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»Dem Glücklichen schlägt keine Stunde!« sagt ein altes Sprichwort und es mag viele Wahrheit in ihm enthalten sein. Niemals scheint die Zeit rascher, niemals die Stunden flüchtiger, als wenn wir im Schoße des Glückes schönen Träumen nachhängen, wenn nichts uns ängstigt oder belästigt. Ach, daß wir solche Stunden nicht zu hemmen, nicht fest zu halten vermögen. – Aber noch ein andermal eilet die Zeit unaufhaltsam über die Maßen schnelle dahin, das ist dann, wenn man ein geliebtes Wesen zu verlieren fürchtet, wenn dieses Leben der Vernichtung anheim zu fallen droht; wenn jeder Tag einen Teil der Kraft fortnimmt, Fieber und Krankheit es verzehren, und keine Macht, keine Sorgfalt das Übel aufzuhalten vermag, das unerbittlich näher und näher rückt.
Das junge Herz, das noch nicht viel gelitten, und verloren hat, klammert sich alsdann kühnen Mutes an die Wundermacht der göttlichen Liebe. »Gott ist barmherzig, Er kann das nicht geschehen lassen!« Diese Überzeugung steht unerschütterlich fest in ihm; unerschrocken hofft es weiter, zürnend fast weist es die Warnerstimmen von sich, die das Unheil als bevorstehend prophezeihen, und vermeidet lieber, sie nochmals zu befragen, als das zu hören, was es fürchtet; es kann und will's einmal nicht glauben, was es binnen kurzem dennoch hören muß, weil es noch an das Erbarmen des Geschickes glaubt, und die göttliche Güte nach seinem Verständnisse nur in der Gewährung seiner Wünsche, nicht im Versagen derselben besteht. – So dachte Rita über Seraphine. Sie konnte sich's nicht vorstellen, daß ein Tag kommen würde, an dem sie ihre geliebte Freundin nicht mehr sehen dürfte, an dem sie ihr verloren, ihren Küssen und Umarmungen entzogen sein würde für immer.
Wenn dann nur ein heiteres Lächeln die leidenden Züge wieder erhellte, wenn nur ein Hauch von Röte die Blässe der Wangen deckte – hoffte sie sogleich auf Besserung und Genesung.
Gräfin Mechtild litt still und klagelos, doch bemerkte Rita wohl, wie sie oft unter dem Kreuze zusammenzubrechen drohte. Kathrine kannte ebenso gut, wie ihre Gebieterin die große Gefahr, die gleich einer drohenden Gewitterwolke näher und näher heranzog, Rita allein sah sie nicht, d. h. sie wollte sie nicht sehen und wartete unverdrossen auf baldigen Sonnenschein.
Und wirklich kam er auch immer wieder. Zuweilen gab es Pausen von mehreren Wochen, die die ganze Familie irre führten, und die Hoffnung neu belebten. – Seit Weihnachten und dem damit verbundenen frohen Feste war das Befinden Seraphinens einem steten Wechsel unterworfen, gleichwohl setzte sie ihre Studien fort, so gut sie es vermochte, und pflog zuweilen Umgang mit diesem und jenem Kinde, das ihr noch von der Christbescherung her in lieber Erinnerung stand, und gar gerne folgten diese ihrer Einladung nach dem Schlosse.
Ihr besonderer Liebling war das kleine Lischen geworden, das Kind hatte ein kluges Köpfchen und feines Verständnis für alle Dinge, die es kennen lernte, sein Gemüt war sanft und weich; man erkannte schon nach kurzem Umgange mit ihr, daß sie ein wohlgepflegtes Pflänzchen sei, daß eine liebende Hand sorgsam alle gefährlichen Triebe beschnitt, alle guten Keime entwickelte, und für Leib und Seele des Kindes bedacht war. Bertha war wirklich eine vorzügliche Erzieherin, fand aber auch in der kleinen Schwester die besten Anlagen vereint, so daß ihr ihre Aufgabe leicht gemacht wurde.
Lischen verstand es, nett und kindlich zu plaudern, und vertrieb sich Seraphine manche einsame Stunde mit der Kleinen.
Endlich war der kalte Winter seiner Herrschaft müde, und überließ es dem jungen Brüderlein Lenz, seine Stelle zu vertreten. Mit Hilfe der Stürme brach dieser die eisigen Fesseln der Bäche und Flüsse, küßte mit sonnigem Hauche die Bäume, so daß sie fröhlich zu sprossen begannen, und befahl seinen kleinen Elfen die Wiesenteppiche zu weben, die Blüten aufzuhängen, die Singvöglein herüber zu holen aus fernen Landen. So konnte man sich wieder hinauswagen in's Freie, und auch Seraphine begann mit Rita an sonnigen Tagen ihre kleinen Streifzüge durch Park und Garten.
Schon wiederholte Male hatte Rita ihrer lieben Freundin von den militärischen Übungen erzählt, die ihr Großvater Sonntags mit den Dorfjungen ausführte, und in Seraphine stets eine aufmerksame Zuhörerin gefunden. »Ist es aber nicht eine recht große Plage für den guten, alten Herrn?« frug diese, »und macht es ihn nicht müde, mit so lebhaften, jungen Knaben zu exerzieren?«
»O nein, im Gegenteile finde ich, daß sich der Großvater von einer Woche zur andern darauf freut.«
»Er ist eben ein alter Soldat und trägt diese Lust an militärischen Gepflogenheiten und auch den strammen Geist in sich, wie eine zweite Natur,« bemerkte Gräfin Mechtild.
