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Du hast ganz gewiß nur ein klein bißchen Husten und Schnupfen? Ein ganz klein bißchen, süßes Mutti?«
»Ja, mein Herzenskind. Nur ein ganz klein bißchen, und es ist einzig Papas Vorsicht, die mich abhält, dich zum Bahnhof zu begleiten.«
»O, wie bin ich froh darüber, liebe Mama! Wenn du krank gewesen wärst, ich – ich – ich hätte den Zug versäumt.«
Mama, »die schöne und schlanke Mama«, lachte herzlich. Sie saß mit ihrem Töchterchen in einem großen, behaglichen Eßzimmer beim Frühkaffee, der diesmal ein Abschiedskaffee war, denn Gustel sollte auf ein Jahr fort aus dem Elternhaus, um draußen recht, recht viel zu lernen.
Die Tassen waren zurückgeschoben. Frau Elwers stand auf, nahm den Arm ihres Töchterchens und ging langsam mit ihr im Zimmer auf und ab. Dabei sagte sie: »Kleine, liebe Gustel, nütze deine Zeit gut aus, damit ich dich nicht noch länger entbehren muß, und vor allem gib dich keiner unverständigen Sehnsucht hin, sondern sieh dir mit deinen beiden hellen Guckaugen recht ruhig und aufmerksam an, wie es zugeht da draußen in der Welt, die einen nicht so liebt und verwöhnt wie das Elternhaus.«
Gustel schmiegte sich bei diesen Worten innig an die Mutter an. »Ja,« sagte sie leise, »das will ich tun; aber nicht wahr, ihr, ihr werdet euch ein ganz klein bißchen nach eurem Wildfang sehnen, über den ihr immer so viel lachen mußtet und der nun fortgeht, um eine junge Dame zu werden?«
»Ein nützliches Menschenkind,« verbesserte die Mutter lächelnd.
»Ja, Mama, das ist mir eigentlich auch viel lieber. Aber, nicht wahr, ihr vermißt mich ein bißchen? Wenn Mausi weint, und ich sie nicht gleich zum Lachen bringe, wenn –«
»Es schlägt acht! die Droschke steht bereit! Ich habe das wieder mal mit großartiger Pünktlichkeit gedeichselt.«
Diese Worte rief ein schlanker Knabe, der der Mutter auffallend ähnlich war, zur Tür herein, und schwenkte ein Bündel Schirme über dem Kopf.
»Gleich, Paulemann,« wehrte ihn Gustel ab, ohne die Mama loszulassen und ihre Abschiedsrede zu unterbrechen.
»Vor allem,« fuhr sie fort, »sage mir, liebe Mama, wer wird denn nun unsern Papa erheitern, wenn er sich über den Reichstag ärgert, nun sein Wildfang das nicht mehr besorgen kann – sein ›Spatz‹« –
»Paul natürlich,« entgegnete die Mama. »Paul – durch glänzende Zeugnisse und dergleichen angenehme Geschenke.«
Paul machte ein verlegen geschmeicheltes Gesicht; zu antworten brauchte er nicht, denn Mama sprach weiter: »Und den Wildfang, der in dir steckt, Gustelchen, den kannst du in deiner Pension, in der Villa Schering lassen –«
»Als Siegestrophäe für die Backfischbändiger dort,« rief Paul schnell dazwischen.
Gustel aber sah die Mutter voll Schrecken an. »Ganz dort lassen, ganz und gar? Ich – ich glaube, Mama, der ist sehr festgewachsen, ich kann mir Gustel gar nicht ohne den Wildfang denken,« sagte sie leise.
Mama nahm das frische, runde Gesicht zwischen ihre beiden schlanken Hände und sah das Töchterchen zärtlich an. »Wenn er nicht gleich Abschied nehmen will, auf Nimmerwiederkehr, könntest du ihn ja hübsch sicher in Watte verpacken, Gustelchen, damit er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten den Kopf herauszustecken wagt und außerdem durch lange Haft nachdenklich geworden, etwas zivilisierteren Uebermut betätigt, als jetzt seine Art ist.«
»Unsre unzivilisierte Gustel bleibt richtig noch sitzen,« mahnte Paul und schwenkte das schmucke, neue Frühjahrsjäckchen.
