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»Berlin, am 15. Dezember.
Herzliebste Charlotte!
Endlich bin ich wieder daheim – so lange war ich in Holkwitz! Bis zum achten nämlich – am siebenten war die Hochzeit. Mir ist ganz, als sei es ein Traum, so viel habe ich erlebt. Ich glaube gar nicht mehr an Berlin, immer sehe ich weiße Felder vor mir und überreifte Weiden und höre den behaglichen Lärm der Ställe und das Geklapper der Mühle.
Meine guten Eltern ließen mich nach Lydias Verlobung gleich in Holkwitz, weil es so viel zu helfen gab. Das heißt, so ganz einfach war's doch nicht. Lydia schrieb und ich schrieb und Vater Krafft mußte es beglaubigen. Und dann reiste Papa nach Altenburg – heraus nach Holkwitz konnte er nicht kommen, aus Zeitmangel; aber wir fuhren mit Michel zum Bahnhof und Paul mußte nachher gleich wieder mit ihm nach Haus – Gelehrsamkeit gibt keinen Pardon. Und in dem Wartesaal entwickelte sich ein sehr merkwürdiges Gespräch zwischen Papa und mir; – er meinte, ich sei Spatz und Wildfang gewesen, alles beides – ich aber gab mich für eine Müllermaus aus, die immer satt ist, also nicht piep sagt – und vertraute ihm an, daß ich Brautjungfer werden solle, und daß er mir ein Gedicht zum Polterabend machen müsse: ›in dem netten Berliner Dialekt,‹ wie Frau Mehlmann sagt – kurzum, der süße, einsichtige Papa sprach: Bleib! und ich blieb – – weil es so viel zu helfen gab.
Auch Wanda half ein paar Wochen, dann mußte sie heim, weil ihres Bruders Hochzeit um dieselbe Zeit war. Statt ihrer rückte unser lieber Flederwisch ein; fleißig zum Erschrecken und am Festtag Brautjungfer wie ich.
Was haben wir in den sechs Wochen geschafft! ›Gescharwerkt,‹ sagte die Großmagd. Das obere Stockwerk der Mühle wurde hübsch tapeziert und gemalt und von uns eingerichtet; Ausstattung wurde bestellt, genäht, gewaschen und eingeräumt. Frau und Fräulein Mehlmann kamen auch noch zur Hilfe; wie auf dem Jahrmarkt war's manchmal in der großen Stube, die zur Arbeit geheizt wurde. Und was waren die beiden Mehlmannsdamen lieb und gut! Sie haben sich so mit Kraffts angefreundet, daß sie nach Altenburg ziehen wollen, um ›ihre Kinder‹ näher zu haben – Lyddi ist glückselig darüber.
In der letzten Woche gab's nichts als Schlacht- und Backfeste – dagegen war die Erntefestvorbereitung, als spielten Kinder Puppenküche – ich hätte nie gedacht, daß so viel gegessen werden könne, aber es wurde alle, denn das ganze Dorf holte sich sein Teil; auch die ›kleinen Leute‹, die nicht geladen wurden, mußten mitessen, ›auf daß es Braut und Breitgen Bräutigam. gedeihe‹.
Und nun raten Sie nur, wer den lustigsten Toast ausgebracht hat? Doktor Born! Er war richtig dabei und Liesens Brautführer. – Das war doch natürlich, daß wir am ersten November in aller Freude und Arbeit den Vielliebchen-Monatsgruß an den guten Doktor vergaßen! Nun bestand er auf seinem Schein. Am dritten kam eine Postkarte, auf der war eine niedliche Zeichnung zu sehen: ein Mann, der einen neuen Frack anprobiert. Darunter stand: ›Vorbereitung zur Hochzeit.‹ Nichts weiter – wir mußten nun Herrn Mehlmann und Vater Krafft erzählen, welche Schuld einzulösen sei – zuerst gab es ein kleines Donnerwetter und die Antwort: ›Nu seht zu, wer euch 'rausreißt.‹
Dann aber: weil er ein guter Bekannter von uns, vor allem von meinem Papa sei, und weil Herr Mehlmann zuredete, schickten ihm Kraffts doch eine Einladung, und er kam auch.
Nachher hat er ihnen sehr gut gefallen, er war so nett, machte so viel Spaß, redete so oft in Versen und lobte Altenburg. Wir haben ihm am Tag nach der Hochzeit eine ganze Schachtel Ziegenkäse eingepackt – das ist nämlich das Feinste, was es in Altenburg gibt – damit soll er in Berlin Staat machen, sagte Vater Krafft.
