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Die Woche verging ordnungsmäßig in Arbeit und Erholung; am Sonnabend machte Lydia es möglich, trotz Fräulein Klementinens Gegenwart aus dem Marktgedränge in die süße Apotheke zu schlüpfen, während Gustel der sachverständigen Belehrung über den Eiereinkauf lauschte.
Mit dem unschuldigsten Gesicht fand Lydia sich nach kurzer Zeit wieder zurück, hörte ohne Erröten die Mahnung, sich nicht wieder zu verlaufen, und wurde von Erna sehr belobt über ihren Einkauf.
»Tu's nicht wieder, Lydia,« sagte Gustel leise, als sie abends zu Bett gingen, »man kann auch so fidel sein.«
»Aber ich will mich gut mit Erna stehen, sie ist die Klügste, ich kann sehr viel von ihr lernen und sie lädt mich nach Berlin ein.«
»Das kann ich auch,« wollte Gustel eben sagen, doch fiel ihr noch rechtzeitig ein, wer die Verfügung über das Gastzimmer hatte. In dieser Nacht weinte Lydia wieder; daß es um dies nicht ausgesprochene: »das kann ich auch«, war, darauf kam Gustel natürlich nicht. Gustel gefiel Lydia viel besser als Erna, wenn aber Gustel von allen links angesehen wurde und nicht einmal nett mit ihr war, was hatte sie dann von ihr? Da machte sie lieber mit Erna Dummheiten.
Am Sonntag regnete es, so daß nur Fräulein Charlotte mit »Kähnen und Plandach«, gegen Abend auf einen Husch kam. Gustel hatte den ganzen Tag gehofft und gezweifelt, jetzt mußte sie einen heimlichen Augenblick zum Herzausschütten erhaschen.
Zunächst wurde aber gespielt: Tellerdrehen mit Versen. Jedes bekam einen Namen – Blumen? Nein, das war zu gewöhnlich: Vögel! – dann waren sie wie im Schwalbenkränzchen! Erna rief es und Erna teilte aus. Professor Schering mußte sich den Adler gefallen lassen. Er neckte gern ein bißchen. »Daß ich ein Raubvogel bin, hab' ich nicht gedacht!« sagte er; aber Erna ließ sich nicht irre machen, sie halte sich nicht an die Naturgeschichte, sondern an die Wappenkunde: der Adler sei ein königlicher Vogel. Fräulein Lisbeth wurde unter allgemeinem Jubel zur Gluckhenne ausgerufen.
»Aha, Sie schützen die Küchlein vor mir!« neckte der Professor.
Fräulein Charlotte war natürlich die Schwalbe und Gustel bekam richtig den Spatz. Ueber dem allgemeinen Vergnügen vergaß sie beinah ihren besonderen Kummer.
Es war zu lustig, wenn Erna – die Meise – gewandt, drollig und etwas zänkisch – rief: »O Adler, flieg herbei in unsre Mitte,« – den Holzteller kräftig drehend, und Professor Schering ihn mit den Worten auffing: »Und lehr uns schlimmen Mädchen gute Sitte.«
Natürlich fing der oft Geplagte seine Scheibe stets, ehe sie auf dem Boden aufklappte. Ach wie oft, wie oft klappte sie, ehe die andern Angerufenen einen Gleichklang gefunden hatten – wie manches Mal rief Schabernack ein unreimbares Wort in den Kreis – die Pfänder mehrten sich; Fräulein Klementine, die ab und zu ging, sammelte sie ein (Miß und Mademoiselle schrieben Briefe), sogar die zungenflinke Gustel fiel einem Ungefähr zum Opfer, das sie stolpern machte.
»Sag, Spatz, was ist das höchste der Gefühle?« hatte Liese Flederwisch gerufen, und Gustel war flink fertig mit der schönen Antwort: »Bin ich ermüdet, weiche Polsterstühle!« – Aber irgend etwas schob sich vor sie, als sie dabei nach dem Teller greifen wollte – war's ihr eigenes Kleid, war's fremder böser Wille, das blieb unentschieden – kurz, sie stolperte, der Teller krachte und geduldig gab sie ihr Pfand, ohne darum zu handeln wie Lydia und Fanny.
