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Vierzehntes Kapitel.
Beim Feldkreuze

Es war ein herrlicher Sommertag. Die Natur schien sich erschöpfen zu wollen in lauter Duften und Blühen. Pfingsten, das lieblichste, sonnigste Fest stand vor der Thür.

Im Schloßgarten hingen die vollen Trauben der weißen und lila Syringen am Strauche, neben ihnen machte sich der Jasmin mit berauschendem Geruche breit und die zartweiße Lupine mit rosigem Hauche, ihr Bruder, der schimmernde Goldregen, wie auch die luftigen Schneeballen, diese kindischen Dickköpfchen unter den Blumen des Frühsommers – sie alle ergötzten in ihrer natürlichen, poesievollen Schönheit Sinn und Augen. Die Wiesen prangten gleich buntgewebten Teppichen in den mannigfaltigsten Farbentönen, so daß man nur mit Wehmut daran denken mochte, es werde bald die schneidige Sense grausam darüber hinfahren und ihren herrlichen Schmuck schonungslos niedermähen. – Der Wald hatte wieder seine besonderen Schätze, mit denen in stillen Mondnächten das Elfenvölklein und die goldenen Käferlein kosten und spielten: hier seine kletternde Rebe, dort die schneeweiße Blüte der Erdbeere, dann die Maiblume auf hohem zartgebogenen Stengel mit dem süßduftenden Glöckchen und zuletzt doch nicht das wenigst reizende Kind, das demütige Veilchen, das still verborgen hinter den Blättern lauschte und der Hand zu warten schien, die es mit sich nehmen wollte zu den Menschenkindern.

Seraphine war wie alle zartbesaiteten Seelen, eine große Naturfreundin, sie suchte und fand in jedem neu erstandenen Blümlein den Schöpfer und das Wunder Seiner Allmacht, sie betete Ihn an in jedem, auch dem unbedeutendsten Wesen, und gerade in diesem zumeist. Der Ortslehrer hatte eine tüchtige Kenntnis auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und fand in dem leidenden Kinde eine gelehrige, wißbegierige Schülerin. Ihr vielfach schwacher Zustand erlaubte zwar anfangs nur ein langsames Vorgehen in den Lehrgegenständen, doch aber brachte ihm Seraphine einen geweckten und lebhaften Verstand und so viel guten Willen entgegen, daß es eine Freude war, sie zu unterrichten und daß man sich bei ihrer frühreifen Auffassung, woran wohl ihr vielfach einsames auf sich selbst angewiesenes Leben die Schuld trug, unwillkürlich ein tieferes Eindringen in all die Schönheiten der Natur und damit auch eine gründlichere Belehrung erlaubte, als dies sonst wohl bei Kindern gewöhnlichen Schlages der Fall ist.

Übrigens wirkte auch die Bergluft, die ländliche Ruhe und der reizende Aufenthalt in Hohenfeldt ungemein günstig auf sie ein. Die schweren Anfälle, unter denen sie anfangs gelitten hatte, traten viel seltener auf, und ihr Verlangen, das Zimmer zu verlassen und sich in's Freie zu begeben, wurde mit jedem Tage dringender.

Und wie gerne willfuhr ihr die gütige Mutter! Sie hätte ja ihr Herzblut hingegeben, um ihrer Tochter damit eine frohe und vergnügte Stunde zu verschaffen, und Kathrine dachte nicht viel anders, als ihre Herrin. Auf ihrem Arme gestützt, versuchte die Leidende zuerst nur wenige Schritte zu machen, dann wurde sie selbstvertrauender, wagte allein zu gehen und war überglücklich, als es wirklich gelungen war!

Gerade diese absolute Hilflosigkeit ist ja eine der allerschwersten Prüfungen des Krankenlebens. Der Mensch ist nun einmal zur Freiheit geboren und alle Bewegungen, selbst die des neugeborenen Säuglings, sind eigentlich nichts anderes als unbewußte Anstrengungen, sich dem Arme zu entringen, der ihn festhält und selbständig dann seine Wege zu gehen.

Dieses Verlangen steigert sich natürlich mit jedem weiteren Fortschreiten seines Daseins und ist es ganz gewiß die schwerste Form des Krankenlagers, festgebunden, hilf- und regungslos liegen zu müssen, während andere sich nützlich machen können. So glaubte denn auch Seraphine schon einen großen Fortschritt damit gemacht zu haben, daß sie kleine Wegstrecken allein zu gehen vermochte, und wollte aus diesem Grunde und um den lieben Gott für solche Gnade zu danken, heute den Kranz zum Feldkreuze bringen.

