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Das Ausgabebuch.

»Nun wollen wir die Taschengeldverhältnisse ordnen,« sprach Professor Schering am nächsten Tage; »gestern konnten wir vor lauter Geburtstagsgeschäften nicht dazu kommen.«

»Die Ausgabebücher, und das gefüllte Portemonnaie herunterbringen,« erklärte Liese eilig den beiden. Gustel, als flinkste, war am ersten mit beiden Dingen wieder unten. Auf dem Tisch des Professors lagen sechs blanke Fünfmarkstücke, das Monatsgeld der sechs Fischchen. Er nahm Gustels Buch, um die Ausgaben zu prüfen und sie mit dem übriggebliebenen Gelde zu vergleichen, während die andern, eine nach der andern, zurückkamen; Schönchen natürlich als letzte.

Sie war aber doch schon im Zimmer, als Professor Schering plötzlich aufsah und sagte: »Eine Mark für Pralines? Aber Auguste! wie kann man sein Geld vernaschen – noch dazu nachdem du schon aus Gotha dergleichen mitgebracht hattest. Du mußt dich ja förmlich von Schokolade ernährt haben.«

Gustel wurde dunkelrot, und atemlos lauschten die andern, was sie sagen werde; aber Gustel sagte gar nichts, nur Professor Schering sprach verstimmt weiter über Näscherei, schlecht angewendetes Geld, verdorbene Mägen, verdorbene Zähne und dergleichen.

»Hast du das etwa auch eingeschrieben?« zischelte Erna Lydia ins Ohr. Die nickte verwirrt und verzweifelt.

»Unglaublich – ihr seid wahrhaftig Pomeranzen! Schnell, Fanny verbessern! ich muß hier aufpassen, ob sie nicht doch vielleicht noch klatscht.«

Aber Gustel klatschte nicht. Sie biß die Zähne zusammen und wurde von Minute zu Minute röter; als Herr Schering ihr aber Buch und Geld in die Hand gab mit den Worten: »Also nicht wieder tun,« da nickte sie nur leise mit dem Kopf und gesenkten Auges ging sie an den Gefährtinnen vorüber – hinaus, die Treppe hinauf nach dem Schlafsaal, Buch und Beutelchen wieder aufzuheben.

In der Tür traf sie Fanny und Lydia; beide heiß und rot von der Arbeit, die sie mit großer Eile heimlich ausgeführt hatten. Fannys geschickte Hand hatte ›Schokolade‹, ›Pralines‹ und ›Kuchen‹ ausradiert, und stattdessen: ›Handschuhe‹, ›Häkelgarn‹ und ›armer Mann‹ hingeschrieben – dabei dachte sie – solche nachträgliche Fälschung sei viel greulicher, als gleich irgend etwas andres hinschreiben, und Lydia sah ganz deutlich die klaren, gütigen Augen ihres Paten vorwurfsvoll auf sich niederschauen. In diesem Augenblick haßte sie Erna.

Gustel saß noch mit brennenden Wangen auf ihrer Bettkante, als Fräulein Lisbeth eintrat. »Ei, ei! muß ich mir so meine Helferinnen zusammensuchen?«

Gustel wollte eilig hinunterlaufen, aber Fräulein Lisbeth stand still und hob ihr das Kinn in die Höhe.

»Ich dächte, wir hingen den Kopf nicht so tief herunter. Naschen ist natürlich etwas Häßliches; aber du hast ja den andern alles ausgeteilt, das ist schon eine kleine Entschuldigung, und die hättest du getrost vorbringen können, wenn dich der Tadel so sehr betrübt.«

Gustel war sehr erstaunt, daß Fräulein Lisbeth das alles wußte, sie hatte gedacht, die kümmere sich nur um Wirtschaftskünste. Nun fand sie auf einmal, daß die blauen Augen entzückend lieb und gut blicken konnten und daß das feine krause Haar heller leuchtete, als die feinsten Sonnenstäubchen.

Und als sie fortfuhr: »Kopf in die Höhe und frisch an die Arbeit; wenn Professor Schering die Pralines nicht morgen schon vergessen hat, was das Wahrscheinlichste ist, erzähl' ich ihm, daß dein gutes Herz die Dummheit gemacht hat.«

Gustel stand schon eifrig in Küchenarbeit an der Anrichte, als Lydia kam, ebenso rot wie Gustel. »Natürlich,« dachte sie, »der ist's auch so gegangen wie mir.«

Als sie sich am Feierabend auf dem Spielplatz versammelt hatten, trat Erna zu Gustel und sagte: »Heute wenigstens hast du dich anständig benommen!« Gustel war aber nicht gestimmt, auf solche Reden versöhnlich zu sein. »Ich bin immer anständig,« sagte sie kurz und wandte Erna den Rücken.

