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Die Waldweibchen.

Am Abend dieses taufrischen Tages saß im Landgrafen zu Ruhla eine fröhliche Gesellschaft, mit lustigen Augen, gutem Appetit, redefrohen Lippen und nur ein ganz, ganz kleines bißchen müden Beinen.

Nein, übernommen hatte man sich nicht, das war gar nicht die Absicht – wer nachher prahlen wollte: so und so viel Stunden sind wir am Tag marschiert, so und so viel Kilometer haben wir abgelaufen, der mußte sich andre Gesellen aussuchen. Bis zur hohen Sonne war die Gesellschaft glatt hingewandert. Das war ein bekannter Weg, aber er sah doch ganz anders aus, jetzt am frühen Morgen, da der Nebel die Bäume umarmte und die Täler füllte, durchleuchtet von Glanz und Glut der Sonne, die an dem neidischen Vorhang zog und schob, weil sie die lustigen Leute da unten gern sehen wollte, die ein Lied nach dem andern zu ihr hinaufschickten.

Schauerlich kam heute nicht nur Ida die Drachenschlucht vor, in die noch kein Hauch des jungen Lichtes fiel, dafür hallte es aber herrlich wieder, als Professor Schering zwischen den Felsen mit seinem kräftigen Baß anstimmte:

»Im Wald und auf der Heide
Da such' ich meine Freude,
Ich bin ein Jägersmann.«

Lied war auf Lied gefolgt – sie hielten's kaum für möglich, daß sie schon auf der hohen Sonne waren und den Nebel hatten sie richtig weggesungen. Als sie nach der Wartburg hinüberschauten, lag das liebliche Bildchen klar und unverhüllt in seinem Waldrahmen vor ihnen und die Zinnen blinkten in den siegreichen Sonnenstrahlen.

Dann war das Neue gekommen – nach kurzer Rast und dem Einkauf einer Reihe von Eß- und Trinkmitteln war's weiter gegangen, den Rennsteig entlang.

Viel anders sah er nicht aus als jeder selten benützte Waldweg, aber sehr merkwürdig war's doch, diesen Grenzpfad entlang zu gehen, der 180 Kilometer weit auf dem höchsten Rücken des Thüringer Waldes hinführt und schon vor vielen, vielen Jahren ein Pfad gewesen ist, von Menschen urbar gemacht, und vom Gesetz als Grenze geheiligt.

Paul war völlig durchdrungen von dem »historischen Boden«, auf dem man stehe. Als die kleine Gesellschaft sich einen behaglichen Platz zum Frühstücken erkoren hatte und Fräulein Lisbeth mit Hilfe der drei Fischchen auspackte und zurechtstellte, was in der hohen Sonne erhandelt worden war, stieg Paul auf einen Grenzstein und deklamierte mit großer Begeisterung:

»Ein deutscher Bergpfad ist's! Die Städte flieht er
Und klimmt zum Kamm des Waldgebirgs hinauf,
Durch Laubgehölz und Tannendunkel zieht er,
Und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.
Der Rennsteig ist's, die alte Landesscheide,
Die von der Werra bis zur Saale rennt
Und Recht und Sitte, Wildbann und Gejaide
Der Thüringer von dem der Franken trennt;
Du sprichst mit Fug, stehst du auf jenem Raine:
Hie rechts, hie links! Hie Deutschlands Süd und Nord.
Wenn hier der Schnee schmilzt, strömt sein Guß zum Maine,
Was dort zu Tal träuft, rinnt zur Elbe fort.
Doch auch das Leben weiß den Pfad zu finden:
Was Menschen trennt, das muß sie auch verbinden –

»Bravo!« rief Professor Schering, den Pfropfen aus einer Flasche allerleichtesten Mosels ziehend – »so leicht als möglich, damit wir uns nicht wandermüde machen.«

Wanda aber ließ den andern den Rest der Haushaltungsgeschäfte, kam bewundernd zu Paul und sagte: »Wie schön Sie dichten! und so schnell!«

Paul wurde dunkelrot. Nein, so etwas! und er durfte nicht mal grob werden. Eigentlich war's ja schmeichelhaft, daß sie ihm dergleichen zutraute – aber dies Nichtwissen schien ihm doch auch wieder eine gar zu große Beleidigung »seines« Dichters.