»Ja, das ist wirklich so,« erwiderte Rita, »er verjüngt sich ordentlich dabei; wenn die Buben bei ihm sind, ist's, als ob ein ganz anderer Geist in ihn gefahren wäre, so frisch und lebendig giebt er ihnen das Kommando und belehrt sie und übt sie mit sichtlichem Vergnügen.«
»Damit geschieht übrigens auch den Knaben eine Wohlthat für's spätere Leben,« sagte Seraphinen's Mutter, »wenn einmal einer aus ihnen Soldat werden muß, so hat er schon in seiner Kindheit und Jugend eine prächtige Vorbildung genossen.«
»Ich finde den strengen und pünktlichen Gehorsam der Soldaten so wunderschön,« versetzte Seraphine und Rita rief mit Begeisterung: »Ja, wenn ich ein Knabe wäre, ich würde am allerliebsten auch ein Soldat werden; früher hätte ich's nicht gemocht, nun aber weiß ich vieles vom Großvater, und je mehr ich darüber denke, desto schöner finde ich das Leben eines Soldaten.«
»Glaub's wohl, daß solches Leben in mancher Hinsicht unserm jungen Wildfang hier am besten behagte,« lächelte die Gräfin, »ob aber all' die strengen Pflichten, die dieser Stand mit sich bringt, immer so leicht auszuführen wären?« –
»Und erst ein Krieg!« sprach Seraphine, und in ihrem klugen Gesichtchen drückte sich Angst und Entsetzen aus, als ob sie schon unter dem bloßen Gedanken daran leiden müßte.
»Ach ja, vom Kriege hab' ich sattsam genug,« gestand Rita zu, »wenn der Großvater zu erzählen beginnt, was er da gelitten und erduldet, entbehrt und ertragen hat – man möchte es nicht für möglich halten, daß man so etwas durchmachen kann, freilich hat er auch seine schöne, erhebende Erinnerung daran, seine Soldatenehre nämlich, die er so rein und hoch gehalten, die ihn über all' das Schwere hinüber geholfen, und ihm auch die goldene Tapferkeitsmedaille eingetragen hat! Das ist doch wohl auch etwas recht Schönes, nicht wahr?«
»O gewiß, die Ehre des Mannes geht über alles!« beteuerte die Gräfin; »ein reines Gewissen, eine unbefleckte Ehre ist das höchste Gut des Mannes.«
»Wie leid müßte mir der Großvater thun, wenn er sich nicht so schön geführt hätte – nicht wahr, gnädige Frau, ein Flecken auf der Ehre, sagt der Großvater, ist ein häßliches Geschwür, vor dem sich jedermann ekelt.« –
Die Gräfin war bleich geworden – sie kämpfte sichtlich, ehe sie antwortete: »Ja, mein Kind, recht thun ist unter allen Umständen das beste und auch das einzige, was uns Glück und Segen verbürgt.«
»Ich möchte keinen Flecken auf meinem Gewissen haben,« sprach Seraphine mit sanftem Ernste, »und wär' ich noch so reich, und dürfte ich die halbe Welt mein Eigen nennen, lieber arm und verlassen, nur nicht ehrlos sein!«
Kathrinens Erscheinen machte dem Gespräche, das plötzlich eine so ernste Wendung genommen hatte, ein Ende, indem sie für die beiden jungen Mädchen Erfrischungen brachte, bat sie ihre Dame, in einer kleinen Angelegenheit zu ihr in's Nebenzimmer zu kommen.
Wer Rita noch vor Monaten gesehen hatte, und sie jetzt beobachtete, wie sie so aufmerksam gegenüber der neuen, jungen Freundin war, wie sie sich bemühte, anständig zu sprechen, und sich schicklich zu betragen – und wie ihr verständiges Auge oft so zärtlich und ausdrucksvoll auf Seraphinens hinfälliger Gestalt ruhte – der hätte sie kaum wieder erkannt. –
Die guten Lehren und Ermahnungen, die sie jetzt täglich vernahm, noch mehr das Beispiel des liebenswürdigen Kindes, das unter so vornehmen Verhältnissen geboren, doch so einfach natürlich mit ihr verkehrte und nicht entfernt stolz oder hochmütig war, hatte diese Wandlung bewirkt, sie hatte sich aber auch merkwürdig rasch vollzogen und hätte man glauben mögen, Rita habe sich von jeher in der Gesellschaft bewegt, so gar nicht linkisch und unbeholfen, so ganz frei und ungezwungen, doch aber auch ohne Keckheit und Anmaßung fand sie sich zurecht und bedurfte nur selten einer Ermahnung, die aber Gräfin Mechtild alsdann so freundlich und mütterlich zu erteilen wußte, daß sie nicht verletzen konnte, und Rita sich stets nur dankbar dafür bezeigte.
Klugen Sinnes suchte sie alles, was sie von Seraphine sah und hörte, nachzumachen, und dachte jetzt mit Beschämung jenes Abends, da die gräfliche Familie hier ankam und sie sich über das schwache, kränkliche Mädchen lustig gemacht hatte.