Schreckliches Mädchen, abscheulicher Hochmut! Da kam man ihr nun entgegen, aber sie wollte nichts von Versöhnung wissen, sie wollte Zank, und da Friederike, völlig in Seminarvorbereitungen versinkend, ihren Obmannspflichten sehr lässig nachkam, und Erna »doch sicher der Nachfolger wurde«, fühlte sie sich zu einer kleinen Lehr- und Strafrede veranlaßt.

»Ich will euch einmal was sagen, euch beiden Neuen – dergleichen Naivität war noch nie da; wenn Auguste nicht geschwiegen hätte, müßte man geradezu annehmen, sie habe den Eintrag in das Buch in verräterischer Absicht gemacht. Sie muß in Berlin vermauert gewesen sein. Von Lydia kann man ja nicht so viel verlangen, sie ist eben 'ne Dorfprinzessin, vom Lande stammend, unter Bauern aufgewachsen. Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn ein Fabrikant auf dem Lande lebt; gebt euch Mühe und werdet gescheiter, Pomeranzen seid ihr beide.«

Erna rannte zum Croquetkasten, damit keine antworten könne, denn nannte sie Gustel auch eine Pomeranze, ein klein wenig Respekt hatte sie doch vor ihr. Gustel zuckte aber überhaupt nur die Schultern, Fanny und Wanda standen verlegen da und Lydia schien zu Stein erstarrt. Mit weit offenen Augen sah sie Erna nach; dann kam ein leises Zittern in ihre Lippen, aber erst als Gustel tröstete: »Gräm dich nicht, Erna ist töricht« – brachte sie leise die Worte hervor: »Es ist nicht wahr, ich habe mit unsrem Komteßchen Privatstunden gehabt, und zwei Jahre lang fuhr ich täglich in die Stadt ins Institut und – und – es gibt unter den Bauern ganz gescheite Menschen.«

Da lachten Wanda, Gustel und Liese Böning, die endlich auch erschienen war, nachdem sie den verlegten Gartenhut glücklich gefunden hatte, so lustig auf, daß Lydia nicht wußte, galt das Erna oder ihrer eigenen Weisheit.

Sie lief zu Friederike und quälte und bettelte so lange, bis diese seufzend einwilligte, mitzuspielen. Wenn Friederike auch »gräßlich herrisch« war, Lydia hatte doch ein Gefühl der Sicherheit an ihrer Seite, denn sie war die einzige, vor der Erna sich im Zaume hielt.

Als aber das Croquet zu Ende ging und Gustel, Liese und Wanda sich ihres Sieges freuend, beisammen standen und heiß und rot noch einmal die »glorreichsten« Schläge durchsprachen, verschwand Lydia plötzlich. Gustel merkte es zuerst und wurde unruhig. Natürlich war sie traurig, sie war solch ein wunderlicher Dummhut! Gustel lief plötzlich mitten in einem Satze davon.

Sie lief nach der Eiche, da war's leer; sie suchte in der Fliederlaube – nichts; sie pirschte die Heckenwege ab – keine menschliche Spur; sie trippelte hinüber in den Gemüsegarten – nur Kellermann schwang dort seine Gießkanne.

Als Kellermann aber Gustels suchenden Blick sah, deutete er nach dem Ziegenstall, und richtig, dort, hinter den bemoosten Brettern auf einer umgestürzten Kiste, saß Lydia in heißen Tränen.

»Nein, so was! Wie kann man! Um Ernas Unsinns willen!« Gustel setzte sich auf das freie Eckchen der Kiste, drängte sich an Lydia und klopfte kräftig tröstend deren linke Hand.

»Guck doch! Ich bin gar nicht traurig darüber!«

»Ja, du! – du kannst gut lachen! – Du bist aus der großen Stadt, das weißt du ganz genau! Ich aber, ich bin vom Lande. Holkwitz ist eben nichts andres als ein Dorf, und ein kleines dazu, ganz wenig Einwohner, denn außer dem großen Rittergut des Grafen und meines Vaters Mühlgut, gibt's keinen Bodenbesitzer.«

Entsetzt hielt Lydia inne und starrte Gustel ins Gesicht. Was hatte sie da gesagt? Was war da unter leidenschaftlichem Schluchzen ohne Vorsicht und Ueberlegung zu Tage gekommen? »Das heißt, ich meine« – stammelte sie. Erst bei diesem Stottern fiel Gustel ein, daß ja bisher Vater Krafft ein Fabrikbesitzer gewesen sei.

»Weißt du was, Lydia,« sagte sie, »du dauerst mich, aber ich werde nicht aus dir klug – das gescheiteste wäre, du schüttetest einmal dein Herz aus. Was ist eigentlich bei dir zu Hause los?«

Lydia hatte mit Schluchzen aufgehört und tupfte sich die roten Augen mit dem Batisttuch trocken. Dabei drängte sie sich dichter an Gustel heran; sie sehnte sich zu sehr danach, ihr Herz wirklich einmal auszuschütten, und da Gustel nun schon so viel gehört hatte, war's wohl auch besser, sie sagte ihr alles.

