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Briefwechsel auf Schmuggelwegen.

An einem Februartage war's, an dem der erste Tauwind den Tiergarten von Schnee reinfegte und die schönen Wege, der Stolz jedes eingeborenen und eingewachsenen Berliners, mit Kot und Schlamm aufwarteten.

» Omnia mea mecum porto – mein Rittergut trag' ich mit mir herum,« sang Paul, auf das Erdreich an seinen Schuhen deutend, als er aus der Schule kam, worauf ihm sofort sämtliche Wohnräume gesperrt wurden und Gustel ihm huldvoll den Stiefelknecht in die Küche trug. Da Ida und Frida je mit einem seiner ledernen Halbschuhe gleich darauf antraten, fand er sich »trefflich bedient, wie Kaspar in der Wolfsschlucht« und machte zum Dank eine so wundervoll übertriebene Schilderung des Tauwetters draußen, daß Mausi, ihn zärtlich am Kinn streichelnd, immer wieder sagte: »Armer Paulemann, bis du tans tot?«

Noch hatte Paul seine Lebendigkeit nicht durch den gewöhnlichen »Drescherappetit« beweisen können, als eine Droschke am Hause hielt und dieser Droschke Frau Kapellmeister Sorgert und der kleine Mozart entstiegen.

Als es gleich darauf vorn am »Aufgang für Herrschaften« klingelte, stürmte die ganze Kinderschar des Hauses Elwers zum Oeffnen. Nur Gustel blieb im Eßzimmer, aber in der offenen Tür, von der aus man gleich sehen konnte, wer da draußen stehe. Als sie gesehen hatte, wer da kam, flog auch sie den Kommenden entgegen, hob Wolfgang im Begrüßungsjubel hoch in die Luft, was ein Jauchzen zur Folge hatte, und half dann der Frau Kapellmeister aus ihren Hüllen.

Diese ließ sich lachend Gustels Dienste gefallen, auch als ihr gesagt wurde, jetzt müsse sie mitessen, was es auch gäbe, sie sei gefangen, lächelte sie vergnügt.

»Reden Sie mir nicht so eifrig zu. Ich wehre mich ja gar nicht: ich bin Strohwitwe, mein Mann ist gestern zu einem Musikfest nach Bremen gefahren; kaum aber war er fort, so erhielt ich diesen Brief, der uns allen wichtig ist. Zunächst dachte ich als brave Frau, du wartest, bis dein Mann zurück ist, er soll nicht um diese Freude kommen, aber da bringt mir heute die Post diesen zweiten, und nun ließ mir's keine Ruh mehr: ich mußte in die Margaretenstraße. Der eine ist aus Indien, der andre aus Göhren.«

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Der Brief aus Indien begann die Reihe.

In diesem Augenblick kam Papa, schloß mit dem Drücker die Tür auf und rief, ohne Frau Sorgert zu sehen: »Hier krieg' ich eben einen Brief aus Göhren! Hallo!«

»Auch! Papa hat auch einen Brief aus Göhren!«

Zu der Köchin Verzweiflung wurde nun eine Viertelstunde mit Briefelesen »vertrödelt«, ihr Essen konnte sehen, wie es schmackhaft blieb.

Der Brief aus Indien begann die Reihe. Herr Joseph Gesterding teilte seiner Schwester mit, daß der Segler »Hoffegut« nach halbjähriger Fahrt ohne Fährlichkeit in Bombay angekommen sei. Den jungen Beckers hatte er gesund und guter Dinge vorgefunden; wirklich hatte sich der Bursche nur bis Bombay verheuert und wollte nun den indischen Archipel nach seinem verschollenen Vater absuchen. Herr Gesterding versprach dem Jungen, der gar keinen Begriff von der Abenteuerlichkeit seines Planes hatte, soviel ihm möglich sei, zu helfen. Die ausführliche Nachricht, die man ihm damals von Göhren aus über den Untergang der »Hoffnung« geschrieben habe, sei dafür sehr wertvoll – so gelinge es vielleicht, dem Jürgen die Ueberzeugung beizubringen, daß sein Vater nicht irgendwo in schmählicher Gefangenschaft schmachte.