Nun waren nur Fräulein Charlotte und der Professor noch nicht gefangen.
»Aber das geht nicht, das geht nicht!« rief er, den Teller in der Luft schwingend, »wir müssen Sie kriegen!«
»Das ist nicht so leicht,« antwortete Charlotte lachend. »Schwalben fliegen im Zickzack!«
Gleich darauf rief der Professor mit schalkhaftem Lächeln: »Sag, Schwalbe, warum fliegst du nach Aegypten?« Charlotte aber fing ihren Teller und antwortete unter dem Jubel der Mädchen, die ihre Sache zur eigenen machten: »Ich handle nach Gelübden.«
»O – o – o! welch ein Reim!«
Aber er mußte ihn gelten lassen; denn »unorthographische Reime« waren bei diesem Scherzspiel feierlich erlaubt. Und nun fiel er selbst zum Opfer; warum hatte er seine beste und übermütigste Jugendfreundin gereizt.
Charlotte faßte ihren Teller, drehte, ohne den Professor anzusehen, sehr scharf und sprach geradehin, als denke sie an nichts Böses: »Sag, Adler, schwebtest du schon ob der Furka?«
Schmachvoll! Erst merkte er kaum, daß es ihm galt, dann sprang er auf, mißhandelte die deutsche Sprache, obwohl er ein deutscher Professor war – und dann beleidigte er auch noch die beste Charlotte, indem er antwortete: »Nicht ahnt' ich, daß die Welt trägt solche Schurka.«
Aber der Teller klappte doch, ehe er ihn hatte – Fräulein Charlotte in Verbindung mit einem solchen Worte zu bringen, überhaupt ein Wort zu bilden, das er im Aufsatzbuch unnachsichtlich rot anstreichen würde, das rächte sich. Jauchzend umtanzten ihn die Mädchen, das Pfand einfordernd.
Damit hatte das Spiel seinen Höhepunkt erreicht, man ging ans Pfänderauslösen. Zwischen dem Hin- und Herlaufen wurde der Kreis verschoben, Gustel konnte zu Fräulein Charlotte schlüpfen.
»Ich hab' ein ganz schweres Herz,« flüsterte sie.
Charlotte sah den Augen an, daß dies Ernst war, nicht Backfischübertreibung; sie nahm Gustels Arm, führte sie die Wand entlang, langsam von Bild zu Bild, bis sie hinüber ins leere Eßzimmer kamen; dort gingen sie bis zur Tür, gegen die der Regen schlug. Es klatschte draußen auf der Terrasse, es pochte ans Fenster, die Rinnen führten einen wechselvollen Trommelmarsch aus.
»So, Gustel, nun sind wir allein, was hast du auf dem Herzen?«
»Aber nicht wahr, es ist nicht Klatschen?«
»Nein, Liebling – wir wollen es Beichten nennen; niemand wird je davon erfahren.«
Und Gustel beichtete – eifrig, leise, hastig – was morgen geschehen sollte, was sie nicht mitmachen wollte, und was sie doch so schwer zu umgehen fand.
»Kind,« rief Fräulein Charlotte erschrocken, »das ist abscheulich! du mußt davonbleiben, du mußt die andern auch zurückzuhalten suchen. Sollte nicht eine, die fest und tapfer bleibt, die Schwankenden beeinflussen können?«
»Ich bin die Jüngste und keine fürchtet sich vor mir, vor Erna fürchten sich alle; ich will gerne dagegen reden, aber es hilft nichts, und obendrein kann mich dann keine mehr leiden.«
»Dann findest du eine sehr schöne Gelegenheit, die Eroberungskünste zu zeigen, von denen du mir erzählt hast; außerdem muß man das Rechte auch tun, wenn's unbequeme Folgen hat.«
Gustel wurde rot, ihr fiel ein, wie sie sich auf der Fahrt gerühmt hatte: ich erobere alle! Aber da lächelte ja Charlotte wieder, und bei diesem Lächeln kam ihr vor, als sei schon alles aufs beste von ihr getan.
