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Seit jenem Sonntage, da Rita die Buben aus H. von der Gemeindewiese fort zu ihrem Großvater geführt und ihn gebeten hatte, ihre militärische Ausbildung und Leitung zu übernehmen, hatten sie sich mit wenigen Ausnahmen beinahe jede Woche bei ihm eingefunden und mit großem Eifer seine Ratschläge und Ermahnungen befolgt.
Die schönen Fortschritte blieben auch wirklich nicht aus; bald zeigten sie Verständnis für all seine Kommandoworte und lernten seine Wünsche sowohl als seine Befehle auf das Genaueste kennen und beachten. Sogar Bürgermeisters Willy hatte sich nach und nach darein gefunden, dem strengen, erfahrenen Kriegsmanne zu folgen; anfangs war zwar gar leicht noch Trotz und Eigenwille zu Tage getreten; Willy bekam ein hochrotes Köpfchen, wenn er vor den andern getadelt wurde, ihr alter General aber behandelte seine ganze jugendliche Armee ohne Unterschied des Ranges und der Person.
Er lobte den armen kleinen Barfüßler und zankte mit dem reichen Bauernsohne; er duldete weder von dem einen, noch dem andern Widerspruch und Ungehorsam und gab jedem nach seinen Verdiensten. Wer sich nicht fügen mochte, wurde ausgeschieden, und es gab kaum etwas, was die Buben ärger fürchteten, als das Wort des alten Klaus: »Du bleibst mir das nächste Mal weg und kommst nicht wieder, bis ich dich rufen lasse.«
Die Mutter Notburga war eine große Kinderfreundin, und half dazu den Knaben manche unschuldige Freude zu machen. So bemühte sie sich, aus Zeitungspapier ziemlich gleiche Helme für die Soldaten herzustellen, und schmückte dieselben mit schmalgeschnittenen, über ein Messer gerollten Papierstreifen, als Federschmuck. Die Offiziere bekamen dieselben aus farbigem Papier und reicher als die gemeinen Soldaten. –
Das sah übrigens ganz hübsch aus, denn wirkliche Soldatenhelme waren überhaupt nur zwei in der ganzen Armee, der Freude und dem Heldengeiste jedoch, der ihr innewohnte, that dies gar keinen Abbruch.
Es war aber auch merkwürdig, wie das Soldatenblut noch immer so frisch und lebendig in des alten Veteranen Adern kreiste und wie er trotz seiner Jahre und seines verstümmelten Beines, vielleicht sogar eben deshalb, das Gefühl eines Helden zum Ausdruck brachte. Es war ihm, wie der Soldatenrock seinem Leibe, diese Gesinnung gleichsam zur zweiten Natur und von ihm unzertrennlich geworden.
Man erzählt von einer alten Frau, die in ihrer Jugend das Amt einer Kindsmagd versehen und die acht Kinder jener Familie, in deren Diensten sie stand, vom ersten Lebenstage an, gar liebreich besorgt hatte. Als nun diese Pfleglinge sämtlich erwachsen oder verheiratet waren und selbst wieder Töchter und Söhne hatten, hielten sie die treue Wärterin ihrer Kindertage hoch in Ehren, suchten ihr ihr Alter möglichst zu erleichtern und versahen sie so vollständig mit allem, was sie für den Rest ihrer Tage benötigte, damit sie nicht länger in Abhängigkeit leben und sich um gar nichts mehr zu sorgen und zu kümmern brauchte.