Dasselbe, nur etwas anders in Ton und Sprechweise, hatte Herr Gesterding auch der Mutter Beckers geschrieben. Vor allem versprach er der Frau, soviel er könne, auf ihren Sohn zu achten und es ihm an guten Empfehlungen und andern Hilfsmitteln nicht fehlen zu lassen.

Diesen Brief hatte Frau Beckers heute an Sorgerts geschickt mit innigen Dankesworten, die, so kurz und unbeholfen sie waren, der Lesenden doch Tränen in die Augen trieben.

Der Brief an Herrn Elwers aus Göhren handelte von demselben Fall, war vom alten Jens Sture geschrieben, erzählte die Geschichte ohne ein Wort zu viel und fügte einen Dank hinzu: »für alle, die dabei geholfen hatten.«

Als man dann endlich am Tisch saß, wurde beschlossen, Frau Beckers gleich nachher ihren Brief zurückzuschicken, denn gewiß werde sie sich den nun jeden Abend zum Troste vorlesen – und gleichzeitig ein paar Dankesworte an Herrn Gesterding zu richten, der sich seines Landsmannes in der Fremde so gütig annahm.

In demselben Augenblick, da dies ausgesprochen wurde, sah Gustel plötzlich Herminen vor sich, wie sie am Weihnachtstag ihr gegenüber gesessen hatte, und dies Bild wich nicht mehr von ihr. Was auch geredet wurde, es stand vor ihren Augen, – was Gustel auch dachte, es drängte sich dazwischen. Ganz deutlich sah sie Herminens unglückliches Gesicht, ganz deutlich hörte sie ihre schmerzvolle Stimme sagen: »Joseph allein hat ein Herz für mich.«

Wenn du diesem Joseph das schriebst? –

Schreib das diesem Joseph! –

Du mußt das diesem Joseph schreiben! –

So gingen und steigerten sich Gustels Gedanken. Ob andre Erwägungen dazwischen redeten: du kannst doch dem fremden Menschen nichts schreiben – es war ganz einerlei. – Natürlich schreibt man einem fremden Menschen, wenn man einem Unglücklichen dadurch helfen kann, antwortete in Gustels Vorstellung Herminens bekümmerte Stimme.

Wenn nun aus deiner Voreiligkeit ein Unglück entsteht? frug sie sich.

Behüte; mit Herrn Mehlmann war das so wundervoll ausgegangen – also würde dies auch! Nur Mut mußte man haben.

Gustel seufzte; ganz zutreffend schien ihr der Vergleich mit Mehlmann doch nicht, aber als sie nachher in die Küche ging, um den Nachmittagskaffee für die Erwachsenen zu bereiten, schlüpfte sie zwischendurch in ihr Stübchen und schrieb mit klammen Fingern an Joseph Gesterding – sie konnte sich nachher noch zehnmal überlegen, ob sie das Geschriebene abschicken wolle.

»Geehrter Herr,« schrieb sie, und hätte nun die Feder lange auf dem Löschblatt »nachdenkliche Püppchen« malen lassen, wenn sie nur Zeit gehabt hätte. So aber mußte es mit Dampf gehen, und das ließ Bedenken gar nicht zu Worte kommen.

»Sie haben Jürgen Beckers so schön geholfen, und Ihre Schwester Hermine sagt auch, Sie wären der Beste, aber schreiben könne sie es Ihnen nicht. Drum wär's gut, Sie kämen einmal wieder, damit Hermine ihr Herz ausschütten könnte. – Denn sie möchte nach Haus, aber es wolle sie da keines, und käme sie von selbst, dann hieße es natürlich: sie habe es satt, anstatt daß mal einer schriebe: wir sehnen uns nach dir, weil wir dich lieb haben.

»Ich habe ihr schon sehr viel zugeredet, aber sie glaubt mir nicht; ich bin auch noch zu jung, und zu Frau Adelheid hat sie kein Vertrauen. Nur zu Ihnen, sagt sie jedesmal. – Deshalb schreib' ich Ihnen das ganz heimlich, damit es keiner weiß, und damit Sie ihr helfen, denn sie ist sehr traurig und Myrrha Kalkoff ist gar nicht gut zu ihr. – Wir sind Nachbarn. Aber jetzt muß ich Kaffee kochen; sie warten drin. Nicht wahr, Sie helfen ihr bald?