O wie so hoch stand dieses schwache Kind über ihr! An Wissen und Tugend, und wie gütig war es zu ihr gewesen und hatte sie an sich gezogen voll sanfter Liebe, und aus der bösen, wilden Dorfhexe ein brauchbares Mädchen gemacht! Damit ist aber keineswegs gesagt, daß Rita ihren Humor eingebüßt, oder jetzt mit einem Male ernst geworden wäre, o nein, der Schelm saß ihr noch immer im Nacken, und blitzte aus ihren Augen und zuckte um ihre Mundwinkel, und wenn er losbrach und sich irgendwie Luft machte, dann hielt sich selbst die sanfte Seraphine die Seiten vor Lachen, und bat das eine über das andere Mal: »Hör' auf, Ritchen, ich kann ja nimmer vor Lachen, hör' endlich auf, du mutwilliges, kleines Ding!« Diese Ausbrüche froher, harmloser Heiterkeit liebte aber die Gräfin sowohl, als sogar der Arzt für die junge Patientin ganz ausnehmend, »denn,« meinte der erfahrene Herr, »Frohsinn ist eine bessere Arznei, als alle Mixturen der Welt.« –
Und schon aus dieser Ursache war Rita ein gar gern gesehener Gast im Schlosse.
An der Gräfin hing sie mit maßloser Verehrung. Sie war glücklich, wenn sie nur ihr Kleid berühren, ihre Hand küssen durfte, und sagte oft mit thränenvoller Stimme zu Seraphine: »O wie glücklich wäre ich, wenn ich eine Mutter hätte, wie du liebe Seraphine, ich denke mir immer, meine Mutter sei der deinigen ähnlich gewesen, oft auch meine ich ihre liebe Stimme zu hören und die Küsse zu verspüren, die sie mir gab, wenn ich ihr auf dem Schoße saß und meine Zuneigung bekundete.«
»Du hast aber eine gute, alte Großmutter, Rita!« tröstete Seraphine.
»Ja, ja, und ich habe sie auch recht lieb, aber weißt du – eine Mutter ist halt doch dem Kinde noch mehr wert, als die Großeltern – und ich sehne mich oft recht sehr nach der lieben toten Mutter, und möchte heimgehen zu ihr, und bei ihr bleiben im Himmel. –«
Seraphine legte sich in ihren Stuhl zurück und schloß die Augen, wie sie es so gerne that, wenn sie über etwas nachdachte: »Du möchtest gerne zu deiner Mutter kommen, weil du sie lieb hast und dich nach ihr sehnst –« sprach sie, »ich aber« – ihre Stimme war beinahe unsicher geworden, und die schönen ernsten Augen füllten sich mit Thränen – »ich aber bange vor der Trennung, weil ich meine liebe Mutter werde bald verlassen müssen, und sie nimmer sehen kann in dieser Welt.« –
»Um Gotteswillen!« rief Rita erschrocken aus, »was sagst du da? So etwas darfst du nicht denken, viel weniger sagen, du bist ja jetzt gesünder, als noch im vorletzten Jahre, sagt Kathrine, und wenn sich deine Gesundheit erst einmal zu kräftigen angefangen hat, dann wird sie fort und fort erstarken und immer besser werden.«
»Wäre es dir leid, wenn ich stürbe?« frug Seraphine im Tone wehmütiger Trauer.
»Wie kannst du so fragen, du, der ich so vieles danke, die mich zu einem besseren Wesen gemacht hat, an deren Beispiel ich mich täglich spiegeln kann! Wie viel hast du mir schon Gutes erwiesen Seraphine! Sieh, mein Herz hängt so fest an dir, daß ich es nicht ertragen könnte, dich zu verlieren.« –
»Und doch müßtest du's ertragen lernen liebe Rita, wenn Gott es wollte. Gottes Wille über alles; er weiß immer, was uns zum besten dient. Du hast mir das Leben gerettet, als ich bedroht war durch die Unvorsichtigkeit meines Vetters, damals war ich wohl noch nicht reif für den Himmel? Wann werde ich's sein?«
»O ich hoffe und bete, daß du es noch recht lange nicht sein wirst, meine Liebste! Wenn ich dir jetzt all' meinen Mutwillen und all' meine Unarten schenken könnte, gerne thät ich's, denn ich wüßte dich lieber, so wie ich ehedem gewesen bin, als die böse Dorfhexe verschrieen, als daß du solch' einem Engelein gleichest. Ich hätte dann Angst, du könntest uns davonfliegen. Na, aber jetzt wollen wir von andern Dingen reden, wir werden ja sonst alle beide traurig, und das ist hier verboten. Weißt du, daß mir deine Mutter versprochen hat, sie läßt an deiner Zimmerthüre eine Tafel anbringen, auf der geschrieben stünde: »Traurig sein ist in diesen Räumen verboten.«
»Oh oh,« erwiderte Seraphine bei dieser Bemerkung wehmütig lächelnd, »dann dürfte ja mein armer Papa gar nie mehr zu mir kommen und meine Schwelle betreten, denn ich habe ihn noch niemals lachen gesehen.« –
»Und weshalb denn nicht?«
»Weiß ich's? Mich quält's oft, wenn ich nachts nicht schlafen kann, ich glaube, er hat seitdem er seinen einzigen letzten Sohn, meinen geliebten Bruder Arthur verlor, nicht wieder gelacht.«
»O wie hart das ist! Ich möchte nimmer leben, wenn ich nicht lachen dürfte! Meinst du nicht, er hätte etwa einen geheimen Kummer? Vielleicht macht er sich irgend einen Vorwurf, oder es ist sonst etwas nicht ganz in Ordnung? Ich kann's kaum glauben, daß man so lange wegen eines verstorbenen Kindes trauern könnte? Es thut so wohl, wenn man recht, recht lustig lacht, und ich bedauere deinen Papa von ganzer Seele! Ich lache so gerne!«
»Recht so Kind, lache nur,« sprach in diesem Augenblicke die Gräfin Hohenfeldt, die, von den beiden Mädchen unbemerkt, wieder in's Zimmer getreten war »deine Munterkeit ist in der That ansteckend, Rita, ich habe mich selbst schon bei herzlichem Frohsinne betroffen, den du veranlaßt hast.«
Rita war jetzt aufgestanden, um fortzugehen. »Komme morgen vormittags zum Unterrichte wieder« bat Seraphine, und erhielt eine freudige Zusage.