Was that aber die alte Lisbeth? Sie lockte die Kinder von der Nachbarschaft, ja selbst von der Gasse an sich, nahm sie mit sich in ihr kleines Stübchen, hielt sie reinlich und ordentlich und besorgte sie so gut sie nur immer vermochte; denen aber, die sie nach der Ursache solchen Verhaltens fragten, sagte sie, es sei ihr ganz unmöglich ohne Kinder zu leben, und ihr Denken und Sinnen, ihr Thun und Schaffen sei so absolut mit den Kleinen verwachsen, daß sie sicherlich sterben müßte, wollte man sie dieses Umganges ganz und gar berauben. Ein Jahr vor ihrem Tode war die alte Lisbeth schwachsinnig geworden, dabei aber so gutmütig, daß man es im Spital nicht für nötig fand, sie einer besonderen Aufsicht zu unterstellen und sie ganz einfach unbehelligt in ihrem Winkelchen unter den übrigen Pfründnerinnen forthausen ließ. Und was that da die gute Alte? Sie hielt eine Wickelpuppe in den Armen und schaukelte sie sachte hin und wider, schläferte sie ein und pflegte und besorgte sie wie ein kleines, etliche Monate altes Kindlein. Jetzt an der Marke ihres Daseins, durchlebte sie noch einmal den ganzen Zeitraum, da sie einstmals Kindermädchen gewesen war und ihre Lieblinge großgezogen hatte. Mit einer gewissen stolzen Befriedigung zeigte sie ihrer Umgebung das Gedeihen ihres Kindleins und wie es sich so schön an die Nahrung gewöhne, wie ihm die Milch so gut behage und dergleichen, sie bangte für den süßen Liebling als sie dachte, er müsse unter den ersten Zähnchen leiden, und entschlief in dieser rührend lieben, kindlichen Täuschung sanft und schmerzlos in's bessere Jenseits.
Nicht anders dachte und fühlte Klaus. Wenn immer in der Ferne sich der dumpfe Schall der Kindertrommeln oder die schrillen Rufe der Trompeter sich vernehmen ließ, stand er so hastig vom Stuhle auf als es sein Stelzfuß erlaubte, warf sich in die Brust, schritt gravitätisch nach der Thüre und pflanzte sich auf die Schwelle, um mit ernster voller Aufmerksamkeit das Anrücken der jugendlichen Armee – seiner Armee – wie er sie nicht ohne Selbstbewußtsein nannte, zu erwarten.
Schon gleich beim Beginn der Übungen hatte er, als wohlerfahrener, tüchtiger Soldat, die Waffen und Armatur der ihm unterstellten Rekruten eingehend geprüft und darauf hingearbeitet, daß eine gewisse Einförmigkeit und Gleichheit unter ihnen hergestellt werde, und war es ihm auch, soweit dies unter den gegebenen Verhältnissen möglich war, vollständig gelungen.
Wenn die jugendliche Schar nun anmarschiert kam, hielt Großvater Klaus zuerst genaue Musterung, rief die Namen auf und sah prüfend auf ihre stramme Haltung und tadellose Sauberkeit. Nicht einmal schmutzige Finger duldete er, und wo er solches bemerkte, mußte der unpropere Soldat sofort aus der Reihe treten, sich am Brunnen reinigen und durfte, bevor dies nicht ganz richtig und genügend vollzogen war, nicht mit den andern exerzieren.
Es war aber dann auch eine Freude, die vor Fröhlichkeit und Begeisterung strahlenden Gesichter zu beobachten, wie sie so eifrig und genau ihrem Anführer gehorchten und seine Mühe mit schönstem Erfolge belohnten. Auch Klaus schien niemals vergnügter als an solchen Sonntagen, und Rita stand alsdann dicht an seiner Seite, beobachtete jede Bewegung, jede Schwenkung und hätte gar zu gerne vom Anfange bis zum Ende alle Übungen mitgemacht, wenn nicht die Großmutter ihr ernstlich bedeutet hätte, es sei dies absolut kein Spiel für Mädchen und denselben nicht einmal zuständig.
