Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sonntagsfriede liegt über der ganzen Landschaft ausgebreitet; die Natur ruht vom mühe- und geräuschvollen Treiben der Woche; alte Leute sitzen plaudernd auf der Bank vor ihrem Hause, zuweilen saust ein Fuhrwerk mit schmuck gezäumten Rößlein die Landstraße dahin, beim Wirte drüben rasseln die Kegel und zwischen hinein vernimmt man das frohe Jauchzen des Aussetzers, wenn immer ein Kranz geschoben wird, oder alle Neun umfallen. Kleine Mädchen fahren ihre Puppen geschäftig im Wägelchen hin und wider, die Feiertagsschülerinnen sitzen gruppenweise beisammen auf umgestürzten Futtertrögen, schwatzen und singen, oder flechten Blumen, während die Buben, wohl ihrer zwanzig an der Zahl, auf der großen Gemeindewiese außerhalb des Dorfes exerzieren, Soldaten spielen, Krieg führen, Lieblingsunterhaltung aller Knaben, aller Zeiten: eine wohlklingende Bezeichnung für Raufen und Balgen. Seltsam ist's, der frische Lebensmut unserer gesunden Jugend und besonders der jungen Burschen auf dem Lande genügt sich nicht in Worten und regungslosen Ruhen; wenn nicht das Blut lebendig durch die Adern kreist, wenn nicht in zwangslos kühner Bewegung sich die Muskeln stählen, Kraft an Kraft sich messen können, sind sie unbefriedigt; obgleich sie die ganze Woche durch schwer gearbeitet haben, haben sie keineswegs das Gefühl stille zu sitzen und zu ruhen, nein, sie ringen, sie turnen, sie tanzen, sie kegeln oder werfen die freischwebende Kugel, lauter Kraftübungen, die ihrem innersten Triebe entsprechen. Und schon bei den Knaben tritt dieses überschäumende Verlangen nach Bewegung zu tage. Kriegerisch ausgerüstet stehen sie jetzt in Reih und Glied, der arme Barfüßler mit dem selbstgeschnitzten hölzernen Schwerte und dem Papierhelm auf dem Kopfe, nicht minder stramm als der Sohn des Großbauern, der seinen Säbel wirklich aus der Scheide ziehen und die Flinte mit den Feuerstein abschießen kann, daß die Funken sprühen. Der Anführer der jugendlichen Armee sollte heute seine erste Probe als Feldherr ablegen, denn der bisherige General war vor kurzem nach der Stadt zum studieren gekommen und Wilhelm, des Bürgermeisters Sohn, zu dieser Würde auserkoren. Eigentlich hatte sich das so ganz von selbst gemacht; gab ja auch sein Vater überall und bei allem den Ton an, weshalb nicht auch sein Sohn? Wohl hatten sich mehrere Stimmen gegen den kleinen General erhoben, denn er war bekannt als ein verhätscheltes Büblein, das am liebsten hinter der mütterlichen Schürze den Helden spielte, während er sonst vor jedem Hunde die Flucht ergriff. Doch war seine militärische Ausstattung anderseits weitaus die glänzendste des ganzen Armeekorps und das mußte auch in Betracht kommen. Ein silbergesticktes Portepee baumelte an dem metallenen Säbelkorbe, ein glänzender Helm mit dem Wappen von goldgelben Blech und wallendem Federbusche saß auf dem Haupte. Beim Soldatenspielen in Reih und Glied stehen und gehorchen zu müssen, besonders wenn ein Kleinhäuslers Bub Offizier wäre, schien dem hochnäsigen Herrn Wilhelm ein für allemal unerträglich; es fiel ihm schon gegenüber dem Herrn Pfarrer und Lehrer der Gehorsam schwer genug; wie hätte er's bei den Kameraden, die nach seiner Ansicht tief unter ihm standen, fertig gebracht, sich ihrem Willen zu fügen? Nein, wenn er nicht General würde, wollte er ganz und gar wegbleiben; alle Buben sollten aber dann die Macht seines Vaters fühlen, und so war er aus all diesen Gründen zu seiner neuen Würde gekommen.