Jetzt endlich konnte Rita das Verlangen ihrer wissensdurstigen Natur befriedigen, jetzt konnte sie durch die Güte der gräflichen Herrschaften lernen nach Herzenslust, und was sie freute, und sie machte auch wirklich überraschende Fortschritte auf allen Gebieten.
Gerade ein Jahr war vergangen, seitdem die Hohenfeldts wieder Besitz ergriffen hatten von ihrem Schlosse. Das Befinden der einzigen Tochter hatte sich anfangs wesentlich gebessert, so daß man zuweilen in tiefstem Herzenswinkel der süßen Hoffnung Raum gab, ihre Jugend möchte im Vereine mit den Mitteln des Arztes und jeder denkbar möglichen Schonung doch wohl ganz und gar den Sieg über Tod und Krankheit davontragen, und das liebenswürdige Kind hier in der reinen Luft der Berge wieder Gesundheit und Genesung finden. Seit der verhängnisvollen Fahrt aber war vieles wieder anders geworden, und das Aussehen der Komtesse oft erschreckend hinfällig. Dazu staunte man oft unwillkürlich über den reifen Verstand, der den Lebensjahren so merkwürdig vorausgeeilt schien, über die Äußerungen und Bemerkungen, die man nun und nimmer hinter einem so jungen Kinde gesucht hätte, doch durfte dieses wohl auch darauf zurückgeführt werden, daß Seraphine eine einsame Kindheit verlebt und durch ihre zarte Gesundheit jeden frohen Umgang mit munteren Kindern, sowie deren Spiele entbehrt hatte, hieraus entwickelte sich das sinnige Mädchen, das mehr schwieg und dachte, als es redete, und das sich am Herzen seiner sanften Mutter zufrieden fühlte, und sich allgemach selbst in den tiefen Ernst des Vaters zu finden wußte. – Ritas sprudelnder Geist wirkte deshalb so wohlthuend auf Seraphine ein; die beiden Kinder waren so ziemlich gleichen Alters. Rita war aber in einer gewissen Beziehung ebenfalls andere Wege gegangen, als die übrigen Kinder ihres Alters. Auch sie war am liebsten allein mit ihren beiden Großeltern gewesen, auch sie hatte keine Freunde unter ihren Altersgenossen, denn sie war, eben anders und nicht wie alle übrigen, sondern vielfach klüger als sie, hatte bei ihrer Erziehung größere Freiheit erfahren, und zeigte sich stets ganz so wie sie dachte und fühlte.
Das sah oftmals wirklich unartig aus, und so entwickelte sich Trotz und Eigensinn ungezähmt und ungestraft in dem Kinde, das zu Hause überaus gutmütig, den alten Leuten kindlich ergeben und folgsam war, sich nur nach außen hin und unter andern fremd fühlte, und deshalb störrisch und boshaft zeigte.
Gewann bei solchen Gefühlen dann der in ihr wohnende Schalk die Oberhand, so trieb Rita Unfug über Unfug, ärgerte Groß und Klein und erwarb sich hierdurch vielleicht nicht ganz unrichtig den Titel: Die Dorfhexe. – Ein Hexlein war sie, das war gewiß, ein Hexlein voll Witz und Übermut, voll Schlauheit und Verwegenheit, und wehe jedem, der es feindselig mit ihr aufzunehmen versuchte, sie demütigte ihn immer auf ihre Weise.
Diese Verschiedenheit der Lebensstellung und Erziehung nun und doch wiederum diese vielfache Übereinstimmung in Neigung und Anschauung, sowie im Charakter der beiden Kinder selbst, hatten sie sich schneller nahe gebracht, als man denken mochte. Scheinbar einander abstoßend, zogen sie sich ebenso innig gegenseitig an, ergänzten sich in ihren seelischen und geistigen sowohl als auch leiblichen Wesen, und daraus entstand jene selten schöne, herzliche Freundschaft, die beglückend und wohlthuend für beide Teile wirkte.
»Seraphinchen mein Engelchen« lachte Rita oftmals übermütig mit dem kleinen Schloßfräulein »ich muß dir wieder einmal die Flüglein beschneiden und allerlei Unsinn und Tollheit als Gewicht daran hängen, sonst kann unsereins in seiner Armseligkeit gar nicht neben dir aufkommen.« –
Die Gräfin Mechtilde segnete den Tag und die Verhältnisse, die Rita zum ersten Male in's Schloß brachten; sie hatte alle Ursache, sich darüber zu beglückwünschen.