»Gott behüte uns alle vor einem Kriege,« sagte die alte Frau bei solcher Gelegenheit zu ihrer Enkelin, »du weißt nicht, lieb Kind, was furchtbar Ernstes es um den Krieg ist, wie er eingreift in fast jedes Haus, jede Familie und den Frieden stört und die schönsten, liebsten Bande schonungslos zerreißt, und allen Wohlstand zerrüttet, denn meistens sind Hunger und Krankheit in seinem unausbleiblichen Gefolge.«
»Hat der Großvater in den Krieg gemußt,« frug Rita, »oder ist er freiwillig hineingegangen?«
»Freilich, mein Kind, freiwillig ging er. Er hatte schon vorher seine Militärzeit abgedient und war mit einem schönen, ehrenvollen Abschied in's Elternhaus zurückgekehrt, dem bereits alternden Großvater unter die Arme zu greifen und unser kleines Anwesen hier zu bestellen; dadurch ersparte er uns den kostspieligen Knecht. Als aber der große Franzosenkaiser die ganze Welt mit seinem Ruhm erfüllte, da ergriff unsre jungen Männer ein wahres Fieber, sich ihm anzuschließen, und auch meinen Bruder – doch frag' ihn selbst, er weiß es besser zu erzählen,« schloß die Großmutter, und Rita nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit den Großvater zu Rede zu stellen, wie er denn nach Rußland und zu seinem Stelzfuße gekommen war.
Schon am nächstfolgenden Sonntage führte sie ihr Vorhaben aus. Die Knaben waren heute ein bischen früher als gewöhnlich am kleinen Häuschen vor dem Dorfe anmarschiert und von Klaus rasch abexerziert worden; seine kleine Enkelin hatte ihn schon vormittags gebeten, daß er ihnen seine Lebensgeschichte erzählen möchte und ihm versichert, er würde selbstverständlich nur höchstbereitwillige Zuhörer finden.
So ließ er denn auch seinen Lehnstuhl hinaustragen in das Baumgärtlein, das sich an die Rückseite des Hauses anschloß und nahm neben Frau Notburga Platz; Rita saß auf einem Schemelchen zu Füßen der beiden alten Leute und hatte »Flunkerl« auf ihrem Schoße, ringsum aber standen die Buben und hingen mit gespanntester Aufmerksamkeit an den Lippen des Erzählers.
»Warst du noch recht jung, Großvater,« frug Rita, »als du fortzogst mit dem Franzosenkaiser?«
»Nein, Kind, ich hatte im Gegenteil meine Militärzeit bereits abgedient und war als der Sohn des Hauses zur Stütze der Eltern hier auf unserm kleinen Anwesen beschäftigt. Damals aber war der Name des siegreichen Kaisers Napoleon in aller Mund. Die ganze Welt hatte er in Aufruhr versetzt und in jedem Wirtshause, auf dem Lande ebensowohl als in den großen Hotels der Städte, redete man von nichts, als von seinem Ruhme und seinen Erfolgen, sowie von dem Glücke, das an seine Fersen geheftet, ihn nicht wieder verlassen zu wollen schien.
Allüberallhin war sein Name gedrungen. Er hatte gesiegt von der Weichsel bis nach Spanien, von der Eider bis Ägypten; er hatte den Kirchenstaat vernichtet und den Papst gefangen genommen, hatte Holland mit Frankreich vereint, Westfalen das neue Königreich geschaffen und aus Frankfurt ein Großherzogtum gemacht.
Auch mich erfaßte der Taumel, ich dachte und träumte nichts anderes mehr, als Napoleon.
Mit ihm wollte ich ziehen, unter seinen Fahnen dienen, fremde Leute, fremde Länder und Sitten kennen lernen, Ruhm und Ehre ernten, mit dem Unbesiegbaren siegen. Es litt mich nicht länger mehr zu Hause, wie ein Schlafwandler ging ich umher, ohne jede Freude an der Arbeit, und endlich meldete ich mich in der Truppe und zog meines Weges.«
»Großvater,« fiel ihm Rita in die Rede, »das hättest du nicht thun sollen.«
»Und weshalb nicht, Jungfer Naseweis?«
»Ich hätte mich so tot geweint, wenn du mein Sohn gewesen wärst, wie konntest du denn deiner armen Mutter solch ein Herzeleid anthun?«
Frau Notburga nickte zu diesen kindlichen Worten, die sie so tiefwahr empfand und wischte eine Thräne aus den Augen.