Wenn er's nur besser verstanden hätte, sich in den gehörigen Respekt zu setzen; das war seinem Vorgänger, dem Posthalters Dominick gar nicht schwer geworden; der hatte die Sache anzupacken gewußt; da ging alles wie am Schnürchen; keiner verweigerte den Gehorsam, alle thaten was und wie er wollte. Dominick war zu Hause sehr streng gehalten worden, die rechtschaffenen Eltern forderten von all ihren Kindern unbedingten Gehorsam und pünktlichste Pflichterfüllung; an Wilhelm aber wurde leider wieder einmal die alte Erfahrung wahr, »wer nicht gelernt hat zu gehorchen, der kann auch nicht befehlen.« So benahm er sich denn als General recht sonderbar; er fuchtelte mit dem Säbel unnütz in der Luft herum, kommandierte bald dieses, bald jenes, und mußte zu seiner großen Beschämung sehen, daß seine Soldaten nach allen Richtungen auseinander stoben und sich auf seine Kosten belustigten. Die Thränen der Wut stiegen ihm heiß in die Augen, er hätte am liebsten den Säbel weggeworfen und den Exerzierplatz verlassen, aber dann wäre ja seine militärische Ehre für immer verwirkt gewesen; so ging's denn eine Weile fort, freilich unbefriedigend genug, hie und da wurde sogar ein unbotmäßiges Kichern vernommen. Die junge Armee ahnte indessen nicht, daß sie schon eine geraume Weile bei ihren strategischen Übungen beobachtet wurde. Hinter der grünen Hecke nämlich, welche die Gemeindewiese nach einer Seite hin abgrenzte, folgten zwei feurige Augen mit sichtlichem Interesse jeder Bewegung der spielenden Knaben; als aber Wilhelms Kommandowort neuerdings eine abscheuliche Verwirrung hervorrief, schob sich das grüne Buschwerk plötzlich auseinander und die schlanke Gestalt eines zwölfjährigen Mädchens kam zum Vorschein. Ihre Wangen glühten über und über vor Erregung und während sie im raschen Sprunge mitten unter den verblüfften Knaben stand, entwand sie ihrem ungeschickten Feldherrn den Säbel, riß ihm den Helm vom Kopf und stülpte ihn auf ihr eigenes wirres Gelocke; das alles war das Werk eines Augenblicks. Kein einziger der Knaben hatte nur Zeit gehabt, sich zu besinnen oder zu überlegen, und jetzt schwenkte die kleine Fremde mit blitzenden Augen den Säbel hoch über ihren Köpfchen und kommandierte »Halt«. Sofort standen sie alle in Reihen geordnet, stramm und unbeweglich, stürmten aber schon im nächsten Momente, wie von einem Zauber befangen, ihrem begeisterten Rufe »Gewehr auf die rechte Schulter, Laufschritt, marsch« Folge leistend, über Wiesen und Gräben, die staubige Landstraße entlang, hinaus bis zum letzten Häuschen des Ortes, vor dem die kühne Anführerin ein lautvernehmliches »Halt« rief. Hier wohnte der alte Invalide Klaus, und seine verwitwete Schwester Notburga, die ihm die Wirtschaft führte. Klaus war im letzten Feldzuge zum Krüppel geschossen worden und verzehrte nun in Ruhe und Frieden die kleine Pension, die ihm sein König bewilligt hatte; eben saß er in der sogenannten Laube, einem hölzernen Sommerhaus aus Latten zusammengenagelt und malerisch mit wilden Wein und Geisblatt überwachsen, schmauchte behaglich sein Sonntagspfeifchen und plauderte nebenbei vom Franzosenkaiser und vom großen Brande von Moskau, den er selbst mit erlebt hatte und der ein unerschöpfliches Unterhaltungsthema für ihn bildete, als ein lautes »Hurrah« aus vielen jungen Kehlen seine Betrachtungen unterbrach.