Glücklicherweise übernahm Fräulein Lisbeth die Antwort: »Das ist ja Scheffel, Wanda – Scheffel, der uns unsern lieben Thüringer Wald so wunderschön und mannigfaltig besungen hat,« und Paul begann noch einmal, den Strohhut schwenkend:

»Und wer zu hören weiß in frommem Lauschen
Wie, herrlicher als Lied und Kunstgedicht,
In stundenlangem, leisem Wipfelrauschen
Des Waldes Seele mit sich selber spricht:
Der muß, wenn sommerliche Lüfte wehen,
Auf diesem Steig als Wandrer sich ergehen!«

Dann übte er Bescheidenheit und ließ andre zu Worte kommen. Lange saßen sie auf ihrem Ruheplatz, auf den just diese letzten Verse gedichtet schienen. Der Wald sprach in ganz leisem Wipfelrauschen über ihren Häuptern, von Zeit zu Zeit wurde auch ein kluges Wort gesprochen, das einen neuen Blick auftat hinaus ins Leben oder zurück in die Vergangenheit; Ida und Frida zwitscherten wie die Vögel, sammelten wunderbare Steinchen und wunderbare Moose und die drei jungen Mädchen schlüpften bald dahin bald dorthin, fanden hier einen Ausguck ins Tal und dort ein Felsenplätzchen »wie aus dem Zaubermärchen«.

»Einen schönen Gruß und ihr solltet euch ausruhen –« meldete Paul endlich vom Hauptquartier, »aber ihr seid die reinen Waldweibchen – nächstens könnt ihr zaubern. Hat euch der Specht schon seine Künste verraten?«

»Waldweibchen, Waldweibchen!« riefen alle drei und fielen sich um den Hals.

Ja, Waldweibchen wollten sie sein diese acht Tage lang; gar nichts andres wie Wald wollten sie sehen.

Aber sie setzten sich jetzt still auf einen gefällten Stamm, der dalag überwachsen von Halmen und Brombeerranken, als sei hier herrenloser Urwald, und flüsterten zusammen, flüsterten nur, um die geheimnisvollen Stimmen der Natur nicht zu stören, bis zum Aufbruch gerufen wurde.

Dann war's weiter gegangen bald unter dem feinen Laubgeäst hin, bald zwischen wogenden Fluren, hie und da verfolgte man auch einen Seitenweg bis zu einer schönen Aussicht oder zu einer Quelle, die aus dem rasigen Boden quoll, oder zu einer Wiese, an deren Rand zutrauliche Rehe ästen.

Und was für Namen wußte der Professor den verschiedensten Punkten zu geben, ganze Geschichten stiegen nur allein vom Klang dieser Namen vor ihnen auf – da gab's einen Hirschrasen und einen Jungfernstein, einen Regenbach und eine Totenpfütze, ein Himmelreich und eine Mosbacher Hölle; da grünte eine Fuchswiese und dort unten dunkelte das Katztal; und ab und zu hörte man im Grunde ein Plätschern als ob übermütige Wasser zu Tale stürzten. Dann rief Gustel allemal: »Eine Mühle! Ach, wenn ich doch eine Mühle träfe!«

Gustel mußte sich an diesem Abend, da sie im Landgrafen zu Ruhla saßen und schmausten, weidlich necken lassen mit ihrer Mühlenpassion, immer wieder begann Paul, Ida oder Frida mit einem Müllerliedchen:

»Es klappert die Mühle am rauschenden Bach – klipp klapp,
Bei Tag und bei Nacht ist der Müller stets wach – klipp klapp,
Er mahlet das Korn und das Mehl wird zu Brot,
Und haben wir dieses, so gibt's keine Not!
klipp klapp, klapp, klipp klapp, klapp, klipp klapp!«

Dies Klipp Klapp begleiteten die beiden kleinen Mädchen, die stolz vor ihrem eignen Glas »Einfachem« saßen, mit taktmäßigem Aufschlagen der Deckel, und das steckte die ganze »wohlehrsame« andre Gesellschaft an, von Vers zu Vers klappten mehr Deckel im Landgrafengarten, bis die ganze Gästeschar sich an Gesang und Uebermut der Lustwandrer beteiligte.