Klaus aber erwiderte: »Kind, das verstehst du nicht. Du begreifst nicht, was es um das Gefühl der Ehre ist, noch um das Verlangen nach Ruhm.«
»Nein, ich will's auch nicht begreifen,« war die mürrische Antwort, »aber du hattest es ja auch büßen müssen, armer Großvater, wenn ich dein hölzernes Bein hier betrachte, und denke, du kannst gar nie mehr laufen, wie andre gesunde Menschen – das ist wohl recht hart gewesen für dich.«
»Ja, mein Schatz, das war es, das ist nicht in Abrede zu stellen; besonders anfangs war es recht schwer. Aber zwei Dinge hatte ich, die mir über alles Schwere halfen, das eine drinnen in der Brust, das war das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht und meine unbefleckte Ehre als Soldat, das andre hier die goldene Medaille, ich hatte sie für besondere Tapferkeit erhalten und nicht für alle Schätze der Welt möchte ich sie vertauschen.«
Die Kinder schauten bei diesen Worten bewundernd auf den alten Mann, der ordentlich verjüngt vor ihnen saß, das Auge glänzend, das weiße, ehrwürdige Haupt erhoben wie im stillen Danke gegen Gott und der Erinnerung an die größten, erhabensten Tage seines Lebens – Rita aber erfaßte seine Hand und drückte sie stürmisch an ihr Herz. Dann rief sie voll freudigen Stolzes:
»Ja, ja, Großväterchen, diese funkelnde Medaille ist auch mein ganzes Entzücken; schon seitdem ich als kleines Mädchen zu euch gekommen bin, hätte ich's gar gerne gewußt, wie du damit ausgezeichnet wurdest, und jetzt mußt du uns allen die Freude machen und erzählen, wie das zuging.«
Näher drängten sich die Knaben, die Großmutter hielt ihr Strickzeug nachlässig in den Händen, sie schien gleichfalls gerne dem zu lauschen, was nun kommen sollte.
Klaus aber sagte ernst: »Was ich jetzt erzähle, ist der wichtigste Zeitabschnitt meines Lebens, nicht zu meinem Lobe will ich es euch sagen, sondern weil es vielleicht dem einen oder andern aus euch dienen mag, weil ihr daraus lernen könnt, daß man nur ein richtiges Ziel vor Augen, nur einen Pfad beschreiten soll in allen Verhältnissen und Vorkommnissen, nämlich den der Pflicht. Wer immer treu und redlich bemüht ist, seine Pflicht zu erfüllen um Gottes willen, den wird auch unser Herrgott nicht verlassen und müßte er noch soviel Jammer und Elend erfahren.«
»Frankreich und Rußland rüsteten also beide zu einem großen, furchtbaren Kriege. Die eigentliche Kriegserklärung von seiten des russischen Kaisers erfolgte übrigens erst, während wir schon einige Wochen gegen Osten marschierten.
Lange und ernstlichst hatte Napoleon um Rußlands Gunst geworben, als sich dieses aber schließlich mit England wider Frankreich verband, rückte der siegreiche Kaiser mutig vorwärts.
Nur mit großer Besorgnis dachte man allenthalben an einen solchen Krieg, in ein nur halb zivilisiertes Land, mit denkbar schlechten, klimatischen Verhältnissen und nur das Vertrauen, daß Napoleons Glücksstern noch niemals untergegangen sei und ihn auch diesmal zum Siege führen werde, ermutigte die bangen Herzen.
Bayern gehörte zu den verbündeten Staaten und mußte dem Heerrufe des Franzosenkaisers Folge leisten; ich glaube nicht, daß es der gute Vater Max, unser allgeliebter König gerne gethan hat, aber er konnte nicht anders, und ein schönes, wohl ausgerüstetes Heer ist's gewesen, das damals mit Napoleon gegen die Russen zog. Es war im Jahre 1812, als er eine halbe Million Soldaten über den Niemen, den russischen Eisfeldern zuführte.
Ich gehörte zum 1. Armeekorps, das der große General Deroy befehligte; leider mußte dieser kühne, hochgebildete Heerführer seine Stellung später an einen französischen General abtreten und sich dessen Befehle unterordnen.