»Ja, ja, ich komm' schon,« antwortete Gustel und umarmte noch einmal stürmisch die Mutter, dann lief sie hinaus. Frida und Ida, die sieben- und achtjährigen, kamen herangestürmt, halfen und hemmten, aber endlich war man doch fertig. Frau Bewermann, die Wärterin, brachte die einjährige Hilde getragen, es wurden während einer Minute noch sehr viel Küsse gegeben und genommen, aber endlich saßen Gustel und Paul wirklich in der Droschke, und die Fahrt nach dem Anhalter Bahnhof begann.
Zunächst war von dem Wildfang nichts zu spüren, der Abschiedsschmerz hatte ihn so bedrückt, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Und dieser Abschiedsschmerz dämpfte nicht nur den Wildfang, er schnürte der ganzen Gustel die Kehle zu; irgend etwas ganz Ungewohntes stieg und drängte nach den Augen hinauf und wollte sich eben in Tropfen lösen, als Paul grobtönig sagte: »Du bist doch kein Wasserspatz?«
Da blieben die Tropfen, wo sie hingehörten; Gustel schluckte ein paarmal kräftig und begann dann plötzlich sehr schnell zu reden. »Ich verlasse mich ganz auf dich, Paulemann, allerliebster Paulemann! Sorge mir nur ja recht für alle, nicht wahr? Daß Muttchen nicht in diese rauhe Luft kommt, ehe der Schnupfen ganz vorbei ist, daß Frida und Ida ordentlich arbeiten; sie sind kleine Traumbücher, weißt du; daß mir Mausi nicht zu viel weint; sie tut manchmal so – immer gleich ein Zipfelmäulchen. Aber sie soll lieber lachen! Und vor allem Papa! Wenn Papa ärgerlich nach Hause kommt, mußt du riesig nett mit ihm sein – du weißt schon, dann hat er da gerade über der Nase ein paar Falten, – die Politikfalten nenn' ich sie immer, – die mußt du ganz schnell wegbringen, damit er den Zeitungskrimskrams vergißt. Nicht wahr, Paulemann? Ganz schnell weg damit!«
»Werde mir Mühe geben, dich würdig zu vertreten,« antwortete Paul ernsten Gesichts.
Aber Gustel merkte gar nicht, daß er sie necken wollte, sie war viel zu sehr mit ihren Abschiedssorgen beschäftigt. »Und dann mußt du mir schreiben,« sprach sie weiter, »so recht, recht gründlich – ich tu's auch; du sollst die ganz genaue Bekanntschaft mit den reizenden jungen Damen in der Villa Schering machen.«
»Backfische!«
»Vielleicht sind es auch Backfische, und um so interessanter. Aber rede nicht vom Ziele fort, sondern versprich mir: du schreibst sehr, sehr, sehr lange Briefe. Nicht wahr, Paulemann?«
»Meinetwegen. Und nun möchte auch ich dich zum Abschied noch allerschönstens, mit gebührender brüderlicher Höflichkeit um etwas gebeten haben: bitte, nenne mich nicht mehr Paulemann, wie ein Wickelkind; ich bin jetzt Primaner geworden, und man hat mich Paul getauft, welcher Name mir wohlgefällt.«
Gustel sah den Bruder starr an vor Staunen. Ein Wickelkind war er wirklich nicht mehr. Neben ihr saß ein hübscher großer Mensch, man hätte ihn beinahe für einen angehenden Studenten halten können – aber trotz alledem!
»Paul – Paul – das klingt so hart und barsch, als könne man dir gar nichts abhandeln, dir gar nicht beikommen, und ich habe dich nun mein ganzes Menschenleben lang Paulemann genannt –«
»Ja, das geht aber jetzt nicht mehr!«
»Bedenke doch die Länge! Fünfzehn Jahre und elf Monate!«
»Gustel, ich glaube, du hast schon im Deckelkissen Reden gehalten!«
»Vielleicht, aber jetzt muß ich mir gleich einen recht männlichen Kosenamen für dich ausdenken, so ganz nüchtern kann ich mit meinem einzigen Bruder nicht verkehren.«
Während sie nachsann, knurrte er etwas von seinem ehrlichen Taufnamen, der ihm gut genug sei, aber die Meinungsverschiedenheit kam nicht zum Austrag, denn die Droschke hielt vor dem Bahnhof.
Paul sprang aus dem Wagen und benahm sich nun genau so ritterlich, wie er es an Papa zu sehen gewohnt war, half Gustel über das Trittbrett, nahm die Schirme, befehligte den Gepäckträger und eilte in die Vorhalle.