Mutter und Pflegerin begleiteten sie durch den Park hinaus nach den wogenden Getreidefeldern, in deren Mitte sich ein altes, ehrwürdiges Kruzifix erhob, bei dem sich gewöhnlich einige fromme Beter einfanden. Zu ihrer Überraschung war aber heute eine ungewöhnlich große Menschenmenge dort versammelt. Kleine und ältere Mädchen, offenbar der Schule angehörend, standen hier beisammen, in ihrer Mitte der Lehrer und eben ertönte aus den jugendfrischen Kehlen ein lieblicher, kindlichfrommer Gesang, ein Loblied auf Maria, die Königin und Mutter aller unschuldsvollen, reinen Seelen.

Zu Füßen des Kruzifixes war auch das Bild der mater amabilis, der liebenswürdigen Mutter mit dem göttlichen Kinde im Arme angebracht und offenbar galt ihr die heutige Feier. Der Rahmen des Bildes war mit hübschen Blumen umwunden, auch das Feldkreuz war freundlich geziert und sicherlich hatten es dieselben Händchen gethan, die jetzt andächtig gefaltet, auch Mariens Verehrung übten.

Solange die Kinder gesungen hatten, war ein Mädchen beiseite gestanden, ohne sich zu regen, noch auch mit in das fromme Lied einzustimmen. Die Gräfin betrachtete es lange aufmerksam. Es war ein hochinteressantes Gesicht von edlen Formen, mit dem Ausdrucke trotziger Gleichgiltigkeit oder verdrossener Laune; die Augen waren ungemein sprechend, die schön geschwungenen Brauen gaben der Stirn sogar etwas Bedeutendes, der Mund schien nicht allzuklein, aber wohl geformt, die vollen, frischen Lippen bargen schneeweiße Zähnchen. Das Näschen war ein klein wenig aufgebogen und stand gar wohl zu den rosigen Grübchen in Kinn und Wangen, sowie zu der ganzen Haltung des feinen Köpfchens.

Jetzt nahte die Gräfin dem Mädchen und fragte es leise:

»Singst du nicht mit?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht mag.«

»Das glaub' ich dir nicht, mein Kind,« erwiderte sie sanft, »du siehst aus als ob du gerne singen wolltest, darfst du vielleicht nicht? Hab' ich's erraten?«

Die Kleine nickte nur. Sie schien gar nicht zum Reden aufgelegt, noch weniger mochte sie sich ausfragen lassen.

»Warum bist du aber denn hier?« fragte die Dame, ohne weiteres auf die Ursache des Verbotes einzugehen.

Da blitzte es auf in den großen dunklen Augen: »Weil ich so gerne singen höre!« Dazu ballte sich eine zierliche Hand zur Faust und die Lippen schlossen sich fest aufeinander, im trotzigen Unmute.

»Kann ich etwas für dich thun, mein Kind?«

»Nein.« –

»Sie ist kurz angebunden, diese ländliche Schönheit,« dachte Gräfin Mechtilde bei sich, aber sie war viel zu sehr Weib und Mutter, als daß sie dieses seltene Kind nicht interessiert hätte.

Sie bat mit einem Blicke den Lehrer zu sich heran. Er hatte die Schloßherrschaft nicht sobald bemerkt, als er die erste Pause in der Andachtsfeier benutzte, um sie ehrerbietigst zu begrüßen.

»Wozu singen heute Ihre Schülerinnen so schön, Herr Lehrer,« fragte sie nach freundlichem Gruße den jungen Mann.

»Es sind die Marienkinder meiner Schule, gnädige Gräfin; sie bringen gewöhnlich an einem Samstage jeden Monates der lieben Mutter Gottes ihre Huldigungen dar, durch Gebet und Lieder, im Sommer und bei gutem Wetter gehen wir hieher, sonst bleiben wir in der Kirche. Der hochwürdige Herr Pfarrer gesellt sich gerne zu uns und hält den Kindern eine kleine, herzliche Ansprache. Ich liebe diese Art Gottesdienst im Freien, es stimmt Gemüt und Natur so schön zusammen, und heute wollen wir nun unsre Bitten auf die Ernte richten, daß unsere Felder behütet und unversehrt bleiben vor Mißwachs, Unwetter und Hagelschlag, und daß das Brot gut und reichlich wachse in der schwellenden Ähre und die liebe Himmelsfrau uns dafür Regen und Sonnenschein erflehen wolle zur rechten Stunde.«

»Ich habe dort ein Mädchen stehen sehen, Herr Lehrer, das nicht mitsingt, warum that sie es nicht?« fragte die Gräfin und zeigte nach der Richtung, wo die Betreffende stand.