Sie hätten gern bis tief in die Nacht hinein gesessen, zumal der Mond über die Berge heraufkam, aber Doktor Elwers trieb um halb zehn Uhr zum Schlafengehen: »Morgen gibt's ein größres Tagewerk. Habt ihr das gut bestanden, sollt ihr dem Mond um ein ganz Stück näher sein als heute.«

»Ach! Wie denn? Wo sind wir morgen um diese Zeit?«

»Auf dem Inselsberg!«

»2800 Fuß überm Meeresspiegel,« setzte Paul mit dem Stolz solider Kenntnisse hinzu, und mit Jubelgeschrei rannten die drei Fischchen nach ihrem Schlafzimmer.

Hoch lag's, aber das war gerade köstlich; die beiden kleinen Fenster guckten hinaus über das Tal, in dem freundliche Häuser eingebettet lagen, und drüben in die Bäume hinein, die sich allgemach Nebelstreifen aus dem Grunde herauf zogen, als brauchten sie einen Hochzeitsschleier. Den Nebel umschmeichelte der Mond, so daß er zu Silbergespinst wurde, ihn selber, den Hexenmeister mit der Zauberlaterne, konnten die Mädchen nicht sehen, er stand über dem Hausdach.

Gustel deutete hinaus. Unwillkürlich sagte sie: »Füllest wieder Busch und Tal, still mit Nebelglanz« – dann schwieg sie wieder, und alle drei sahen ins Tal, dachten an das Gedicht und meinten es heute zum erstenmal zu hören –

»Was von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt bei der Nacht.«

Gustel ging ein Schauer über die Glieder – schnell schloß sie das Fenster.

»Wir sollten ja schlafen gehen! Wir wollen ganz artig sein und schweigsam. Gute Nacht.«

Aber sie lag noch lange wach und folgte dem flimmernden Licht, das, langsam emporsteigend, mehr und mehr den Zauberwald draußen vor den Fenstern erhellte.

Dann aber war mit einemmal alles verschwunden, dunkel und still war's um die Mondscheinschwärmerin her – ganz still. Nein, doch nicht! Sie hörte doch etwas, ganz gewiß etwas – ein Wispern und Bispern – ein Tuscheln und Huscheln – ach – richtig! Waldweiblein! Das waren die Waldweiblein – und jetzt sah sie auch welche – dort unter der Kaiserfarre, die schlankstämmig emporwuchs wie eine kleine Palme und oben die schönen Wedel breitete, dort kauerten sie. Graue Mäntelchen trugen sie, deren oberes Ende über den Kopf gezogen war, so daß nur die Augen hervorblitzten.

Rhsch – rhsch, – bsss – bsss – das klang beinah wie Wanda – bsbsbsbs – und so hätte Lydia gelispelt, wenn sie ein Waldweibchen gewesen wäre – das waren ja auch Lydias helle Augen, dort unter dem Wedel – und jene andern konnte man ja gar nicht verkennen: die großen, dunklen Sterne Wanda-Schönchens! – und jetzt kamen die beiden Waldweibchen hervor – ganz nahe, ganz dicht – und das Weibchen mit Lydias hellen Augen sagte: »Nein so eine Schlafmütze!«

Da wachte Gustel auf und sah die Gesichter ihrer jungen Gefährtinnen lachend über sich geneigt.

»Tag? wirklich schon Tag? Wo ist denn der Mond? Ich hab' ihn doch eben erst dort über dem Berge gesehen –«

Aber es half nichts, Gustel mußte es glauben: der Tag war da, ein heller, schöner, morgenfrischer Tag.

Gustel war ganz ausgeschlafen; sobald sie aus dem Bett gesprungen war, Kopf und Arm in die Waschschüssel gesteckt hatte, merkte sie das. »Nett von euch, daß ihr mich geweckt habt,« rief sie anerkennend, während sie die Haare kämmte; jetzt noch alle Heftel und Haspen sorgfältig geschlossen, dann das Nacht- und Reisezeug wieder »feldmäßig verpackt« und nun hinab zum Kaffee.