Rita lenkte ihre Schritte nach Hause. Sie hatte ein Geheimnis auf dem Herzen, das sie schon länger beschäftigte, und das durch das heutige Gespräch mit Seraphine über den Soldatenstand noch ganz und gar zum gefestigten Entschlusse gereift war. Sie wollte nämlich ihren lieben Großvater bestimmen mit seiner kleinen Armee im Schlosse anzurücken, und dort zu Ehren des Geburtsfestes Seraphinens große Parade abzuhalten. Das war gewiß recht nett, und die Frau Gräfin, die sie unlängst von diesem geheimnisvollen Vorhaben unterrichtete, hatte ganz vergnügt in die Hände geklatscht und sie auf die Stirne geküßt. »Das ist einmal ein prächtiger Einfall von dir mein Schatz, und ich bin gewiß, daß unser Töchterchen große Freude daran finden wird. Vielleicht freut sich auch Emanuel daran,« setzte sie mehr zu sich sprechend leise seufzend bei; »triff du nur alle Vorbereitungen, ich will einstweilen ebenfalls das meinige thun, um das Fest glänzend verlaufen zu lassen.«
Überglücklich durch solch' freundliche Aufnahme ihres Einfalls war Rita heimgelaufen, und hatte den Großvater von ihrer großen Idee in Kenntnis gesetzt.
»Denk nur Großväterchen!« rief sie jubelnd aus, und hüpfte dabei in der Stube umher »du sollst dann den großen Franzosenkaiser Napoleon vorstellen und deine Armee in's Feld führen; daß heißt auf das Schloß.«
»Gott soll mich bewahren, mich zu so etwas zu erkühnen,« erwiderte der alte Mann, »nein, nein, im Gegenteile, ich will einfach der General Klaus sein, der seiner gnädigen Herrschaft seine jungen Rekruten vorführt, aber ganz gewiß nicht der Napoleon. Da müßt' ich ja am Ende auch noch nach St. Helena in die Verbannung!« –
Gleich nächsten Sonntag exercierten die Dorfjungen mit großem Fleiße. Willy hatte sich, teils von seinem Ehrgeize, teils von seinen Eltern angetrieben, ernstlich bemüht, richtig und nett wie die übrigen Buben die Übungen auszuführen, und hierauf hatte ihm der alte Veteran das Kommando über die kleine Armee wieder übergeben. »So mein Bürschchen,« hatte er gesagt, »jetzt hast du tüchtig folgen gelernt, jetzt magst du auch befehligen. Dein schöner Säbel und Helm sollen übermorgen zur Geltung kommen, ich übernehme nur den Oberbefehl über euch alle, die kleinen Übungen aber sollst du mit deinem jungen Heere vornehmen.«
Willy wurde bei diesen Worten dunkelrot vor Stolz und Freude, er wollte sich gewiß zusammen nehmen, so gut, als nur möglich, und von einem hin und her, und kreuz und quer, wie damals auf der Wiese, wo ihm Rita den Helm entriß, und ihn vor allen Buben lächerlich gemacht hatte, sollte jetzt ganz sicher nicht mehr die Rede sein. Klaus befahl auch, daß sämtliche Soldaten fein säuberlich gewaschen kämen, mit reinen Füssen und Händen, und die gute Notburga verfertigte noch in Eile neue Kopfbedeckungen aus Papier, wo diese oder doch wenigst der papierne Federschmuck defekt geworden waren. Die Hauptprobe verlief zur allgemeinen Zufriedenheit, und fröhlich liefen die Knaben nach Hause, um ihr wichtiges Vorhaben zu berichten und sich zur Parade auf's beste vorzubereiten.
Rita hatte aber noch eine ganz besondere heimliche Unterredung mit Franz, dem Sohne des Anstreichers gehabt, und bei ihm das richtige Verständnis für ihren Plan gefunden. Sie hatte nämlich den Gedanken von jener Tafel aufgegriffen, die an die Thüre der jungen Gräfin gehängt werden sollte, und hierzu mußte Franz mit geschicktem Pinsel helfen. Dafür versprach Rita ihm bei den Herrschaften ein gutes Wort zu reden, damit er das Glück haben sollte, die schönen Gemälde im großen Saale bewundern zu dürfen, denn darnach stand ja sein Sehnen Tag und Nacht, und höchste Wonne würde es für ihn sein, wenn Ritas Fürbitte ihm diesen Augenblick ermöglichte.
Zur richtigen Zeit hatte der junge Maler – dürfte er sich doch einen Künstler nennen! – das gewünschte Täfelchen abgeliefert. Man erkannte Rita auf den ersten Blick, sie hielt die beiden Vorderpfötchen ihrer Katze in den Händen und tanzte mit ihr auf einer grünen Wiese, daß ihre goldschimmernden Locken flogen. Unter den beiden Tanzenden aber standen in schöner, bunter Schrift die Worte, welche Rita selbst erfunden hatte:
»Nur wer recht scherzen und lachen kann,
Darf hier herein, klopfe eilends an,
Halt' ich mein Flunkerl fest bei den Pfoten,
Ist wohl uns zweien auch der Eintritt verboten?