»Weil sie nicht darf, gnädigste Frau. Sie ist nicht brav genug, um unter die Marienkinder aufgenommen zu werden, und hat deshalb kein Anrecht, sich an der Andacht und dem Gesange zu beteiligen.«

»Ich finde sie aber nicht alltäglich, im Gegenteil, ich meine sogar, sie sei ein außerordentliches Kind?«

»Das ist auch der Fall, gnädigste Gräfin, sie ist eine der talentvollsten Schülerinnen.«

»Wer ist sie denn eigentlich?«

Aber noch ehe der Lehrer ihre Frage beantworten konnte, entstand eine lebhafte Bewegung unter den Kindern, der greise Ortspfarrer war in ihrer Mitte erschienen und der Lehrer eilte herbei, ihn zu begrüßen. Der freundliche Priestergreis sprach nun etliche kurze, aber innige Worte zu den anwesenden Mädchen, über die schöne Gewohnheit der Marienverehrung, sowie über die Macht ihrer Fürbitte bei Gott. »Wenn irgend eines aus uns,« sagte er, »ein Anliegen bei einem großen vornehmen Herrn vorzubringen hätte, würde er ganz gewiß zuerst die Mutter des Mächtigen aufsuchen und sie bitten, daß sie sich verwenden und ein gütiges Fürwort einlegen wollte in unsrer Sache. Wieviel leichter, wieviel vertrauender kann man mit der Mutter sprechen, als mit dem mächtigen Sohne, wieviel besser ihr alles sagen und klagen, als ihm.

Ebenso verhält es sich mit Maria, der Mutter Gottes. Sie kennt unsere Wünsche, weiß unsere Anliegen und fördert sie so gut als nur möglich, denn sie liebt die Kinder der Menschen und sorgt mit der Treue einer Mutter für sie.«

So beiläufig lautete seine Belehrung, dann sprach er ein kurzes Gebet, erteilte den Segen und ließ die Mädchen wieder einige Lieder singen.

Während dieses ganzen Vorganges hatte das Mädchen, das vorhin das Interesse der Gräfin erweckt hatte, auf seinem Platze still gestanden und fast kein Auge von den fremden Herrschaften verwendet. Wenn immer aber ihr Blick den der Gräfin traf, schaute sie rasch nach einer andern Richtung.

Auch Seraphine war begierig gewesen, näheres über das Kind mit den goldenen Haaren, wie sie sagte, zu erfahren. Sie winkte es mit der Hand zu sich herbei.

Zögernden Schrittes nahte sich die Gerufene ihrem Fahrstuhle. Seraphine neigte ihr ihr bleiches Gesichtchen grüßend entgegen, frug sie: »Wie heißest du?«

»Margareta, sie nennen mich aber Rita.«

»Willst du diese Blumen haben?« fuhr Seraphine fort, und reichte ihr einige wunderschöne Rosenknospen hin, die ihr vorhin der Lehrer geschenkt hatte.

»Ich pflücke mir selbst die Blumen, die ich mag,« war die mürrische Antwort.

Seraphine war von derselben überrascht, aber nicht empfindlich darüber, sie fühlte sich unwillkürlich zu diesem fremden Kinde, das ihr im Alter nahe zu stehen schien, hingezogen und bemitleidete seine Vereinsamung.

»Du bist glücklich, ich kann dies nicht« – gab sie wehmütig entgegen.

»Laß doch das unartige Geschöpf,« rief Kathrine voll Entrüstung darüber, daß man ihr süßes, engelsgleiches Phinchen, die junge Gräfin von Hohenfeldt, so zu behandeln wagte, und ein Blick tiefster Verachtung traf die Verhaßte.

Aber schon war das letzte Lied zu Ende gesungen, die Kinder stoben plaudernd und lachend auseinander, Pfarrer und Lehrer grüßten artig zur kleinen Damengruppe beim Feldkreuze herüber, und ehe sie sich's versehen, war der Platz, auf dem das fremde Kind gestanden hatte, leer – es selbst ihren Augen entschwunden.

»Ein seltsam zierliches Ding,« sagte die Gräfin und Seraphine stimmte ihr bei.

»Sie dauert mich, es ist als ob sie Liebe oder Verständnis brauchte und beides bisher schmerzlich entbehrt hätte.«

»Diesen Eindruck nahm auch ich von ihr, mein Liebling.«

»Ihr Engelsherzchen geht wieder einmal mit Ihrem klugen Köpfchen durch, mein Kind,« erlaubte sich Kathrine, die alte vertraute Dienerin des Hauses freimütig zu sagen, »ich muß schon gestehen, daß ich an dieser kleinen ungezogenen Person gar nichts Außerordentliches finde und ihr am liebsten für ihre vorige Antwort eine Strafe diktieren möchte.«