»Wir müssen uns sputen, Gustel; ich besorge alles, du wartest hier und rührst dich nicht vom Fleck.«
»Schön.«
Während Paul die Fahrkarte löste, sah sich Gustel mit hellen Augen das Menschengewimmel in der Vorhalle des Bahnhofs an. Sie war zwar ein Berliner Kind, aber die Eltern hatten ihre kleine Schar allzeit vor den Gelegenheiten gehütet, wo es ein übermäßiges Gedränge gab; das bunte Gewimmel schien ihr jedesmal neu und machte ihr immer von neuem Spaß.
Sie stand neben der großen Leuchtersäule am Fuß der Treppe und schaute umher. Ueberall Drängen, Hasten, Stoßen, Verlieren, Aufraffen.
Da fiel einer alten Dame der Schirm zu Boden, und als sie sich bücken wollte, fiel die Fahrkarte nach und der Gepäckschein flatterte gar über zwei Kinderhüte weg, um auf dem neuen Sommerhut des dritten liegen zu bleiben.
Gustel schoß den Flüchtlingen nach und hatte Schein, Karte und Schirm errafft, ehe die alte Dame recht begriff, was alles ihr entschlüpft war. Und der Wildfang, der in ihr für ein Viertelstündchen entschlummert gewesen war, wachte auch wieder auf. »Ach, lieber gar bedanken!« rief sie, als die alte Dame sich ausführlich aussprechen wollte. Da gleichzeitig von der Treppe herab eine helle freundliche Stimme rief: »Hier, Tante Rhenius, hier bin ich schon!« entschlüpfte Gustel der Dame mit Leichtigkeit.
Sie hatte auch schon wieder etwas Hilfsbedürftiges entdeckt in einer Frau mit einem Handkoffer und zwei Kindern, die vergeblich versuchte, sich mit dieser dreifachen Last an den Schalter vorzudrängen. Immer wieder kamen Gewandtere ihr zuvor. Es war eine einfache Frau; sie trug ein schlichtes Leinentuch um den Kopf geknüpft, eine Schürze unter dem Umschlagetuch; die Kinder hatte sie übermäßig warm gegen die Märzluft mit allerlei Tüchern verpackt. Gustel sah zwei Minuten lang zu – die erste mit dem hoffärtigen Gedanken: das würde ich auch gescheiter machen, die zweite in prickelnder Ungeduld über die unfreundlichen Leute, die sich immer wieder vor die bescheidene Frau drängten, in der dritten Minute wachte der Wildfang auf und ging auf guten Wegen. Gustel sprang zum Schalter, tippte der Frau auf die Schulter und sagte: »Geben Sie mir mal flink den Koffer und die Kinder, ich will aufpassen.«
Der erste Gedanke der ängstlichen Frau war: das ist die Bauernfängerei, vor der sie mich zu Haus so gewarnt haben! Eine schreckliche Geschichte fiel ihr ein, in welcher geraubte und an Cirkusgesellschaften verkaufte Kinder, die erst nach langen, langen Jahren ihre Eltern wiedergefunden hatten, eine traurige Rolle spielten. Sie war drauf und dran, mit ein paar Ellbogenstößen sich frei zu machen und wie eine Tigerin ihre Jungen zu verteidigen, aber ein Blick auf Gustel und in Gustels Augen, und sie faßte Mut. So konnte kein Bösewicht aussehen!
Sie gab vertrauensvoll ihre drei Schätze hin und wandte sich erleichtert dem Gedränge zu. Die beiden lebendigen Schätze hielten die hilfreiche Gustel ebenfalls zunächst für den bösen Feind und jammerten im Duett gegen die hohe, hallende Decke empor. Aber Gustel war nicht umsonst »Papas vereidigter Spaßmacher«; schon nach zwei Minuten verwandelte sich das Weinen in Staunen, das Staunen in Lachen, und als Paul, im Bewußtsein glänzend erledigter Ritterpflichten, herbeikam, fand er seine Schwester in der schönsten »Theaterei«, wie Mausis Wärterin Gustels Ulk zu nennen pflegte.
Erstaunt sah er die Schwester an, die neben einem schäbigen Koffer stand, auf dem ein kleiner Hampelmann saß, und ein zweites Bündel Tücher selbst im Arme trug.
»Na nu?«
Da lachten ihm auch aus dem zweiten Bündel Tücher zwei blanke, braune Kinderaugen entgegen.
