Familie Elwers, aber ich weiß, daß ich mich nach Kellermann und der Grazieneiche, nach Frau Lisbeth und meinen Narzissen sehnen werde – und um euch zwei Fische ist mir schon ganz ordentlich bange.«
Kaum war das heraus, so fühlte sie sich heftig von zwei Seiten umarmt. »Mir doch auch! mir doch auch!« rief Lieses hohe und Lydias tiefe Stimme, und dann waren sie ganz nahe an den Tränen.
Aber das erlaubte sich Gustel nicht. Hatte sie schon mit Macht gekämpft gegen die Sehnsucht, die der lieben Heimat gegolten – weil's nach Hause ging, würde sie ganz gewiß nicht weinen. Deshalb rief sie kräftig: »Seid nicht dumm! Erstens gibt's noch vierzehn gemeinsame Tage, in denen wir uns mächtig lieb haben können. Und dann – dann gibt's ein ganzes Menschenleben mit schönen Wiedersehen und vielen langen Briefen und treuer, unwandelbarer Freundschaft. Das wollen wir uns gleich einmal versprechen.«
»Ja,« sagte da ein feines Stimmchen über den Zaun des Blumengartens herüber – »ich aber auch mit – ich bin doch euer Waldweibchen!«
»Ja,« rief Gustel, und »ja, ja« riefen die beiden andern hinterdrein. »Du auch, Wanda – komm schnell her – und Liese nehmen wir jetzt feierlich in den Bund der Waldweibchen auf. Und das versprechen wir uns, daß wir uns alles anvertrauen, was wir erleben: Gutes und Schlimmes – und wenn wir jemals in Not, Sorge und Verlegenheit kommen, aus der sie uns zu Hause nicht helfen können, was freilich kaum vorkommen wird – aber wer weiß – dann wollen wir stets zuallererst unsre Waldweibchen um Rat und Hilfe ansprechen und alle vier füreinander tun, was man nur für sein herzallerliebstes Waldweibchen tun kann – und es wird uns gewiß nicht fehlen, denn denkt nur, wir umspannen eigentlich das ganze Deutschland. Du bist unser kleiner Bayer – südliche Pflanze – das ist die fidele Rheinländerin, Lydia vertritt Sachsen und Thüringen, das Herz des Vaterlandes, und ich bin der Preuß' – piek, Kinder! – hoch lebe das vereinigte Vaterland!«
Die begeisterten Mädchen umarmten sich noch einmal feurig und versprachen sich Rat, Hilfe, Trost, Vertrauen und alle die besten Erdengaben für ein ganzes Menschenleben lang.