Als der König von Italien und Stiefsohn Napoleons, Eugen, eine große Parade über uns alle abhielt, hob er die stramme Haltung und gute, richtige Ausstattung der Bayern ganz besonders lobend hervor; wir haben es auch mit allen übrigen Regimentern aufgenommen, nicht nur an unserer altbewährten Tapferkeit, wir waren auch vorzüglich gehalten an Kleidung und Verpflegung, so daß wir es sogar mit des Kaisers Lieblingen, seiner alten Garde aufnehmen durften. Ja, meine Kinder, solange wir noch innerhalb unseres bayerischen Vaterlandes waren, erging es uns gut, wir litten keine Not, auch unsere Pferde hatten hinreichend Futter und die Quartiere waren anständig und gut.
Nachdem aber die Grenze überschritten war, nachdem wir erst gar durch Polen marschierten – was fanden wir da! Verlassene, völlig leere, öde Wohnungen, die besseren Klassen der Bevölkerung waren offenbar geflüchtet und hatten alles, was sie mitschleppen konnten, mitgenommen, in jenen Häusern aber, wo noch lebende Menschen sich befanden, war eine so entsetzliche Not, Mangel am allernötigsten, überdies starrte alles von Schmutz und Ungeziefer; dazu kam auch noch schlechtes Trinkwasser, so daß unsere Leute massenhaft erkrankten. Vor unserem Überschreiten der russischen Grenze litten wir noch eine andere schwere Entbehrung, wir hatten nämlich weder Brod noch Salz, dagegen Fleisch im Überfluß, aber das Fleisch allein ohne Brotnahrung und ungesalzen war kaum zu genießen.
Meine lieben Jungen! Von all' dem, was ein braver Soldat, der gemeine Soldat sowohl als auch sein Offizier im Kriege entbehren muß, davon macht ihr euch keinen Begriff.
Viele meiner armen Kameraden mußten krank und elend in den Spitälern zurückbleiben und fanden es dort keineswegs besser, denn der gleiche Mangel machte sich überall in gleicher Weise geltend. Wenn man um ein Goldstück einen Sack Salz hätte bekommen können, man hätte es hingegeben, aber es war nicht zu haben und so mußte es schmerzlichst entbehrt werden.«
»Daß mir fein ja keiner von Euch mehr heikel ist, nachdem er jetzt meine Geschichte gehört hat!« unterbrach Klaus und drohte lächelnd mit dem Finger, und während es die armen Barfüßerbuben frei und offen versprachen und versicherten, sie wären gewiß dankbar für jede nur genießbare Gottesgabe, steckte des Bürgermeisters Söhnchen etwas verlegen den Kopf zu Boden; er hatte erst heute wieder zu Hause eine sehr gute Speise nicht angerührt, weil er sich aber etwas anderes erwartet und diese in letzter Zeit schon gar so oft bekommen hatte.
Die Großmutter hatte das wohl bemerkt und sagte jetzt leise zu ihm: »Gelt Willi, wenn dir wieder einmal etwas nicht behagen will, dann denkst du an die armen Soldaten im Kriege, die da mit all' ihrem Gelde, doch kein Salz und Brot hatten kaufen können, und so glücklich gewesen wären, hätten sie nur das gehabt, was du heute und schon so oft verschmäht hast.«
Willi schwieg, aber er sah nicht ärgerlich aus, vielleicht sogar ein bischen reuevoll, denn er hatte Frau Notburga gerne und war heute auch ein aufmerksamer Zuhörer gewesen. –
Klaus fuhr jetzt nach dieser kleinen Pause zu erzählen fort:
»Wir waren denn also bis nach Polotzk vorgedrungen und sahen dort die ersten russischen Vorposten. Auf einer Anhöhe, welche die kleine bei Polotzk gelegene Ortschaft Spas beherrschte, befand sich ein mit Gräben und Wällen gut verschanztes Schloß und dieses hielten wir besetzt. Wir waren nur zwölftausend Mann, Bayern und Franzosen, gegenüber dreißigtausend Russen, die unter dem Befehle des Generals Wittgenstein, auf uns losrückten.