Sie wissen natürlich, daß Tante Rickwitz auch da war. Bräutigamspaten werden doch immer geladen – und sie war großartig. Vater Krafft hat sie im Eifer sogar einmal ›e hellsches Weibsen‹ genannt, was die größte Bewunderung auf Altenburgisch ausdrücken soll.
Ach, herzallerliebste Charlotte, warum mußten Sie denn nun gerade in diesem Herbst nach Neapel? Die ganze Villa Schering kam angereist und wurde beim Paten Braun einquartiert und kein Mensch schlug die Einladung aus, außer Ihnen und Friederiken, die von ihren Büchern festgezaubert war.
Und immer noch einmal, was habe ich erlebt! Natürlich hatte ich doch auch einen Brautführer? ›Für das Gustel suchen wir einen jungen, lustigen aus,‹ sagte Herr Mehlmann.
Ein guter Freund vom Bräutigam mußte es aber auch sein. Ich wurde ganz neugierig – alle Tage ein Vorschlag – und dann hieß es immer wieder: der ist noch nicht nett genug.
Endlich war's gar. Ein junger Landwirt, jünger als Herr Mehlmann, aber ein guter Freund von ihm, denn sie hatten gleichzeitig auf einem Gute gelernt, und zwar hatte der Brautführer dort gründlich gelernt, Herr Mehlmann nur, um so ein bißchen was weg zu bekommen, weil Mühlen auf dem Lande stehen. Also dieser Freund war eingeladen und sagte auch zu, und als er ankam, wer war's? Herminens Bruder: Rudolf Gesterding. Und so fidel! Manchmal dachte ich, Paulemann säße neben mir – nachher war er natürlich auch oft viel gesetzter. Ist es nicht merkwürdig? Wieviel Gesterdinger sind mir nun schon über meinen kurzen Lebensweg gelaufen!
Und so war alles –: wunderbar und herrlich!
Aber das Herrlichste war meine dumme Lyddi, die sich gar nicht genug tun konnte im Schaffen und Wirtschaften, als wolle sie alles in Jahren Versäumte jetzt in diesen sechs Wochen nachholen. Ich glaube, sie hat Holkwitz im Grunde ihres Herzens immer über alle andern Plätze der Welt gern gehabt, es waren ihr nur ein paar törichte Gedanken so drüber hingewachsen, daß sie es selber gar nicht mehr wußte, was in der Tiefe lag.
Und nun bin ich wieder zu Hause und alle sind rührend gut gegen mich. Paul behandelt mich wie einen erwachsenen Menschen, mit dem man Zukunftsfragen durchspricht, Ida und Frida folgen mir auf das Wort, Mama nennt mich sehr oft ihren Minister des Innern und Papa immer abwechselnd Quirlequitsch und auch Heizchendeizchen, welche beiden neuen Namen Doktor Born hier verraten hat.
Sie müssen aber nicht denken, daß ich hier nichts weiter erlebe, als was dem Ministerium des Innern so für alle Tage geläufig ist. Gleich am ersten Abend waren wir, ›die vier Großen‹, wie Ida sagt, zum musikalischen Tee bei Kalkoffs – und ich sah Hermine Gesterding zum erstenmal wieder seit jenem Spaziergang nach dem Selliner See, wo Myrrha so abscheulich war. Hermine hatte doch damals so viel Kopfweh, daß wir ihr vor der Abreise gar nicht mehr adieu sagen konnten – es war eigentlich beinah, als ob sie uns nicht adieu sagen wolle. Anfangs war sie auch jetzt ganz wunderlich, gab mir keine Hand und tat, als hätten wir uns kaum einmal von ferne gesehen. Aber ich ließ mich nicht irre machen, denn ich wußte doch vom Konzerttag her, daß sie ein warmes Herz hat, und ein wundes noch außerdem. Wer weiß, was ihr wieder weh tat!