Aha, da polterten schon Ida und Frida an die Türe und Paul rief vorm Fenster: »Waldweibchen, hallo!«

Und als Schönchen, schnell das Fenster öffnend: guten Morgen! hinabrief, da warf er den Hut in die Luft und sang:

»Ach du klarblauer Himmel
Und wie schön bist du heut,
Möcht ans Herz gleich dich drücken,
Voller Jubel und Freud.«

Schönchen zog schnell den Kopf wieder zurück und im Tanzschritt ging es die Treppe hinab ins Frühstückszimmer.

Alle hatten ausgeschlafen und alle waren fix und fertig. Sie tranken den guten Kaffee, behaupteten, so habe er noch nie geschmeckt, packten sich ein ausgiebiges Frühstück ein und wanderten wieder davon, wie gestern »durch Wald und Wonne«. Zunächst folgten sie der Landstraße; »aber was für einer!« sagte Lydia immer wieder, wenn der abenteuerlustige Paul die Nase über den allzu bequemen Weg rümpfte.

»Denn Ida klein und Frida mein, ohne Abenteuer kommen wir natürlich nicht davon – schon weil Waldweibchen dabei sind – das nimmt der Waldgeist allemal übel, wenn sich seine Weibchen mit uns Menschenkindern abgeben. Horcht! er brummelt schon ganz leise in der Ferne!«

»Aber unsre Waldweibchen sind doch Wanda, Lydia und Gustel, die gehen den Waldgeist doch gar nichts an!« sagte Frida sehr energisch, die ängstliche Ida, die mit weitoffnen Augen in die grüne Tiefe hinein sah, an sich ziehend.

»Wanda, Lydia und Gustel? behüte, sehen nur so aus. Die drei faulen Dinger liegen noch fest in Ruhe und schlafen ihren Mondscheinrausch aus – vielleicht können wir sie auf dem Rückweg munter kriegen und wieder mitnehmen. Seht ihr nicht, wie anders den dreien die Augen blinken als sonst? – Nein, nein, mir ist die Sache nicht geheuer – verlaufen werden wir uns unbedingt; vielleicht müssen wir dann nachts auf dem Moos schlafen, mit Käfern, Spinnen und Raupen als Bettgenossen, und wenn Mamas letzte Schokolade vertilgt ist, werden wir sehr hungrig – und wenn wir dann nicht mehr weiter können vor Hunger und Kummer, kriechen wir in einen hohlen Baum und bitten den Waldgeist, er solle nur um alles in der Welt die neckischen Weibchen wieder nach Hause holen; sie hätten uns Irrwurz in den Schuh getan.«

»Er neckt ja bloß,« flüsterte Frida, aber ein wenig von dem Märchenschauergefühl, das Ida Hasenherz gepackt hielt, lief ihr doch auch über den Rücken. Denn eben jetzt hatten sie den Rennsteig wieder erreicht und sie konnte sich nicht helfen, das Wort klang ihr altertümlich-unheimlich.

Ja, als sie auf dem Dreiherrenstein Rast machten, um sich auch mal wieder zu sättigen, zogen sie ganz heimlich ihre Schuhe aus.

»Sind euch Steine in die Schuhe gekommen?« fragte Fräulein Lisbeth mitleidig. Die Schwestern wurden rot und antworteten nicht. Daß sie nach dem Irrkraut suchten, brauchte niemand zu wissen.

Die andern hegten keinerlei Sorgen. Es war heute wieder ebenso herrlich wie gestern, und jetzt wurde hier für ein paar Stunden Quartier gemacht. Das junge Volk durfte schweifen und Paul konnte wieder einmal nach Herzenslust seinen Scheffel vortragen.

Er trat an den Grenzstein, der die Jahreszahl 1783 trug und rief: » Ein Deutschland nährt den Thüring, Hassen, Franken, und echter Liebe setzt kein Markstein Schranken.«

»Was für Leute sind Hassen?« fragte er gleich darauf, die beiden Kleinen an den Blusenknöpfen fassend.