Will's ja nicht hoffen, will singen und springen,
Lachend und scherzend mein Phinchen bezwingen.«
Diese Tafel wollte Rita an die Thüre vor Seraphinens Wohnzimmer aufhängen und sie dabei an ihre Mahnung erinnern, daß allen Traurigen der Eintritt zu ihr verboten sei. –
Nun war der Tag angebrochen, an dem Seraphine ihr vierzehntes Lebensjahr vollendet hatte. Der Himmel lachte in wolkenloser Bläue, und im Garten sowohl, als auch im Parke dufteten die Blumen, sangen die Vögel, war alles in sommerlicher Pracht und Schönheit.
Man hatte an einer schattigen, etwas erhöhten Stelle, die einen freien Blick über die grüne Fläche darbot, die Sitze aufgestellt für Seraphine und ihre Eltern, sowie für Kathrine, Rita und noch andere Zuschauer aus dem Schlosse. Der Ehrensitz war mit Blumen bekränzt; das Geburtstagskind befand sich heute glücklicherweise recht wenig von Schmerzen geplagt, sondern wohl und heiter. Ihr liebliches Gesichtchen zeigte sogar einen leisen Anflug von Röte, und ihre himmelblauen Augen schauten klar und freundlich auf ihre Umgebung. Sie ahnte übrigens nicht, was da kommen sollte, und wartete deshalb, nachdem sie Ritas Einladung gefolgt und ins Freie heruntergekommen war, nicht ohne Spannung der künftigen Dinge. Morgens hatten sie schon die gütigen Eltern mit allerlei hübschen Geschenken beglückt; da waren neben vielen nützlichen Dingen schöne unterhaltende und belehrende Bücher, und eine wohlgefüllte Börse für ihre Armen. Sie kannte längst die Seligkeit des Gebens, und wußte sich keine größere Freude, als andere zu beglücken und fremder Not zu steuern, so viel sie konnte. Weihnachten lebte noch so schön in ihrer Erinnerung.
Dann war Rita erschienen, einen Blumenstrauß in den Händen und hatte die hochverehrte junge Freundin gebeten, sich ein bischen ihre Thüre von außen zu betrachten. Große Heiterkeit hatte ihr drolliger Einfall hervorgerufen, und auch die Arbeit des jungen Franz war außerordentlich gelobt worden, sie verriet wirkliches Talent und ein nicht mehr ganz unbedeutendes Können. Rita brachte nun ihre Bitte für ihn vor, er war immer gut zu ihr gewesen, hatte sie nie mit seinem Hasse verfolgt, deshalb wollte sie ihm gerne diesen großen Dienst leisten. Graf und Gräfin erlaubten ihm auch wirklich, daß er hie und da in's Schloß komme, und es versuche, Kopien von den schönen Gemälden zu nehmen. Überglücklich hatte er diese Nachricht aufgenommen, und seitdem hatte Rita einen warmen Freund und Verteidiger ihres edlen Herzens mehr an ihm gewonnen. Wenn er nun öfters kommen und angesichts der vortrefflichen Ölgemälde seine Studien daselbst machen durfte, war ihm das ein großer Schritt für seine weitere künstlerische Ausbildung – das übrige wollte Franz dem lieben Gott überlassen, der ja recht wohl mit Seiner Allmacht helfen und ihm den Weg eröffnen könnte zum Ruhme der Kunst! –
Alle hatten herzlich gelacht über die naiven Verse Ritas unter der kleinen Tafel, und in ungetrübter Stimmung war der Nachmittag angebrochen. Die Familie hatte sich nach eingenommenem Mittagsmahle nach der oben erwähnten Stelle begeben. Sie waren noch nicht lange dort eingetroffen, als sich ferne Trompetenstöße und Trommelwirbel vernehmen ließen und eine Staubwolke auf der Landstraße die Annäherung einer sich im gleichen Schritte bewegenden Mannschaft verriet. Wirklich wurden schon nach kurzen Minuten etwa zwanzig bis vierundzwanzig Knaben sichtbar, die in richtig militärischer Haltung auf das Schloß zu und jetzt in den Garten herein marschierten.
Es waren die kleinen Rekruten des Großvaters Klaus. Tadellos sauber und ordentlich, wenn schon etliche Barfüßer unter ihnen waren, stellte sich die kindliche Armee vor Seraphine und deren Eltern auf. Willy, das Söhnchen des Posthalters, an sich ein hübscher, gesunder Knabe, dem heute seine Würde als Befehlshaber der Truppe eine besondere Schönheit verlieh, trug Helm und Säbel, zwei kleine Jungen hatten die Trommel umgehängt, zwei Trompeter bliesen auf kleinen Blechtrompeten die verschiedenen Rufe und ein Knabe trug die aus buntem Perkal angefertigte Fahne. Die übrige Truppe hatte nur mit vereinzelten Ausnahmen papierne Helme und hölzerne Schwerter, statt der Gewehre aber einfache Haselnußstecken und andere Stöcke im Arme. Im Ganzen zeigte sich die wohlgeschulte Einigkeit und Ordnung der jungen Armee in lobenswertester Weise.