Ich hatte auch ganz recht gehabt – gestern waren wir bei Kapellmeister Sorgerts, mit denen die Eltern in meiner Abwesenheit Freundschaft angeknüpft haben, und da fragte ich denn tüchtig nach allen Gesterdingern, bekam alle Bilder gezeigt und fragte immer mehr – als ganz frecher Spatz. Und vorhin war ich drüben bei Hermine, ihr alles Gefragte zu berichten, auch alles von meinem Brautführer, von dem ich letzthin vor allen Leuten ihr nichts erzählen mochte. Erst war sie abweisend, dann schwieg sie still und hörte zu, und als ich zu Ende war, gab sie mir auf einmal einen Kuß und sagte: ›Sie sind ein liebes Kind.‹
Im Sommer war mir das ›Kind‹ noch ein wenig kränkend, herzliebste Charlotte, aber jetzt, wo ich bald achtzehn Jahr werde, hat mich's nur gerührt. Ich hätte am liebsten zu ihr gesagt: ach, gehen Sie doch nach Hause zu der zarten Mama, die Sie braucht, und wo Sie auch ein liebes Kind sind; aber ich hatte keinen Mut, ich fürchtete, sie werde gleich wieder einfrieren. Und nun sage ich Ihnen lebewohl und grüße Sie viel tausendmal
als Ihre kleine Gustel,
die überhaupt nicht einfrieren kann.« –
Seit jenem Kusse, der zwischen Hermine Gesterding und Gustel Elwers gewechselt worden war, schien ein festes Band zwischen den beiden Verschiedenaltrigen geknüpft zu sein, – keine Backfischzärtlichkeit natürlich, kein Köpfezusammenstecken, kein Einanderanvertrauen von höchst wichtigem, geheimnisvollem Nichts, sowie man sich in einem Raum zusammenfindet, aber ein ruhiges, selbstverständliches Sich-aufeinander-verlassen.
Ganz unwillkürlich lenkte auch Paul, der Primaner, dessen Abiturium vor der Türe stand, in dasselbe Fahrwasser ein. Um Ideale kann man sich natürlich nicht kümmern in solchen Zeitläuften, wo es heißt: steure durch Klippen zum herrlichen Ziel –! Aber Ritterdienste? Dafür war er immer zu haben. Gustel brauchte nur mit dem kleinen Finger zu winken, so war er da. Sein Wahlspruch lautete:
»
à dieu mon âme,
ma vie au roi,
mon coeur aux dames;
l'honneur pour moi.«
Also winkte denn Gustel im Notfall, wenn auch nur mit den Augen, und dann trat Paul als Ritter und Beschützer Herminens auf und Myrrhas Unliebenswürdigkeiten wurden von Schulfuchsunsinn und Uebermut abgelenkt.
Myrrha war während dieses Winters sehr oft unliebenswürdig. Sie ärgerte sich über tausenderlei und redete sich ein, daß an alledem immer Hermine die Schuld trage; sie sah auf einmal, daß Hermine hübscher war als sie und, so wenig sie sich im Grunde aus dem Elwersschen »Babypaar« machte – es war nicht nötig, daß sie so augenscheinlich ihrem Widerpart recht gaben.
Am Weihnachtsmorgen war sie besonders verdrießlich, denn das neue Kleid »stand ihr nicht«. Das brachte einen Entschluß zur Reife, den sie schon lange, das Für und Wider immer aufs neue erwägend, mit sich herumtrug. Sie nahm ihren Hauspelz um die Schultern und huschte die Treppen hinab in des Vaters Arbeitszimmer.
»Darf ich?« fragte sie und steckte den Kopf durch die Portiere. – Bankier Kalkoff sah auf, lächelte der Tochter entgegen und legte die Feder beiseite.
»Nur herein, nur herein! Was ist denn Wichtiges los?«
Myrrha trat ein, warf den Pelz auf die Erde und schmeichelte mit allerlei zierlichen Kapriolen um den Vater herum. Der ließ sich lachend die Zärtlichkeiten gefallen; endlich sagte er: »Und nun zum Kern der Zuckerware, Myrrchen, nun hab' ich keine Zeit mehr!«
Myrrha stellte sich mit den Gebärden eines zaghaften Kindes vor ihm auf und sagte: »Ich wünsch' mir noch etwas zu Weihnachten.«
»Jetzt noch was? Immer noch was? Potztausend!«
»Ja, Papa! Etwas Großes, etwas schon lange Ersehntes: kündige Hermine!«
»Was?« – Bankier Kalkoff sprang auf, schob den Stuhl heftig zurück und stellte sich dicht vor die Tochter. »Was fällt dir ein? Was ist da vorgegangen?«
»Nichts – gar nichts. Ich mag sie schon lange nicht mehr.«
»Mag sie nicht mehr! Unsinn! Solche Gründe bringen Kinder vor, aber keine erwachsenen Menschen.« – Myrrha stieß leise mit ihrer Fußspitze in den dicken Teppich hinein. Vater hatte keine Lust, sie hatte sich das schon gedacht, aber nun war einmal angefangen, nun wollte sie auch versuchen, zu Ende zu kommen.