Gustel Elwers

 

Diesen Brief konnte Gustel nicht noch einmal überlesen, Paul rief nach ihr, sie trocknete ihn hastig, faltete ihn und schob ihn in die Tasche. Da stand der Primaner auch schon auf der Schwelle.

»Schwesterlein fein,« sagte er, »heute bitte ich mir eine Tasse erwachsenen Kaffee aus –! Ich komponier' drinnen mit an dem indischen Brief.«

»Seid ihr schon so weit? Natürlich, natürlich! Gleich bin ich drinn mit dem erwachsenen Kaffee für dich, du Deutschverböserer.«

Sie eilte in die Küche, wo der Kaffee eine ganz kleine Kleinigkeit – »ein Linschen«, hätte Vater Krafft gesagt, – zu lange gezogen hatte und beendete ihr Haushaltungsgeschäft mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit. Ob die Gedanken nach Indien oder Göhren oder hinüber in die Villa Kalkoff schweifen wollten, einerlei – festgehalten wurden sie, und als der Kaffee endlich in das Wohnzimmer kam, ward er von tadelloser Art befunden.

Hier war man so weit, daß man Gustel den Dankbrief an Joseph Gesterding vorlesen konnte. Alle hatten ein paar Zeilen geschrieben, alle sich unterschrieben, sogar Mausi und Mozart hatten ihre Krikelkrakel hingemalt; Gustel mußte nun zuletzt ihren Namen auf das Blatt setzen.

»Und jetzt darf ich die Adresse schreiben, nicht wahr? Weil ihr andern alle an dem Brief geholfen habt und ich nicht.« Etwas stockend, mit hochroten Backen, von wegen ihrer Hintergedanken, brachte Gustel diese Bitte vor, die anstandslos gewährt wurde. Sie setzte sich an den Familienschreibtisch, Frau Adelheid diktierte die Adresse und eigentlich wollte Gustel nichts, als diese Adresse recht fest im Gedächtnis behalten. Aber es war gar zu leicht für die geschickten Fingerchen, den heimlichen Zettel mit dem Dankbrief zusammen in den Umschlag zu schieben – er rutschte eigentlich ganz von selbst hinein. Als der Brief geschlossen war, klopfte Gustel das Herz bis zum Halse hinauf. Sehr ernstlich mußte sie sich sagen: Es ist doch ein gutes Werk, Gustel! Behaglich war ihr nicht zu Mute, nach diesem guten Werk. Wenn es nicht glückte? Wenn Joseph Herminen zürnte, weil sie einer Fremden anvertraute, was den Geschwistern gehört hätte, wenn sie nicht eindringlich genug gebeten hatte – viel wärmer hätte sie schreiben müssen!

Ihr fiel auf einmal tausenderlei ein, was sie nicht hätte vergessen dürfen, wenn sie's nun doch einmal unternahm. Aber das alles kam zu spät, Paul sprang mit dem Brief schon die Treppen hinunter – das Schneeklümpchen war abgerollt, – ob eine Lawine daraus werden würde, ob es ohne Folgen in der Luft zerstob, oder ob man's zum Schutz für ein frierendes Saatfeld brauchen konnte, das mußte nun in Geduld abgewartet werden.

Gut, daß man unbehagliche Gedanken nicht allzeit im Kopfe haben kann, gut, daß das Leben jeden Tag seine bestimmte Arbeit und Freude, jede Stunde ihren besonderen Befehl bringt – nach einer Reihe von bunten, arbeitsvollen, unruhigen Tagen fing Gustel an, ihren Brief zu vergessen. Erst gab's ihr noch allemal einen Stich ins Herz, wenn sie Herminen sah, jetzt dachte sie nicht einmal mehr in ihrer Gegenwart an den indischen Bruder. Anfangs erschrak sie jedesmal, wenn Frau Sorgert ihren Weg kreuzte. Das schlechte Gewissen sprach: Er hat geschrieben und deinen Zettel erwähnt!

Als aber sogar eine Antwort auf den gemeinsamen Brief eintraf, ohne daß von dem Zettel irgendwie darin die Rede war, begab sich der Gedanke an Indien zur Ruhe: ohne irgendwelche Angst und Sorge genoß sie das Frühjahr, das mit wahrhaft italienischer Glut und Eile über Berlin hereinbrach.

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