»Leute, die gehaßt werden,« antwortete Frida flink und mußte sich für die prompte Antwort von allen Ecken her auslachen lassen.

»Dummhut: Hessen sind es – blinde Hessen – das Land dort hinaus, was jetzt preußisch ist, gehörte ehmals zu Kurhessen – nun weißt du's!«

»Großartig,« rief Schönchen – »nein, was man auf der Reise alles lernt!« Und Paul antwortete sehr ernst: »Waldweibchen, Waldweibchen, spottet nicht. Sowie ihr den Waldgeist zum Lachen bringt, fängt das Unheil an.«

Die Waldweibchen lachten ein Terzett. Ida und Frida aber aßen, unter scheuen Blicken nach rechts und links, so viel sie nur irgend vertilgen konnten – Vorrat auf die Hungersnot – und als die spärlichen Reste wieder zusammengepackt wurden, da sagte Ida sorgenvoll zu Gustel: »Werden wir gleich ganz verhungern, wenn das da zu Ende ist?«

Die Doppelantwort: »Unbedingt!« und »Behüte!« kam gleichzeitig von den Geschwistern. Gustel aber setzte ihrem »Behüte« noch hinzu: »Es gibt ja Erdbeeren und Heidelbeeren – wir wollen gleich welche suchen – der Schlag dort sieht vielverheißend aus.«

Jubelnd zogen sie hinüber, wo Weidenröschen und Farnkraut zwischen jungem Tannenvolk blühte: drei Waldweibchen, zwei Kinder und Ritter Paul. Richtig, da gab's Erdbeeren! nicht in solch wunderbarer Menge, wie Ida und Frida sich das gedacht hatten; suchen mußte man schon, aber was man dann fand, schmeckte besonders gut: groß, rot und reif und wirklicher Waldgeschmack.

Plötzlich rief Frida im Tone tiefster Kränkung: »Da pflücken schon welche!« Gustel war zuerst zur Stelle und sah sich neugierig die ersten Menschen an, die ihnen auf dieser Waldeshöhe begegneten.

Drei waren's, sehr kleine Menschen; zwei Mädchen, noch nicht so groß wie Ida und Frida, und ein Bübchen dabei, das kaum sechsjährig sein konnte.

»Wo ist denn eure Mama?« fragte Schönchen.

»Derheeme.«

»Ach Fräulein Bodmer, Sie hätten nach der Bonne fragen müssen!«

Die Kinder standen jetzt alle drei vor den Fremden und glotzten sie mit großen Augen an – auf einmal begann der Junge zu heulen – er sah Ida, beide Händchen voll roter Beeren, die sie vergnügt, eine nach der andern aufzehrte.

Erschrocken faßte Gustel ihn an der Schulter, schob ihre Rechte unter sein Kinn und fragte: »Jungchen, hast du dir weh getan?«

»Nee, nee, nee! abber die pflückt unsre Irdbieren wack.«

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Erschrocken faßte ihn Gustel an der Schulter und fragte: »Jungchen, hast du dir weh gethan?«

»Unsre Irdbieren? Na nu!«

Paul wollte eben einen Vortrag über den »freien Wald« halten, als Gustel, auf des größeren Mädchens gefüllten Topf zeigend, sagte: »Ihr habt schon sehr viel!«

Das Kind hielt seinen Topf sorgsam mit beiden Händen fest, während es, ein wenig ängstlich, antwortete: »Ja, abber Mutter braucht's Geld – un vull is er noch lange nich;« dabei kamen auch ihr Tropfen in die Augen.

Gustel sah sich die Kinder jetzt genauer an – vorhin waren sie ihr nur wie eine hübsche Staffage in dem lieben Waldbild gewesen, nun fiel ihr ein, daß dies Menschenkinder seien, mit eben solch beweglichen Herzen und eben solcher Fähigkeit, sich zu freuen und zu betrüben, wie sie selber.

Nun bemerkte sie, daß ihre Kleider arg geflickt waren, und die Bekleidung überhaupt sehr spärlich: ein Hemd und ein Röckchen – ein Hemd und ein Paar Höschen – alles wohl gewaschen – aber weiter ließ sich zum Lob dieser Kleider nichts herausfinden.