Ritas alter Großvater, Klaus, der Invalide, war heute in seinem größten Festtagsstaate erschienen; er trug den alten Waffenrock der Veteranen mit den farbigen Aufschlägen und der Auszeichnung des Regimentes, in dem er einst gedient hatte, und auf der Brust am blauweißseidenen Bande die goldene Tapferkeitsmedaille, die im Sonnenlichte glänzte und funkelte. Sein weißer Schnurrbart verlieh ihm etwas Martialisches und Strenges, das aber sofort durch den freundlich gutmütigen Ausdruck seiner Augen wieder ausgeglichen wurde. Der alte Soldat war heute in seinem Element. Man konnte begreifen, daß Rita mit zärtlichster Liebe an diesem schönen, weißhaarigen Kriegsmanne hing, und auch jetzt stieß sie Seraphine wieder an und flüsterte ihr zu: »Sieh nur Phinchen, wie schön der Großvater ausschaut. Ist er nicht ein geborener General?« –
Jetzt trat Willy vor und senkte als Zeichen der Huldigung salutierend seinen Säbel vor dem gefeierten Geburtstagskinde, dazu wirbelten die Trommeln, bliesen die Trompeter den Königsmarsch, und neigte der Fähnrich seine Fahne bis zur Erde herab. Dann begann das Exerzieren der Knaben. Sie führten jede Schwenkung, jede Art des Marsches, die Bewegung in Kolonnen sowohl, als im langgedehnten Zuge, die Aufstellung im Karree und dergleichen vortrefflich aus, sie schossen einheitlich blind in die Luft, nahmen das Gewehr zu Fuß, schulterten, präsentierten – kurz sie machten alles so hübsch und pünktlich, als nur möglich. Klaus stand beiseite und hielt seine junge Mannschaft streng im Auge, um bei dem kleinsten Fehltritte sofort verbessernd einzugreifen, aber es ging alles wie am Schnürchen. Sein Gesicht strahlte in sichtlicher Freude bei diesem flotten Exerzieren seiner Jungens, die ihm heute wirklich alle Ehre und das Herz warm machten.
Nachdem das kriegerische Schauspiel beendet war, brachte ihr Altmeister noch ein dreifaches Vivat auf Seraphine und ihre allergnädigsten Eltern aus, in das sämtliche Buben mit hellen Stimmen einfielen, auch die Zuschauer, teils Ortsangehörige, teils die Verwandten der kleinen Soldaten, die hierhergekommen waren, um zuzusehen, stimmten laut rufend mit ein. Auf einen Wink der Dienerschaft zogen sie sich aber alsdann zurück, Park und Garten wurden leer, nur die Soldaten mit ihrem Anführer blieben bei der gräflichen Familie und nahmen auf deren Einladung an einer langen, weißgedeckten Tafel Platz, wo sie mit Braten, Bier und Brot, Butter und Honig, auch mit Obst und Süßigkeiten bewirtet wurden. Die Knaben fühlten sich als Gäste der Schloßherrschaft überglücklich, und wußten solche Ehre wirklich zu schätzen. Sie griffen alle fröhlich zu und glänzten besonders die Augen der armen Jungen vor Vergnügen über die vielen ungewohnten guten Dinge, die sie sich gar köstlich schmecken ließen.
Indes unterhielt sich Graf Emanuel auf das Leutseligste mit Klaus, während seine Gemahlin und Tochter die Knaben über ihre Namen und Familien befragte, ob sie die Schule besuchten, wie lange sie noch dort zu bleiben hätten und dergleichen.
Graf Emanuel hatte während der Übungen der Knaben öfters nach Rita geschaut, die mit blitzenden Augen an der Seite des alten Veteranen stand und Lust zu haben schien, selbst mitzumachen.
»Ihre Enkelin ist ein selten lebhaftes, feurigempfindendes Mädchen,« sagte er zu Klaus, der hierzu beifällig nickte.
»Ja, gnädigster Herr, sie ist klug und lebhaft, aber sie hat bei alledem auch das Herz auf dem rechten Fleck, besonders seit sie das Glück hatte, bei der jungen Gräfin – –«
»Laßt das,« entgegnete der Schloßherr rasch, »Rita hat schon wiederholte Beweise ihres Mutes und auch ihres edlen Herzens gegeben. Wie lange ist sie schon bei Euch?« –
»Seit ungefähr sechs Jahren.«
»Ist sie das Kind Eures Sohnes?«
»Nicht doch, gnädigster Herr! Sie ist nicht eigentlich meine Enkelin, sondern nur das Tochterkind meiner verwitweten Schwester Notburga, sie hat mir nur aus Zärtlichkeit den Namen Großvater beigelegt.«
»Und ist die Tochter Ihrer Schwester schon lange tot?«
»Immerhin werden es sechs bis sieben Jahre sein, gnädigster Herr! Rita, wie wir die kleine Margaretha umgetauft haben, ist als siebenjähriges Kind zu Notburga gekommen.«
»Und ihr Vater war Kaufmann, wie mir Seraphine einmal erzählte?«
»Zu dienen, Euer Gnaden, er war übrigens durch den Tod seiner Frau, die er über alles geliebt hatte, so furchtbar schwer erschüttert, daß er nicht mehr in Europa bleiben wollte, sondern nach Amerika auswanderte, um unter neuen Menschen und neuen Eindrücken die alten zu vergessen!«
»Wie konnte er aber das einzig teure Unterpfand seines ehelichen Glückes, sein Kind, verlassen?«
»Rita war nicht sein wirkliches Kind.«