»Ja, Gustel, was machst du denn?«
»Kindermuhme. Piek!«
»Verdienstlich!«
»Nicht wahr?«
»Aber beschwerlich. Sind sie denn folgsam?«
»Ja; erst heulten sie, jetzt lachen sie, nächstens werden sie sogar reden.«
Im gleichen Augenblick begann das große Bündel zu sprechen: »Wi hebbn lütte Gössen to Hus – du sallt een hebbn!«
»Siehst du wohl, ich soll wat hebbn! Ich werde schon geliebt! Piek!«
Paul lachte, sagte aber doch ein bißchen ärgerlich: »Nun gib aber deine Schätze ab, sonst versäumst du Zug und Bildung.«
»Das geht natürlich nicht, großer Junge; ich habe sie übernommen, dort im dichtesten Gewühl seh' ich der Mutter blaues Kopftuch, wir müssen warten.«
Erst brummte Paul, dann sah er die Notwendigkeit ein und ergab sich; er geruhte schließlich sogar Witze mit den kleinen Bündeln zu machen, so daß sie ein Duett krähten vor Vergnügen; er steckte auch einen Groschen in den Automaten und brachte etwas zum Vorschein, so schön, daß die Bündel beinah schluchzten vor Entzücken; dazwischen sah er aber fortwährend nach der Uhr und verkündete jeden Ruck vorwärts mit Vorwurf und Tadel.
»Jetzt sind es nur noch fünf Minuten, Gustel!«
»Das ist ja noch eine Ewigkeit für gewandte Leute! Ich werde schon mitkommen.«
»Denkst du, sie werden auf dich warten?«
»Na natürlich – übrigens sind wir gleich erlöst!«
Gustel hatte recht; da war die Mutter der beiden Bündel im Besitz der richtigen Fahrkarte und nahm mit einem »Gott sei Dank« und »vergelt's Gott« ihre Schätze wieder in Empfang; sie war überglücklich, daß die schreckliche Geschichte mit den geraubten Kindern, die schon so nahe daran gewesen, an ihrem eigenen Fleisch und Blut zur Wahrheit zu werden, nun doch eine bloße Befürchtung geblieben war. Sie wurde noch von den beiden jungen Großstädtern auf den rechten Bahnsteig gewiesen und verschwand im Gedränge. Jetzt wurde es aber höchste Zeit. Gustel und Paul eilten leichten Herzens und mit leichten Füßen davon. – »Siehst du wohl,« rief Gustel heiß und vergnügt, als sie vor dem Damenabteil stand, »noch volle zwei Minuten Zeit!«
»Zu einem brüderlichen Abschied fast zu wenig!«
»Mein süßer Paulemann!« Sie flog dem Bruder um den Hals. »Nun will ich aber machen, daß ich hineinkomme!«
»Da ist's aber schon gräßlich voll,« flüsterte Paul.
»Tut nichts – ich habe Mama versprochen, in den Hühnerstall zu kriechen, und außerdem: je mehr Menschen, je eher Aussicht, daß was Nettes darunter ist. Und nun nochmals leb wohl, du guter Paule; grüße Mama und Papa noch tausendmal, und Ida und Frida, und der Maus sag alle Tage meinen Namen vor, damit sie mich nicht vergißt.«
Gustel sprang auf das Trittbrett. »Um drei Uhr und sechsunddreißig Minuten komme ich an – gerad wenn ihr Kaffee trinkt –«
»Dann denken wir an dich.«
»Piek!«
»Und halten dir die Daumen von wegen dem ersten Eindruck –«
»Einsteigen!« rief der Schaffner zum drittenmal.
»Und schreib auch mal!« –
»Einsteigen, einsteigen!«
»Ach so – das gilt mir!«
»Vorwärts, hier ist keine Kleinkinderschule!«
»Nein, so was! Ich bin doch schon lange – eingesegnet.« Dazu machte Gustel solch spitzbübisch drolliges Gesicht, daß der Schaffner lachen mußte, trotz seiner Eile, und drin im Wagen erklang ein ganz leises Echo dieses Lachens. – Noch einmal wandte Gustel den Kopf zum Bruder zurück. »Schatz,« flüsterte der, »setz dich neben die, die vorhin gelacht hat, die ist menschenfreundlich.« Endlich gelangte Gustel über das Trittbrett nun wirklich in den Wagen. Der Schaffner knallte die Türe zu.
»Ade! Ade!«
Sie winkte noch einmal, stolperte über ein paar Füße und über ihren eigenen Schirm und kam erst wieder zur Besinnung, als der Zug zur Halle hinausfuhr.