»Sind denn alle dabei?«
»Ich glaube, nur Liese Böning will auch davonbleiben, sie sagt, sie habe kein Geld, aber in Wirklichkeit hat sie keinen Mut – ich will aber nicht lügen, ich ärgere mich, daß Liese, die ich am liebsten habe, so feige lügt.«
»Mit dem Mut ist es eine eigene Sache, Gusti – zur einen Hälfte ist er Gesundheit und zur andern Hälfte das Geschenk unsrer Erziehung, die uns die glückliche Sicherheit gibt, daß wir nicht gleich –«
»In den Abgrund der Ungnade stürzen,« fiel Gustel lebhaft ein.
»Ja, oder daß uns beim Sturz liebende Arme auffangen.«
»Sie haben schon wieder einmal recht. Ich muß natürlich mutig sein. Erst will ich abreden, soviel ich kann, hilft das nichts, dann ihnen sagen, was ich davon denke, und schließlich die Wütenden alle wieder erobern. Piek!«
Am nächsten Tage leuchtete die Sonne, lachte alle Pfützen an und ein leichter Wind machte sich ans Trocknen und schüttelte den Blumen die Tränen aus den Augen.
Wie geplant ging der Tag hin: einige ungewohnte Aufregung in den Stunden, Abfahrt der Herrschaften, großes Begleitungsgezwitscher der ganzen Schar, im Hintergrund Seufzer Mademoiselle Laports über den beschwerlichen Tag.
Lina und die beiden Kochgehilfen Erna und Fanny waren sehr zeitig mit dem Essen fertig, gleich nach Tisch huschelte sich Mademoiselle auf Fräulein Klementinens Langstuhl im Gartenzimmer ein; die Göttinnen gingen ins Musikzimmer und waren »verloren für die Welt«, die Fischlein liefen nach dem Spielplatz.
Richtig da lagen schon Schirme und Hüte auf der Bank, die gewandte Lina hatte sie während des Essens bereits dahin gebracht.
»Courage, Auguste Dorothea Charlotte Elwers!« sagte sich Gustel heimlich vor, dann rief sie laut über den Platz: »Wollt ihr wirklich auskneifen?«
Unwillkürlich hielten alle im Hutaufsetzen inne und sahen sie an – aber nur einen Augenblick lang, dann steckte Erna die Hutnadel fest und antwortete: »Ja, und du gehst mit.«
»Nein, ich gehe nicht mit.«
Erna, Fanny und Lydia stürmten auf sie ein, Wanda Schönchen schlug ihre großen Augen zum Himmel auf. Wie konnte sich diese Gustel dagegen sträuben! Da war's schon bequemer, man machte solch kleine Dummheit mit, ganz abgesehen davon, daß Schokolade mit Schlagsahne gut schmeckt.
»Warum gehst du nicht mit?« fragte Friederike Schauroth langsam, sie hatte, zwei Bücher in der Hand tragend, eben den Spielplatz erreicht. Friederikens Augen ruhten so kalt und hochmütig auf Gustel, daß sie in diesem Augenblick auch lieber gesagt hätte: ich hab' kein Geld – aber lügen und feige sein? Nein!
»Weil's nicht recht ist,« antwortete sie kurz. – »Gehst du mit?«
»Ich arbeite. Aber ich finde nichts dabei, wenn ihr geht, es ist nur eine Kinderei.« Dabei sah Friederike hoch herab von ihrer schlanken Höhe.
»Ich aber finde, daß du die ganze Sache nicht leiden solltest, wenn du schon den Obmann spielst, denn es ist verboten, allein in die Stadt zu laufen.«
»Am hellen Mittag!« rief Semmelchen-Fanny entrüstet.