Der Alte bemerkte die Blässe nicht, die bei diesen Worten plötzlich wie ein tödlicher Schrecken die Züge des Grafen bedeckte, denn er hielt den Blick nach den Knaben gerichtet, – und fuhr deshalb unbeirrt zu erzählen fort: »Sie war eine kleine Waise, deren sich die wohlhabenden, kinderlosen Leute erbarmten und die sie als ihr eigen Fleisch und Blut erzogen, aber auch liebten.«
»Hat man niemals Nachforschungen über die Vergangenheit der Kleinen angestellt?« frug der Graf, und fuhr sich mit dem duftenden Foulard über die feuchte Stirne, »trat ihnen niemals die Möglichkeit eines Verbrechens nahe?«
»O nein, gewiß nicht, gnädigster Herr! So viel ich hörte, hat das Kind so wohlgenährt und kräftig ausgesehen, so gar nicht, als ob es aus Not und Elend käme – dann wurde von seite der Behörde niemals nach einem verlornen oder geraubten Kinde gefragt und die Tochter Notburgas war so glücklich über ihren kleinen Schatz, daß es durchaus nicht in ihrem Wunsche noch Interesse lag, daß die Sache nach außenhin irgendwie besprochen oder erläutert würde – so blieb alles wie vom Beginne an.«
»Habt Ihr aber gar nie eine Vermutung über Ritas Herkunft gehabt?«
»Was ich weiß, lag die Heimat der Verwandten nahe bei Böhmen. Wie leicht ist's möglich, daß irgend eine wandernde Zigeunertruppe oder dergleichen ein überflüssiges Glied in der Gesellschaft hatte, dessen sie sich gerne entledigt hätte? Eigenartig ist Rita, das ist ganz außer jedem Zweifel, vielleicht sind schon wir selbst daran schuld, weil wir sie so völlig frei und zügellos aufwachsen ließen, aber manchmal meine ich wirklich, es schlägt etwas vom spanischen Blute jenes Nomadenvolkes bei ihr durch.« –
Während des Gespräches hatte Graf Emanuel seine Ruhe wieder völlig gewonnen, nur einen Moment lang hatte ihn ein seltsamer Gedanke durchzuckt und das Blut in seinen Adern erstarren gemacht, aber es ging rasch vorüber, bei einigem Überlegen mußte er die Haltlosigkeit seiner Vermutung absolut von sich weisen – »jedenfalls ist das Kind in den denkbarst besten Händen, mein Lieber,« schloß er die Unterredung mit Klaus, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und empfahl sich von ihm, um sich den Damen zuzugesellen, die bei dem Tische standen, an dem die Knaben in fröhlichster Stimmung beisammen waren.
Gräfin Mechtilde hatte sich nämlich noch eine ganz besondere Überraschung ausgedacht und mit Freude erkannt, daß dieselbe entzückt aufgenommen wurde. Sie hatte sich eine kleine Weile von der Gesellschaft entfernt, war aber wieder bald aus dem Schlosse zurückgekommen, und hatte allerlei Belohnungen für die jungen Soldaten mitgebracht. Vor allem einen allerliebsten goldenen Papierstern an hochrotem Seidenbande – »einen Orden«, wie sie sagte, für den jungen tapferen General, der seine Sache so hübsch und gut gemacht hat, dann hieß sie Willy zu Seraphinens Stuhl hinkommen, wo diese ihm mit freundlichen Lobesworten den Ordensstern überreichte und an der Brust befestigte.
Als dies geschehen war, trat Rita zu ihm hin und reichte ihm die Hand: »Bravo, mein General,« lachte sie herzlich, »ich gratuliere zu der wohlverdienten Ehre – und wir wollen von jetzt an allen früheren Groll und Zwist vergessen.«
Willy schlug freudig ein; er war wirklich in dieser Stunde viel zu glücklich, als daß er nur noch einen feindseligen Gedanken hätte in sich aufkommen lassen – und von heute an blieben die beiden treue, unzertrennliche Freunde.
Nun kam die zweite Überraschung; ein Diener brachte nämlich an einer Stange festgenagelt eine neue Fahne mit blauweißen Rauten, und hieran sollte das Geburtstagskind ein schöngewirktes Seidenband befestigen, zur Erinnerung an das heutige hübsche Fest.
Großvater Klaus mußte sogleich Einsicht von allem nehmen, ihm selbst wurde eine wunderschöne silberbeschlagene Tabakspfeife überreicht, zum Danke für all sein Bemühen, und überdies versprach der Graf, mit der Zeit die Armee auszustatten, wie sich's gebühre.
Vorerst erhielten sieben Knaben, welche barfuß erschienen waren, Anweisung, sich vom Schuhmacher des Ortes feste Lederschuhe anfertigen zu lassen; alles weitere würde sich geben.
Des Dankes und Jubels wollte kein Ende finden, und endlich, nachdem man nochmals die neue Fahne geschwungen und mit Begeisterung ein dreimaliges Hoch auf die junge Dame, die eigentliche Festgeberin, ausgebracht hatte, verließ die Armee in schöner, tadelloser Kolonne das Schloß und den Park und zog wieder heim in die betreffenden Quartiere.
Seraphine hatte eine wirkliche Freude an der wohlgelungenen Überraschung gehabt und ihrer Freundin von Herzen dafür gedankt: »Ich habe einen sehr schönen und vergnügten Nachmittag erlebt,« sagte sie zu Rita, »und werde niemals die festliche Parade vergessen, die man heute mir zu Ehren abgehalten hat.« –