»Die Geschichte mit dem Maler diesen Sommer war doch häßlich genug, seitdem – wir könnten sehr angenehm mit ihm verkehren –«
»Ach was! es war Blödsinn von ihm und außerdem über die Hälfte unsre Schuld. Mir ist nun mal das Rittergut geläufig. Der alte Gesterding ist ja auch von Geblüt und Erziehung und Benehmen Rittergutsbesitzer. Und Hermine! Sie ist eine Dame, mein Kind, ganz unentbehrlich für uns in ihrer ruhigen Sicherheit – auch für Großmama; Großmama braucht sie! und sie gibt unsrem Salon Chic. Ich bin nicht blind, ich sehe, welche Fehler sie hat, aber das muß ich sagen, ein vortreffliches Mädchen ist sie doch.«
Er zupfte Myrrha zärtlich am Ohr. »Na, Mädel, Weihnachten kein Schmollmäulchen machen! Ich sage dir, halt die Hermine warm; wenn sie nicht damals gegen den Wunsch ihrer Eltern zu uns gekommen wäre und der Stolz sie hielte, hätten wir sie längst nicht mehr. Glaube mir. – Und Großmama braucht sie wirklich!«
Zur selben Zeit saß Hermine drüben in Elwers' Eß- und Wohnstube Gustel gegenüber an dem großen Fenster. Gustel stichelte noch eifrig an Mausis Puppe herum. – »Man hat immer bis zur letzten Minute notwendig zu schaffen,« entschuldigte sie sich, »ich glaube aber, anders wär's einem gar nicht ganz richtig wie Weihnachten.«
Hermine nickte seufzend Zustimmung. »Ich habe gar nichts zu tun,« sagte sie leise, und Gustel bereute, was sie gesagt hatte. Wenn jemand traurig ist, dachte sie, muß man sich mit jedem Wort in acht nehmen; alles kann ihm wehe tun.
Nachdem sie eine Weile still einander gegenüber gesessen hatten, Gustel stichelnd, Hermine auf die fleißigen Fingerchen guckend, fragte sie plötzlich: »Sorgerts sind zum Fest nach Hause gereist?«
»Ja. Vorgestern traf ich das Mädchen mit dem kleinen Mozart, die erzählten mir's. Wölfchen sagte sechsmal: ›Morgen geht's nach Schorfen, zum Schorfelgroßpapa und Onkel Rudibudi‹; womit er meinen Brautführer meint.«
Hermine lächelte kaum merklich und seufzte dann, weshalb Gustel schnell hinzufügte: »Am zweiten Januar kommen sie wieder.«
»Und dann gehen Sie gleich hin und horchen für mich – und bringen mir Bescheid.«
Herminens bewegte Stimme machte Gustel Mut, sie legte Mausis Puppe beiseite, sah Herminen bittend an und sagte: »Heute ist Weihnachten, wenn Sie ganz schnell Urlaub nähmen und nach Hause führen und alles selber sähen –«
Hermine stand heftig auf: »Nein – nein – wenn ich in einem – in einem einzigen Gesicht Befremden läse über mein Kommen – ich ertrüg's nicht.«
»Oder Sie schreiben: Ich sehne mich –«
Heftiges Kopfschütteln.
»Oder Sie reden mit Adelheid –«
Stärkeres Kopfschütteln noch. »Nein – o nein. Der einzige von allen Geschwistern, der wirklich ein Herz für mich hatte, dem ich stets und allezeit vertrauen könnte, ist Joseph – aber Joseph ist in Indien und sonst kann mir niemand helfen.«
Sie hatte sich nicht wieder gesetzt, aber sie war auch nicht zornig über die Einmischung; Gustels traurige Augen ließen keinen Zorn aufkommen.
Hermine streckte Gustel die Hand hin, hielt sie mit festem Druck und sagte: »Ich muß nun schon so durchs Leben zu kommen suchen, ich bin ja freiwillig in die Verbannung gegangen und ich werde auch fertig damit. Ich werde. Sie aber kundschaften mir Sorgerts aus. Gleich am dritten! Nicht wahr, Sie gehen?«
»Natürlich: ich gehe!« antwortete Gustel eifrig, als aber Hermine fort war, dachte sie: Wenn man diesen Joseph nur einmal da hätte – beinah möcht' ich auf der »Hoffegut« herumsegeln, um diesem Indier einmal vorzutragen, wie notwendig er in Berlin ist, und daß man Geschwister nicht nur hat, um hie und da einmal an sie zu denken. Ja, das möcht' ich ihm sagen!