Lächelnd erhob Seraphine den Finger und drohte: »Wie, so hitzig ist meine Trine, und so wenig mitleidsvoll für ein armes Kind, das vielleicht keine richtige Heimat noch Erziehung hat?« Dann faßte sie die Pflegerin am Arme und machte den Versuch sich zu erheben. »Laß uns zu Fuß die kleine Strecke bis hin zum Feldkreuze zurücklegen, ich möchte gerne das Marienbild in der Nähe betrachten und meinen Kranz dort anbringen.«

Mit süßer Befriedigung hatte die Gräfin den Entschluß ihrer Tochter vernommen und beeilte sich, ihr auf jede Weise behilflich zu sein; zwischen ihr und Kathrine, doch aber allein und ohne Stütze schritt die liebe Kleine mutig dahin, ihr Köpfchen war ein wenig nach vorne geneigt, weil ihr diese Haltung besser behagte, und der elastische Wiesenboden sagte ihr recht wohl zu.

Beim Feldkreuze angekommen, knieten alle drei auf den davor angebrachten Schemel nieder und beteten mit warmer Inbrunst eine Weile still und andächtig.

Seraphinens Gedanke lenkte sich beim Verkehr mit Gott meistens nach dem geliebten Vater und aus tiefster Seele flehte sie, der Herr möge sich doch seiner erbarmen und das schwere Leid, das offenbar auf seinem Gemüte lastete, von ihm nehmen. Was mochte es denn nur sein? War's nur die Bitterkeit des Verlustes beim Tode des einzigen Sohnes? War's eine Schuld, die wie ein dunkler Schatten sich in seine Lebenstage drängte und jeden Sonnenblick verdüsterte?

Dieser Gedanke quälte sie Tag und Nacht.

»Nimm mein armes, krankes Leben,« betete sie wie schon oft, auch jetzt wieder aus der Fülle ihres Herzens, »gütiger Vater im Himmel, und schenke meinem guten Vater dafür wieder Glück und Freude!«

Liebliches Kind! Weißt du denn nicht, daß gerade die Sorge um dich eine neue, schwere Bürde zu der schon vorhandenen legte und daß es überhaupt kaum möglich sein dürfte, daß dem Grafen noch einmal Friede und Frohsinn beschieden werde in dieser Welt!

Seraphine hatte sich noch nie über ihre Befürchtung wegen des Vaters gegen die Gräfin ausgesprochen. Sie dachte gewiß richtig, daß sie sich beide auf der gleichen Sorge begegnen und ihrer armen Mutter das Herz vielleicht dadurch noch schwerer gemacht würde, ohne daß sie selbst Trost und Hilfe dadurch fände.

So trug eine jede von ihnen ihre Sorge still verschlossen in der Brust. –

Nach vollendeter Andacht erhoben sie sich wieder und traten den Rückweg zum Fahrstuhle an. Derselbe stand unverrückt auf der nämlichen Stelle, wo sie ihn verlassen hatte, nur hätte die Kleine beinahe einen Freudenschrei ausgestoßen, als sie auf dem Sitze einen Strauß frischgepflückter Maiglöcklein mit zartroten Heckenröslein zusammengebunden gewahrte.

Wer hatte ihn gepflückt? Und wer ihn hieher gebracht? So weit man ausblickte sah man keine menschliche Gestalt.

»Wie sonderbar!« sagte Seraphine und sog mit Entzücken den guten Geruch der weißen Glöckchen ein, »fast möchte ich meinen, mein Prinzeßchen Goldhaar hätte sie heimlich hinterlegt, was sagst du dazu, Mütterchen?«

»Dein Einfall befremdet mich nicht, ich glaube, ich soll dir beistimmen.«

»Aber um Gotteswillen, meine gnädigen Herrschaften,« rief Kathrine und schlug die Hände wie in Verwunderung zusammen, »nach allem was Sie von der kleinen Unart gesehen und gehört haben, liegt doch gerade solche Vermutung ferner als alles.«

.

»Und doch – hör' einmal, mein Lieber,« rief die Gräfin einen Bauernjungen an, der soeben des Weges und dicht an ihnen vorüber kam, »hast du niemand gesehen, der eben erst hier vorbeigekommen ist? Wir haben beim Feldkreuze gekniet, uns aber nicht fünf Minuten dort verhalten, kannst du nicht denken, wer meiner Tochter diesen hübschen Strauß hier schenkte?

»Ich hab' niemand gesehen,« gab der Junge zur Antwort, »als nur Eine, die schenkt aber niemand Blumen,« und er lachte verschmitzt.

»Und diese Eine?« fragen Seraphine und ihre Mutter wie aus einem Munde, »wer war sie?«

»Die Dorfhexe.« Mit diesen Worten zog das Bürschlein höflich grüßend seinen Hut und ging lustig weiter.


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