Das erhitzte Gesicht vom wirren Lockengeringel umhangen, den blanken Säbel in der Hand, stürzte die merkwürdige Anführerin an der Spitze ihrer Armee mit dem Rufe: »Drauf Kameraden, es gilt, es gilt!« dem Eingänge der Laube zu. Lachend fuhr der Invalid von seinem Sitze auf, strich sich den Schnurrbart und rief:
»Wettermädel, was machst denn wieder für Dummheiten? Was soll denn der Überfall bedeuten?«
»Das ist meine Armee, Großvater,« war die Antwort.
»Deine Armee?«
»Ja, ich hab' sie mir erobert.«
»Wir stürmen deine Lauben, Großvater,« und sofort kommandierte sie »Feuer«. Die Gewehre knatterten, die Trommeln wirbelten, die Soldaten schrieen aus vollem Halse »Hurrah, der Onkel Klaus soll leben, hurrah!«
»Schon gut, schon gut,« machte der Alte und legte in militärischer Haltung, die Hand an die Mütze, regelrecht salutierend. »Was wollt ihr denn aber von mir hier außen?«
»Du sollst uns helfen, Großväterchen,« schmeichelte das Mädchen, »die Jungens da brauchen einen Feldherrn, der sie tüchtig exerziert; deshalb habe ich sie hieher gebracht. Potz Blitz und Hagel, da seh mir nur einer, dort steht ihr General und heult.« Alle Blicke wandten sich in diesem Momente nach Wilhelm, der in zorniger Wut, über die ihm widerfahrene Demütigung seitwärts stand. Der Schelm blitzte aus den dunklen Augen des Mädchens, als es eine unverkennbare Grimasse schnitt, mit großer Verachtung den Kopf in den Nacken warf und zu ihm sagte: »Geh doch, Willy, geh nach Haus und laß dir eine Wickelpupp' schenken, die paßt dir besser als der Säbel.« Dann beugte sie zierlich das Knie vor dem alten Invaliden, salutierte schulgerecht mit ihrer Waffe, wie sie es längst schon vom lieben Großvater gelernt hatte, nahm den Helm vom Haupte und legte ihn wie huldigend zu den Füßen des Alten. Nicht ohne eine gewisse Befriedigung hatte dieser alles beobachtet, jede Bewegung des schlanken Kindes war anmutig, hinter den vollen kirschroten Lippen bargen sich blendendweiße Zähnchen, das feingeschnittene Gesicht war von so frischer Lebensglut angehaucht, und ihre niedlichen Hände und winzig kleinen Füße würden jedem Fürstenkinde Ehre gemacht haben. Wenn man die derben Knochen der Frau Notburga daneben betrachtete, von der Hünengestalt des alten Klaus gar nicht zu reden, so mochte man wohlberechtigt fragen, wie kam denn dieses elfenhafte, zierliche Geschöpf in solche Umgebung?
Jetzt wandte sich der Invalide zu den Knaben: »Gern will ich euch gewähren, was meine Enkelin für euch erbat, obschon ich meine, ihr hättet eure Interessen selbst vertreten können; ich will euer General werden und will euch schulen und drillen trotz der kaiserlichen Armee, nur müßt ihr jeden Sonntag Nachmittag zu mir herauskommen und unbedingten Gehorsam versprechen, hört ihr's Jungen? Sonst leg' ich meine Würde gleich wieder nieder und ihr könnt schauen, wie ihr selbst zurechtkommt.« Die frischen Augen der Dorfknaben strahlten vor Entzücken bei dieser Aussicht. Von einem wirklichen Kriegsveteranen exerziert werden, war keine Kleinigkeit; dafür wußten sie alle der Rita Dank; obgleich sich jetzt, nachdem die erste Überraschung verraucht war, namentlich bei den Größeren, ein gewisses Gefühl der Beschämung regte, daß sie vorhin so blindlings einem kleinen Mädchen gefolgt waren. Die Rita aber wollte jetzt nicht weiter mehr befehlen und keinem Einzigen wäre der gute Einfall gekommen, ihren Großvater zum General zu machen. »Ja, wir wollen pünktlich gehorchen,« riefen die jungen Soldaten begeistert; einer aus ihnen schwenkte das rot und gelbe Katuntuch, das als Fahne galt, die übrigen präsentierten das Gewehr, der Tambour trommelte den Königsmarsch; nur Willy stund schmollend beiseite. Klaus, der vielleicht seinen Schmerz besser würdigte, als die andern, sagte freundlich zu ihm: »Komm kleiner Willy, laß jetzt gut sein mit dem Murren, tritt wieder ein in die Armee und sei mein Adjutant.«
Der Knabe erwiderte nichts.