Zweimal mußten sie vor unseren Geschossen zurückweichen, aber immer stürmten sie wieder an, mit kaltblütiger Entschlossenheit, das Äußerste zu wagen und das Schloß zu nehmen.
Endlich aber, nachdem die Feinde bis zum Kirchhofe, inmitten des Ortes vorgedrungen waren, wurden sie von den Bayern und Franzosen siegreich überwältigt.
Hier war es auch, wo ich mit nur einem kleinen Häuflein tapferer Bayern im heftigsten Kreuzfeuer eine zeitlang ausgehalten habe, bis Entsatz kam, und dafür Kinder habe ich die Tapferkeitsmedaille erhalten.«
Der alte Mann war bei diesen letzten Worten aufgestanden, und in's Haus gegangen, nach wenigen Minuten aber wiedergekommen und hatte ein kleines, ledernes Kästchen herbeigebracht, das die schön geprägte goldene Medaille enthielt. Mit sichtlicher Rührung verweilte sein Auge längere Zeit auf diesem Zeichen der Anerkennung von seiten seines Kaisers und Königs, und auch die Knaben schauten voll Bewunderung nach der wunderschönen Münze, dem Eigentume des alten Klaus.
»Ich habe dieses Denkzeichen erst später erhalten,« fuhr dieser zu erzählen fort, »und nachdem ich schon längst wieder bei den Meinigen hier in der Heimat war und zugleich mit ihr erhielt ich eine lebenslängliche Pension zugesichert, die mich vor Not und Hunger schützt.
Nun will ich aber wieder weiter fahren.
Der Kampf dauerte auf beiden Seiten eine gute Weile fort; hüben und drüben wurde kühn gefochten, kaltblütig mit Todesverachtung. Und die Wage des Kriegsglückes neigte bald nach dieser, bald nach jener Richtung.
Auf dem inmitten des Dorfes gelegenen Friedhofe wurde am allerhitzigsten gefochten; viele russische Geschosse schlugen in die Kreuze und Grabsteine ein, das Feuer der feindlichen Artillerie streckte ganze Reihen der unserigen nieder und endlich sank auch ich mit zerschmettertem Bein auf einen Hügel nieder. Noch erreichte der Ausruf: »die Russen fliehen, der Sieg ist unser!« mein Ohr, dann aber umnachtete sich infolge des großen Blutverlustes und der damit verbundenen Schwäche mein Geist, ich glaubte verworrenes Getöse, Läuten, Wasserrauschen und klingende Musik zu vernehmen und sank endlich in tiefe Ohnmacht, aus der ich erst am Verbandplatz wieder erwachte. Aber dann o Kinder! – dann war ich ein Krüppel! Mein linkes Bein war fort. Die fürchterlichen Schmerzen dieser Operation hatten mich wieder zum Bewußtsein zurückgerufen.
Habt ihr noch nie gehört, daß die Kranken weinen, wenn man ihnen eines ihrer Glieder abschneidet und wegtragen will?
Ich habe diese Wahrheit empfunden. Bittere, heiße Thränen habe ich geweint, als ich unweit von mir noch das Bein bemerkte, das man mir vom Leibe abgeschnitten hatte, und nun daran war, fortzuwerfen.
Es war doch ein Stück von mir! Es hatte bis jetzt zu mir gehört und teil gehabt an allen Leiden und Freuden meiner Kindheit und Jugend! Und jetzt mußte ich mich ohne seine Beihilfe bescheiden. –
Mit noch anderen schwerer und leichter Verwundeten bin ich zurückgebracht worden nach Wilna, wo sich das eigentliche Spital befand.
Daß es mir dort nicht zum besten erging, mögt ihr euch selbst denken. Was habe ich da durchgemacht! All' die schlaflosen, qual- und schmerzvollen Nächte und Tage!
Für mich war's vorbei mit dem ruhmreichen Feldzuge; ich hatte so schön geträumt, hatte vermeint, an dem Siegeswagen des unbezwinglichen Kaisers gekettet, in seiner Begleitung bis Petersburg zu gelangen, mir alles mitanzuschauen, eine Erinnerung für's ganze Leben! Mit einem einzigen Schlage waren alle diese Hoffnungen zunichte!