Als Gustel zum Sitzen gekommen war, tupfte sie zunächst ein paar verräterische Tränen als gar zu »unerwachsen« aus den Augen, holte dann das vergessene »Guten Tag«, das durch seine Verspätung sehr drollig wirkte, gewissenhaft nach, brachte die Schirme und das Umhängetäschchen unter, saß dann einen Augenblick ganz still, einen schweren, tiefen Seufzer hinabkämpfend, und sah sich endlich prüfend überall um.
Drüben rechts in den beiden Fensterecken saßen zwei Damen mittleren Alters; beide lang und schlank, beide ausgerüstet mit allem, was auf längerer Reise wünschenswert ist, beide mit Büchern in der Hand, beide die Augen auf diese Bücher gesenkt. Dort war kein Vergnügen zu erwarten.
Gustel gerade gegenüber, auf dem Mittelplatz, saß eine behäbige Dame, die so aussah, als ob sie lieber spräche als schwiege; aber sie holte einen versäumten Morgenschlaf nach und atmete schon hörbar, ehe die letzten Häuser Berlins verschwunden waren.
Links gegenüber in der Ecke saß eine »ganz alte Dame«; weißes Haar sah Gustel durch den Schleier schimmern – auch sie rührte sich nicht. »Zu früh aufgestanden,« dachte der Backfisch, »solch alte Frau darf natürlich müde sein; aber es ist schade.«
Nun blieb nur noch die Menschenfreundliche an ihrer Seite, die vorhin gelacht hatte. Gustel blinzelte zu ihr hinüber. Die war jung, das heißt eigentlich nicht mehr jung, nicht wie Gustel, die doch gerade das »richtigste« Alter hatte, aber auch noch lange nicht alt; und menschenfreundlich sah sie wirklich aus. Gustel rückte etwas herum und sagte: »Von halb neun bis halb vier immer in demselben Wagen sitzen, ist furchtbar lange!«
»Für so kleine, lebendige Füße, das glaub' ich recht gern.«
»Nicht wahr? Und ich fahre heute in die Pension, und ich war noch nie in so etwas – und unter Umständen soll das wie in einem Gefängnis sein; wenn ich's auch nicht recht glaube, ich wäre gern vorher noch einmal recht fidel. Schon – schon – damit ich nicht an zu Hause denke, möcht ich fidel sein.«
Gustels Augen suchten den Boden, denn es blinkte wieder etwas Verräterisches in den Augenwinkeln, was niemand zu sehen brauchte, und die menschenfreundliche Dame an ihrer Seite sagte: »Bitte, seien sie getrost fidel, ich bin kein Hindernis.«
Gustel rief: Piek! und schlug die Hände zusammen. Eine der beiden langen Damen seufzte, die andre sagte halblaut: »Da soll man lesen können?« – Gustel reckte ihr Näschen nach rechts und sah dann wieder nach links in die Augen der menschenfreundlichen Nachbarin. »Halten Sie Lesen beim Fahren für gesund? Ich nicht. Mama hat es mir verboten, weil sie es für schädlich findet.«
Die Menschenfreundliche bezwang ein Lächeln und antwortete: »Manche Menschen können es vertragen.«
»So!« – Gustel langweilte sich etwas; sie hätte gern wenigstens ein bißchen zum Fenster hinausgesehen, draußen gab es freilich nur umgebrochenes Ackerland, spärlichen Saatwuchs, Schneereste in den Gräben und schwarzgrünen Kiefernwald; aber das Berliner Kind fand diesen schüchternen Frühling ganz wunderschön – es war doch »draußen«, und sie hätte um die Welt gern die aufflatternden Krähen und den Himmel mit den windzerfaserten Wolken gründlicher betrachtet, wenn sie nur ans Fenster gekonnt hätte.
»Nicht wahr, vier Personen in einem Abteil sind eigentlich genug? Papa sagt das immer.«
»Soll der arme Fünfte draußen bleiben?«
»O –«
»Oder ganz allein sitzen?«
»Nein, dann lieber nicht! Aber nicht wahr, ein jeder Reisende hat genau dasselbe Recht wie der andre?«
In den Augen der Menschenfreundlichen blitzte Schelmerei auf, sie hatte sich ganz zu Gustel gewendet und antwortete: »Gewiß, das Recht des höflichen Menschen.«
Gustel wurde ein bißchen rot, ließ ihre Augen über die beiden Schläferinnen und die beiden Leserinnen gleiten und sagte bedeutend leiser: »O weh! ich war nahe daran, ein bißchen unhöflich zu sein – Spaßes halber natürlich.«
»Das muß man niemals sein, besonders auf der Reise nicht.«
Gustel sah nichts mehr vom ganzen Wagen als die graublauen, gütigen Augen der Menschenfreundlichen: jetzt war sie wirklich mächtig neugierig. »Warum denn? Warum denn gerade auf der Reise nicht?«
»Weil man da immer die Ehre seines Volkes, seiner Stadt und seiner Familie vertritt.«
»Ach? Ja! natürlich! Das ist ja piek!« – Gustel überlegte sich die Sache, nickte noch einmal kräftig mit dem runden Backfischköpfchen, setzte sich dann sehr manierlich zurecht und sagte: »So, nun werde ich die Ehre Berlins und die Ehre der Familie Elwers vertreten.«
Die Menschenfreundliche machte das der beweglichen Gustel durch freundliche Unterhaltung leicht; Hände und Füße ließen sich weit besser still halten, wenn der Mund seine Bewegung hatte, außerdem schwieg sie ja heute doppelt ungern, denn sie meinte, wenn sie nur schwatzen dürfe, könnten gar keine Heimwehgedanken zur Herrschaft kommen.