»Ihr seid wohl arm?« fragte sie verlegen. Jetzt glotzten die drei wieder, endlich sagte die Große: »Mutter is uf Arbt, un mir hulen Irdbieren un in Liemstein, da zahlens de Kurfremden.«

»Bis nach Liebenstein wollt ihr?« Die staunende Bewunderung Pauls, des einzigen Geographen der jungen Gesellschaft, wurde unterbrochen durch einen neuen Jammerruf des kleinen Mannes: »Die pfluckt schun wedder!«

»Die« war Ida, die nun ebenfalls weinerlich behauptete: »Es könne niemand von ihr verlangen, daß sie im Walde Hungers stürbe.«

»Still!« rief Gustel, »ich weiß was! daß du hier nicht mehr pflückst, Ida! du Schlemmerin, diese Beeren gehören den drei Kindern! Aber sag mal, du! Große! was kriegst du denn in Liebenstein, für den Topf da?«

»Eine Mark,« berichtete das Mädchen strahlend.

»Piek! Nun will ich dir was sagen. Die Beeren da will ich euch für eine Mark abkaufen, nachher helfen wir euch pflücken, bis ihr alle eure Näpfchen voll habt, und dann verkauft ihr das noch einmal in Liebenstein. Was?«

Zunächst glotzten sie wieder, als aber aus Gustels Feldtäschchen eine Mark herausschlüpfte und in der Großen Händchen marschierte, begriffen sie den Handelsvorschlag und der kleine dicke Junge schlug ein so prächtiges Wonnerad, daß Paul, den Ritter, die Lust ankam, es ihm nachzutun; im Nu stand er auf den Händen: einmal, zweimal, und als er rot und hochatmend wieder die Stellung des »Königs der Geschöpfe« innehatte, sah er in Schönchens Augen, die vor Staunen noch größer waren als sonst.

Bald saß die ganze Gesellschaft um die Erdbeeren, die auf ein Zeitungsblatt geschüttet worden waren, und schmauste; die Waldkinder hatten sich wieder ans Pflücken gemacht und eins ums andre, was vom Schmausen genug hatte, kam in den Schlag und half ihnen. Das fleckte – die drei heißen, roten Kindergesichter wurden immer vergnügter.

Am leidenschaftlichsten pflückte Gustel, und während sie so in dem feinen Waldgras kniete, in dem da und dort Fingerhut und Weidenröschen aufschossen, trat Professor Schering zu ihr und sagte freundlich: »Diese für Näscherei ausgegebene Mark ist gar nicht so übel verwendet.«

Gustel wurde noch röter, sie sah gerade so aus, als habe sie seit dem frühsten Morgen am Herdfeuer gestanden; aber sie sagte nichts, sondern bückte sich nur und pflückte noch eifriger.

Professor Schering wollte eben weiter sprechen, da tauchte ganz nahebei Fräulein Lisbeths Kopf hinter einem dichten Farnkrautbusch auf. »Ach bitte, Herr Professor, kommen Sie doch schnell einmal her zu mir – ich möchte Ihnen etwas erzählen.«

Wie ein Blitz fuhr es Gustel durch die Glieder – sie wußte ganz genau, was Fräulein Lisbeth jetzt erzählen würde – und sah auch an der beiden Gesichtern deutlich, daß sie sich nicht irrte. Zweimal blickte Professor Schering nachdenklich zu ihr herüber, und später, als die drei Kinder mit vollen Töpfen, »dank ooch scheene!« rufend, den Berg hinab gelaufen waren, strich plötzlich eine Hand über Gustels »waldwilden« Scheitel und der Professor sagte: »Du bist ein tapfres Frauenzimmerchen.«

Gustel wäre in diesem Augenblick am liebsten zu Lisbeth gerannt, um ihr wieder einmal um den Hals zu fallen, aber sie hielt ganz still und Professor Schering antwortete der Frage, die schüchtern in den jungen Augen stand: »Widerpart halten, wenn man meint, es geschehe einem unrecht, ist leicht; aber zur rechten Zeit schweigen, ist eine tapfere Kunst.«

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