Ach, meine Jungens! Das war ein Elend!
Und doch was war das Elend eines Einzelnen, was war mein Elend gegen das des großen Eroberers selbst?
Ich hatte noch in Wilna gelegen, als ich die Schreckenskunde vernahm, die Russen hätten aus Vaterlandsliebe und um ihre heilige Stadt nicht den Feinden preisgeben zu müssen, Moskau angezündet.
Ihr General Rostoptschin soll diesen ebenso fürchterlichen als heldenmütigen Entschluß gefaßt haben.
Als nun Napoleon mit seiner abgehetzten, todesmatten und ausgehungerten Armee in Moskau einzog und die armen Soldaten hier gute Quartiere und Verpflegung erhofft hatten, nichts erblickten als leere Wohnungen, rauchende Stätten, weder Menschen noch Tiere, kein lebendes Wesen, einzig die Stille des Todes, das Schweigen des Grabes – da war zum erstenmale der erschreckende Gedanke aufgetaucht, auch der Stern des großen Eroberers könne einmal untergehen, auch sein Glück, sein Ruhm, den Höhepunkt erreicht haben.
Und wirklich war es so. Er verweilte zwar, durch langwierige Friedensunterhandlungen mit Rußland hingehalten, länger als es klug war in Moskau, mußte aber zuletzt doch den Rückzug antreten, und dieser soll mehr einer verwirrten Flucht als dem regelrechten Rückmarsche eines wohlgeordneten Heeres geglichen haben. Der Kaiser selbst floh in Verkleidung über die Grenze, tausende von Soldaten ertranken beim Überschreiten des kleinen Flusses Bereszina, nur noch ein ganz kleiner Rest jener so herrlichen Armee, die fast nur aus jungen, blühenden Männern bestand, erreichte die alte Heimat wieder.
Ich war einer dieser Wenigen. Nach längeren Wochen des Leidens und Elendes, schlug auch meine Erlösungsstunde und ich kam mit einem Invalidentransporte in der Heimat an. Wie klopfte mein Herz so weh hier unter dem Brustfleck, wie bangte mir vor dem Wiedersehen meiner Eltern!
Mit welcher Freudigkeit, welchen Hoffnungen war ich fortgezogen, jetzt kam ich heim in ärmlich schlechter Kleidung, mit elendem Schuhwerke, verwahrlost in der Wäsche, ein blutarmer Krüppel, der seinen Stelzfuß tragen mußte, weiß Gott, wie lange Jahre noch, durch ein ganzes, ganzes Leben!
Der Vater schüttelte mir stumm die Hand und kaum brachte er die etlichen Worte hervor: »Gott sei gelobt, weil du nur überhaupt wiederkommst!« Die Mutter aber weinte, als ob ihr das Herz brechen müßte. Ihr schöner, großer, hochgewachsener Sohn, auf den sie so stolz gewesen, war jetzt ein armer, verstümmelter Invalide, auf die barmherzige Hilfe der Menschen angewiesen! –
Das waren bittere Tage, meine Kinder und ich möchte sie nicht nochmals durchleben müssen! Aber wie denn im menschlichen Dasein immer ein Erlebnis das andere verdrängt, so vergaß man auch über die neuen großen Weltereignisse nur zubald des eigenen persönlichen Übels. Tausenden war es ja ebenso, ja noch viel schlimmer ergangen als mir, und er selbst, der Unbezwingliche sah sich plötzlich am Ziele seiner Siegeslaufbahn; er wurde schließlich nach der afrikanischen Insel St. Helena verbannt – wo er neun Jahre später einsam und verlassen starb. Gedachte ich nun seiner und so vieler anderer, die weit über mir standen, endlich auch all derer, die meinesgleichen waren, so gestaltete sich mein Schicksal viel weniger hart und grausam, dazu traf eines Tages dieser goldene Lohn meiner Tapferkeit für mich ein. Welche Freude war das! Ich wußte, was mir auch mein Gewissen bereits gesagt hatte, ich hatte meine Schuldigkeit gethan und man hatte dies bei meinen Vorgesetzten nun gleichfalls anerkannt.