»Los ist bei uns zu Hause gar nichts. Meine Eltern sind gesund und lieben mich gerade so wie dich die deinen, auch sind sie reich, und da ich das einzige Kind bin, heiße ich das Goldmädchen im Dorf – aber es ist eben ein Dorf – und – und – du mußt mir heilig mit Handschlag versichern, daß du es keinem Menschen erzählen wirst, was ich dir verrate.«

Gustel versprach – heilig und mit Handschlag – Lydia fuhr stockend fort: »Vater ist gar kein Fabrikant, sondern ein ganz gewöhnlicher Müller – wenn schon ein zwölfspänniger, wie sie bei uns sagen – und darüber schäme ich mich so.«

Gustel sah Lydia starr an. Erst begriff sie gar nicht, warum ihr Zwilling den Kopf senkte, rot wurde bis über die Stirn und mit keinem einzigen Blick aufsah. Als sie aber endlich erkannte, daß Lydia sich ihrer Eltern schämte, da stand sie jäh von der Kiste auf, sagte: »Du bist albern,« und wandte sich ab. Sie wollte auf und davon, voll Aerger über solche abscheuliche Dummheit, Lydias Aufschluchzen hielt sie aber zurück, und wortlos blieb sie bei ihr stehen.

Statt dessen sagte Lydia schluchzend: »Siehst du! Nun willst du nichts mehr von mir wissen. So seid ihr alle, ich dachte mir's gleich, drum hab' ich's verschwiegen.«

»Aber Lydia! deshalb doch nicht!« und Gustel versuchte auseinanderzusetzen, weshalb sie Lydia böse sei, aber Lydia hatte auf alles nur die Erwiderung: »Du hast gut reden!« – Als Gustel dann entmutigt schwieg, fuhr jene lebhaft fort: »Siehst du, meine Eltern sind doch so anders als ich, und wir verstehen uns oft gar nicht, denn ich bin gerade so erzogen, wie unser Komteßchen, und die Eltern wie ganz richtige – Landleute, denen alles, was ich liebe, gleichgültig ist. Ich war auf dem Schloß von früh bis spät, und als unser Graf Minister wurde und die Herrschaft in die Residenz zog, da bin ich in die Stadt zur Schule gefahren worden. Jetzt soll ich alles vergessen und womöglich einen Mühlknappen heiraten, damit nur die Mühle erhalten bleibt. Die gräßliche Mühle! Und als ich die Pension erbettelt hatte, um nur noch einmal unter Menschen in der Stadt zu leben, schickten sie mich hierher! Ich soll das Landleben liebgewinnen! Aber ich hasse es nun erst recht. Ich überrede meinen Vater schon noch, daß er die Mühle verkauft und in die Stadt zieht; Vater ist zehnmal reich genug zum Rentier, und wenn er's nicht tut, dann sterbe ich vor Verzweiflung.«

Vergeblich suchte Gustel unter Hinweis auf Karl Mehlmann, den »netten« Müller, der ihrer vornehmen Tante geschätzter Freund sei, den Stand der Eltern in Lydias Augen zu heben. Vergebens schwärmte sie von der Poesie des Räderrauschens und der Müllerlieder; Lydia schüttelte wehmütig den Kopf. Gustels Wertschätzung tat ihr sehr wohl, aber recht hatte sie natürlich nicht; von fern ließ sich leicht für ländliche Idyllen schwärmen, sie kannte die Sache aus der nächsten Nähe – Düngerfuhren, gestörte Morgenruhe, Schwabenkriege und tödlich lange Wintertage – Gustel mochte das erst einmal probieren.

Aber sie hatte Gustel ihr Herz ausgeschüttet und hatte an Gustels Schulter geweint; jetzt liebte sie ihren Zwilling, jetzt mochte die schnöde Erna locken und spotten – Gustel war gut.

Seit diesem Tag gab's eine Spaltung von drei zu drei unter den Sechzehnjährigen. Liese Böning hielt sich auch weiterhin zu den beiden jüngsten. Wanda aus Bequemlichkeit, die gerne der Gewohnheit treu bleibt, zu Fanny und Erna.

Friederike fand die Spaltung unbequem, noch unbequemer aber, die Versöhnung dieser feindlichen Kleeblättchen zu versuchen – sie hatte die Gedanken einzig auf ihr Michaeliziel gerichtet – also stellte sie sich, als merke sie nichts von allem, was vorging, und je näher der Tag kam, an dem sonst das heimliche Monatsfest gefeiert wurde, desto ängstlicher wurde Lydia, desto gereizter zeigte sich Erna gegen die Abtrünnigen.

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