Gleich zu Anfang der Zwiesprache hatte sie noch eine kleine Unannehmlichkeit zu überwinden. Die Längste der beiden Langen fragte plötzlich die Menschenfreundliche etwas, in Lauten, die Gustel durchaus nicht verstand. Die kurze Antwort, die ihre Nachbarin gab, lautete: no, mi piace.
Hoffentlich haben sie jetzt nicht von mir gesprochen, dachte Gustel, sonst bin ich empört. Ihre Stirn zeigte kleine Krausfältchen, wie ein Wasser, das noch nicht genau weiß, ob es dem Wind zu gefallen Wellen werfen soll, und sie fragte leise: »Sind die beiden Bekannte von Ihnen?«
»Oberflächliche, sie reisen nach Italien.«
»Ach so! – sie machten Sprachübungen.« Gustel war geneigt, aus diesem Grunde das Italienischreden etwas weniger schlimm zu finden, ihre Stirn war jedoch noch nicht wieder ganz glatt.
Da fragte die Menschenfreundliche: »Also eine kleine Berlinerin sind Sie und auf der Reise nach der Pension?« Diese Frage, von freundlicher Stimme getragen, von gütigem Blicke begleitet, schloß Gustels Herz weit auf.
»Ja, aus Berlin, ich war noch nie fort, nur allemal in den großen Ferien auf Rügen, wo wir ein Häuschen haben; aber nun bin ich fünfzehn und bin eingesegnet und soll auswärts den höheren Schliff bekommen.« Sie seufzte ein wenig, dann fuhr sie fort: »Ob das Geschliffenwerden sehr unangenehm ist?«
»Wenn man unter die sehr harten, kleinen Steine gehört –«
Gustel machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich weiß nicht, zu Hause bin ich butterweich, aber da bin ich auch der Liebling, und Mama sagt, dabei sei das Weichsein sehr leicht, denn dann werde man eben verwöhnt.«
»Da wird Mama wohl recht haben. – Und wo soll nun dieser kleine Edelstein geschliffen werden?«
»In Eisenach.« – Gustel glaubte ein leises Lächeln um die Mundwinkel ihrer Nachbarin huschen zu sehen und fügte feurig hinzu: »Sie denken wohl, Eisenach sei zu klein für Bildung? O! Das ist eine entzückende Stadt, ich habe die Wartburg schon einmal bei einer Tannhäuseraufführung gesehen, und gebildet ist man dort außerordentlich, und eine Menge Berühmtheiten ziehen hin, die es eigentlich gar nicht nötig hätten, zum Beispiel gibt es da eine Villa Reuter und –«
Jetzt lachte die Menschenfreundliche ganz deutlich.
»Sie kennen wohl Eisenach gar nicht, da Sie lachen; ich gebe Ihnen die Versicherung, die Villa Schering, in der ich Anmut und noch eine ganze Menge andres lernen werde, ist eine sehr berühmte Erziehungsanstalt.«
Das Lachen hörte auf, nur in den Augen blieb noch ein Schein davon hängen, als die Reisebekanntschaft antwortete: »Ich lachte nicht über Eisenach, sondern über Ihren Eifer, und lache Sie auch nicht aus, wie Sie, kleine Eitelkeit, glauben, sondern ich freue mich über diesen Eifer. Möge die Villa Schering das ihre tun.«
Da klang aus der Ecke gegenüber eine milde, zarte Stimme hervor: »Ei, das ist ja meine kleine Helferin von der Bahnhofstreppe!«
Gustel wandte ihre nur halb besänftigte Kampflust zur Seite: dort hatte die alte Dame den Schleier zurückgeschlagen und sah das junge Mädchen wohlwollend an. Nun erkannte Gustel sie auch wieder. »Tante Rhenius!« sagte sie unwillkürlich und gab sich Mühe, recht höflich den Dank der alten Dame auszuhalten; eigentlich hatte sie's gar nicht gern, wenn man sich bei ihr bedankte, das machte sie immer verlegen, und die Verlegenheit suchte sie mit dem Wildfang totzuschlagen, der dabei leicht an allerlei unpassenden Stellen aneckte.