Friederike aber sagte, Gustel mit einem Blick aus ihren gelben Augen aufspießend: »Du willst wohl klatschen?«
»Nichts will ich, als davonbleiben, wie sich's gehört.«
»Verräterin!«
Gustel wollte gegen Erna losfahren – sie besann sich aber eines bessern. Recht hatte sie, nun wollte sie das Recht auch einmal auf die richtige Art haben; ganz freundlich sagte sie: »Ich kann mir nicht helfen, ihr begeht ein großes Unrecht: Lina wird bestochen, durch den Zaun wird geschlüpft, Mademoiselle wird belogen, und ich sage euch: das ist doch alles recht häßlich; ich bleibe zu Hause, und das beste wäre, ihr bliebet auch.«
»Macht, was ihr wollt,« sprach Friederike und setzte sich mit ihren Büchern in die Laube.
»Ich bleibe bei dir,« sagte plötzlich Liese Böning.
Ein Sturm von Vorwürfen brauste über den Flederwisch hin.
»Sie hat kein Geld, Erna, sie sagte mir's gestern! sei nicht so, Erna,« bat Schönchen. Liese aber rief eifrig, durch Gustels Vorbild gestärkt: »Nein, nein! ich habe Geld, ich bleibe nur, weil Gustel recht hat.«
Die Folge dieses Mutes war ein Kuß Gustels und erhöhter Zorn der andern. Also diese Tugendspiegelei der Jüngsten steckte an, das war ja recht niedlich.
Gustel verteidigte sich sehr ärgerlich. »Ich bin gar nicht so, ich war noch nie ein Musterknabe, oder ein Biederkind, oder ein Tugendspiegel, oder sonst etwas um Lobplätzchen, oder um mich Liebling zu machen, ich war immer ein Unband; aber Lügen und Heimlichkeiten und Durchbrennen oder so etwas, das ist ruppig.«
»So sind wir eben ruppig! Du brauchst ja nicht mit uns umzugehen! Nun gerade gehen wir; wenn du uns aber verklatscht, spricht keine mehr ein Wort mit dir.«
Die vier huschten davon, doppelt eilig, wieder einzuholen, was sie in »unnützem« Gerede von ihrer kostbaren Zeit verloren hatten. Gustel und Liese spielten zusammen Croquet, bis die Naschkatzen zurückkamen, nur hie und da ein Flüsterwort tauschend, Friederike saß ebenso lange stumm in der Laube, nur das Umschlagen der Blätter war von Zeit zu Zeit zu hören. Liese und Gustel waren traurig, es lag wie Gewitterluft über dem Garten. Und es wurde auch nicht anders, als die vier zurückkamen; während und nach dem Kaffee tuschelten sie unausgesetzt miteinander – Gustel sah es deutlich: sie waren besorgt.
Weshalb, erfuhr sie freilich nicht, die Mädchen hüteten sich, zu erzählen, was sie bedrückte – unter sich aber tauschten sie wieder und wieder die Frage: »Ob uns Fräulein Charlotte erkannt hat?«
Eines der letzten Häuser der Stadt auf dem Weg nach der Villa Schering gehörte einem Gärtner, und gerade als die Fischchen dort vorbei gingen, trat Fräulein Charlotte, ein Körbchen voll junger Pflanzen am Arm, aus der Tür.
Die Mädchen waren auf der andern Seite der Straße und senkten schnell die Schirme vor die erglühenden Gesichter; aber es wäre doch möglich gewesen, daß sie sich dadurch nicht ganz unsichtbar gemacht hätten. Nun, Glück konnte man immer haben, und wenn Fräulein Charlotte recht tief in Gedanken gewesen war, dann konnte noch alles gut ausgehen. Alles in allem war ein Pechtag heute – nicht einmal Schlagsahne hatte es in der süßen Apotheke gegeben. – »Bedaure, ausverkauft!« –
Und außerdem klatschte die biedere Gustel vielleicht doch!