»Laß ihn doch, er heult ja schon wieder!« spottete Rita.
»Schweig, du boshafte Dorfhexe!« schrie der zornige Knabe und ballte die Faust gegen das Mädchen. Dieses aber lachte hell auf.
»Rita gieb Ruhe!« befahl der Alte, dann lieferte er Wilhelm den Säbel und Helm wieder aus:
»Mußt nicht so schelten auf die Rita, sie ist ein mutwilliger Wildfang, aber nicht boshaft, sei es auch du nicht und gebt euch jetzt die Hände zur Versöhnung.«
Augenblicklich streckte Rita ihr sonnengebräuntes Händchen hin.
»Ich konnt' es halt nicht länger so mit ansehen, Großvater,« sprach sie wie zur Entschuldigung. »Die Soldaten standen kreuz und quer, der eine lief da, der andere dorthin; Willy wußte gar nicht, wie man kommandiert, da stürzte ich hervor, und riß ihm den Säbel aus der Hand; sonst that ich nichts, gewiß nichts!«
Willy kehrte sich trotzig von ihr ab; er war tief gekränkt, ein verwöhntes Kind, das stets nur den eigenen Willen kannte.
»So laß bleiben, wenn du nicht einschlagen willst,« schrie die Kleine.
Der Knabe aber tobte entgegen: »Du Hexe, du häßliche braune Hexe! Was brauchst du Soldaten spielen; du hast mir meinen Helm schmutzig gemacht und meinen Säbel verdorben – ein Mädchen soll gar nicht so thun wie ein Bube, das ist abscheulich und einfältig.«
Klatsch! saß ihm statt jeder weiteren Antwort eine Ohrfeige im Gesichte. Laut heulend sprang Wilhelm auf Rita los und riß sie bei den Haaren.
Der Großvater trennte die Zürnenden, er schickte die Enkelin in's Haus und zankte den Knaben tüchtig über seine Gehässigkeit und Unversöhnlichkeit, dann ließ er die jungen Krieger Aufstellung nehmen, hielt Musterung, kommandierte sie erst rechts, dann links und ordnete den Marsch nach dem Dorfe an. In richtiger Kolonne zogen sie fort, sodaß der Staub der Landstraße hinter ihren regelmäßigen Schritten aufwirbelte, Tambour und Trompeter ließen eine gar merkwürdige Melodie vernehmen, zu der sich's übrigens herrlich marschierte, und all die jungen Herzen waren froh und glücklich. Wilhelm trabte ganz allein hinterdrein, mürrisch und verdrossen. Als er an dem alten Kastanienbaum beim Eingange des Dorfes vorüberkam, flog eine ganze Ladung kleiner unreifer Kastanien auf ihn herab. Unter dem schattigen Laube versteckt saß Rita auf einem Aste und sang:
»Nur langsam voran, nur langsam voran,
Daß der Feldherr Willy nachkommen kann!«
Willy sah sie nicht, aber er erkannte ihre Stimme und rief mit geballter Faust:
»Hexe, Dorfhexe! warte nur, ich will dich schon heimzahlen;« dann aber, als wollte er seine Drohung Lügen strafen, gab er eilends das Fersengeld und lief was er konnte den andern nach, ohne nur ein einziges Mal umzuschauen.