»Nun, wie wurde es denn mit Ihrem Kindergarten,« frug die alte Dame, »kam die Mutter rechtzeitig zurück?«
Das hatte diese Tante Rhenius also auch gesehen, und hastig, weil sie noch ein Lob in den Augen der alten Dame las, antwortete Gustel: »Es war ein feiner Spaß, die Göhren waren sehr niedlich, mein Bruder hat sie unterhalten helfen.«
Jetzt lachten die beiden Damen und von dem Lachen und dem Stoß des in Wittenberg anhaltenden Zuges wachte auch die dicke Schläferin auf.
»Guten Morgen,« sagte sie, »nein, was das Reisen hungrig macht!« und dann packte sie ein ausgiebiges Frühstück aus einer großen Handtasche, wobei sie ihre Nachbarin einigemal mit dem Ellbogen stieß.
Da Gustel mit all ihrer Sympathie bei Tante Rhenius und deren menschenfreundlicher Nichte war, füllte sich ihr Herz, um dieser Stöße willen, mit Zorn gegen die dicke Dame, und als diese ihr im Laufe ihres langen Frühstücks einen Apfel anbot, schlug sie ihn geradezu aus, obwohl sie eigentlich Aepfel sehr gern aß.
»Lieber gar!« rief die dicke Dame. »Kind, du wirst bei der Jugend doch nicht etwa schlechte Zähne haben!«
Gustel war empört. Du! und schlechte Zähne! Sie zog die Lippen ein ganz klein bißchen hoch, so daß man die blanken Mausezähnchen blitzen sehen konnte, und hatte eine sehr kriegerische Antwort hinter diesen Zähnchen bereit. Da legte sich ganz leise eine Hand auf ihre linke und wie ein Hauch klang's ihr ins Ohr: »Die Ehre der Familie Elwers!«
Gustel wurde dunkelrot, kämpfte mit ihrer »gerechten Entrüstung« einen schweren Kampf, besiegte sie und sah ein paar Minuten später lächelnd ihrer Nachbarin in die Augen.
Tante Rhenius war übrigens auch für ein kleines Frühstück. »Charlotte, packe aus.«
»Fräulein Charlotte,« jubelte Gustel, »nun weiß ich auch, wie Sie heißen.«
Die menschenfreundliche Charlotte stellte daraufhin mit feierlicher Schelmerei vor: »Fräulein Elwers, auf der Reise nach einem Eisenacher Pensionat – Frau Professor Rhenius, auf der Heimreise« – und die alte Dame ging auf die scherzhafte Feierlichkeit ein und fügte hinzu: »Fräulein Charlotte Brant, meine liebe Nichte, auch auf der Heimreise.«
Gustel machte ihre schönste Turnstundenverbeugung und war wieder ganz vergnügt. »Wohnen Sie nicht zusammen?« fragte sie, in eine Buttersemmel beißend, denn da »ihre« Mitreisenden aßen, aß sie natürlich auch.
»Beinah,« antwortete Tante Rhenius, »eins oben, eins unten.«
»Natürlich sind Onkel und Tante das Oberhaus, ich aber habe dafür ein Gartenzimmer und an diesem Zimmer ein Gärtchen mit besonderen Eigenschaften!«
»So?«
»Ja. Auf diesen Garten sieht in stolzer Schöne die Wartburg herab.«
»Was – was sieht auf Ihren Garten herab?« rief Gustel und zappelte vor Wonne mit Händen und Füßen.
»Die Wartburg.«
»Aber, aber da müssen Sie doch eigentlich beinah in Eisenach wohnen?«
»Eigentlich beinah? Nein. Mitten drin wohne ich.«
Gustel wäre Fräulein Charlotte am liebsten, jubelnden Entzückens voll, um den Hals gefallen, aber so viel Mut hatte nicht einmal der Wildfang, obwohl er jetzt ganz munter geworden war. Er sagte bloß: »Das ist zu piek! Da haben Sie mich vorhin schön geneckt. Aber das tut nichts, wenn ich Sie einmal während des feierlichen Gänsemarschspaziergangs auf der Straße treffe, werde ich Ihnen trotzdem zärtlich zunicken, und stünde Dunkelarrest bei Wasser und Brot darauf.«
»Zur Tröstung lade ich Sie dann einmal am freien Sonntag zur Schokolade ein.«
»Himmlisch! – Fräulein Charlotte – kann man die Schokolade nicht schon vor dem Dunkelarrest kriegen?«
»Ich denke, das wird sich einrichten lassen, wenn man sich nicht durch unmäßigen Uebermut das Recht zu Sonntagsausgängen verscherzt hat.«
»So etwas könnte geschehen?« rief Gustel, sprang auf, riß ein Täschchen herab, hob es auf und blieb mit pathetischer Gebärde und drolliger Miene inmitten des Ganges stehen.
Die Lesenden stöhnten, die dicke Dame, die schon wieder schlief, murmelte etwas im Traume, und Frau Professor Rhenius sagte unwillkürlich lachend: »Ja, das könnte geschehen, denn nicht alle Eisenacher haben solch rührende Geduld mit fünfzehnjährigem Uebermut, wie meine Nichte Charlotte, das können Sie mir glauben.«
»Schade,« platzte der Wildfang heraus, worüber Gustel rot wurde und stotterte: »Ich meine, es ist schade, daß ich so bin.«
»Je nun, man kann sich ja bessern.«
Gustel verstummte für ein Weilchen, nachdenklich sah sie vor sich hin, von Zeit zu Zeit verstohlen die fünf Damen reihum betrachtend. Frau Rhenius sah blaß und erschöpft aus, Fräulein Charlotte menschenfreundlich wie vorher, aber sie schwieg und beobachtete besorgt die feinen Züge der alten Dame. Gustel wagte nichts zu sagen; obwohl sie sehr gern gewußt hätte, ob die beiden ihr böse waren oder nur ermüdet.
Endlich kam Halle und mit Halle die Erlösung. Die beiden Lesenden stiegen aus, Gustel half sehr gesetzt Bücher und Pakete hinausreichen; dann pustete auch noch die Dicke wie eine kleine Dampfmaschine davon, es war nicht genau festzustellen, ob sie den Zurückbleibenden Adieu sagte. Statt ihrer stieg ein zwölfjähriges Mädchen mit zwei Schwesterchen ein und Gustels Wildfang konnte sich wieder einmal von der netten Seite zeigen. Die beiden Kleinen hatten zunächst brennende Lust, zum Fenster hinaus zu fallen, dann wollten sie die Fransen an Tante Rhenius' Mantel zerzupfen, und als auch das nicht gelitten wurde, stimmten sie das bekannte Verzweiflungsduett der Langeweile an; die Schwester aber war nach einigen vergeblichen Ermahnungen zur Artigkeit den Kindern gegenüber selbst so hilflos, daß nun auch ihre Augen zu tropfen begannen. Da konnte sich der Wildfang zeigen. Zunächst zog er ein blitzblankes Aushilfstaschentuch aus dem Jäckchen; mit Hilfe höchst verschmitzter Knoten und Kniffe wandelte sich das langweilige Viereck nacheinander in eine Pudelmütze, eine Königskrone und eine Narrenkappe; Staunen ließ die Tränen stocken, aber die Mäulchen blieben immer noch aufgesperrt, bereit, sofort wieder mit Schluchzen zu beginnen.
Nun wandelte sich das Taschentuch in ein Mäuschen – huschte dahin, dorthin, lief den Kindern am Röckchen in die Höhe, kroch Gustel ins Jäckchen; die kleinen Zuschauer guckten sich an, stießen sich an und der Versuch eines Lachens huschte um ihre Mundwinkel. Wie jetzt aber plötzlich ein Kasperl aus der einen Hälfte des Tuchs und eine Madame Kasperl aus der andern Hälfte wurde, und diese Hälften, auf zwei kleine Backfischhände gestülpt, die wunderbarsten Sprünge ausführten, wie schließlich Herr und Frau Kasperl, mit Hilfe des tatendurstigen Wildfangs, die bösartigsten Stegreifverse, verbunden mit Zank und Prügeln und Versöhnung, hervorbrachten, da wurde nur noch herzlich gelacht im Damenabteil, und als Corbetha kam, stieg das Geschwisterkleeblatt mit schweren Seufzern wieder aus.
»Ach schon! – wie schade, schon Corbetha!«