Die wenigen Kameraden, die noch lebend mit mir zurückkehrten, bewunderten und beglückwünschten mich ob solcher Auszeichnung, das gab mir frischen Lebensmut – dazu gesellte sich die Gewohnheit, die größte Wohlthäterin der Menschen, ich lernte nach und nach geschickter gehen und mich mit dem hölzernen Bein allmählich leichter bewegen.
So flogen die Jahre dahin. Von meiner guten Schwester hatte ich lange nichts gehört, denn sie hatte sich, während ich in Rußland war, verheiratet; nachdem aber die Eltern gestorben waren und ich geraume Zeit hier allein gehaust hatte, kam Notburga wieder, sie war Wittwe geworden und nun führte uns Gottes Wille nochmals zusammen. Wir lebten ruhig und in Frieden miteinander, bis Rita als dritte in der kleinen Familie bei uns einzog, und nun wird's wohl auch so bleiben, bis unser lieber Herrgott mich einmal ruft in die große Armee im Jenseits.«
»Giebt's denn im Himmel auch Soldaten?« frug Rita über die letzten Worte erstaunt, ihren Großvater.
»Ich hoffe es, mein Kind, daß der Himmel uns ehrlichen Soldaten nicht verschlossen sein wird. Haben wir ja doch vielmehr gehorchen müssen als andere Menschen, und – seine Pflicht erfüllen heißt, ihm dienen.« –
»Ja, du kommst ganz gewiß hinein, das weiß ich jetzt schon«, eiferte das Kind, »was hätte ich denn angefangen, wenn du und die Großmutter mich nicht behalten hättet? Das wird Euch doch der liebe Gott vergelten und darum bete ich jeden Tag.«
»Bet't denn die schlimme Dorfhexe auch?« frug Willi spöttisch.
Rita aber lachte gutmütig und machte ihm eine lange Nase.
»Heute, wo uns der Großvater so viel Schönes erzählt hat, sollst du mich nicht wild machen können, du dummer Bub du, heut' will ich mich gar nicht ärgern, sondern lustig sein und unseren lieben, tapferen Invaliden leben lassen! Vivat hoch, der Großvater soll leben!«
Und »Vivat hoch« erscholl es frisch und hell aus all den jungen Kehlen und man schlug den Königsmarsch und schwenkte die Fahnen und so zog die kleine Schar nach einiger Zeit in bester Ordnung wieder zurück nach dem Dorfe.
Nachdem die Knaben fortgegangen waren, legte sich der alte Veteran in seinem Lehnsessel zurück und schloß die Augen. Schweigend verharrte er geraume Zeit in dieser Stellung und weder Notburga noch seine Enkelin wagten es, ihn zu stören. Seine Schwester traf in der Wohnung einstweilen die Vorbereitungen zum Abendessen und warf nur zuweilen einen aufmerksamen Blick nach dem Bruder, der so still und regungslos schien, als ob ihn die Erschöpfung übermannt hätte. Rita war in seiner Nähe geblieben, lautlos und ohne ihn zu stören. Endlich aber stieß sie ihn leise an und frug: »Großvaterle, bist du müde? war die Erzählung zu viel für dich?«
»Nein, mein Kind,« gab er zur Antwort, »ich habe heute wieder einmal jene wichtigsten und schwersten Tage meines Lebens durchlebt, und bin mir wieder auf's Neue bewußt worden, daß unser Herrgott immer alles recht macht, wenn man sich nur vertrauend seiner Hand übergiebt. Er hat's auch mit mir wohlgemacht! Gelobt sei er!« »Amen,« schloß Frau Notburga. Sie war herbeigekommen, zum Aufbruche in's Häuschen zu mahnen, denn es war spät geworden, und trotz der schönen Sommerszeit wurde es doch immer – wie das im Gebirge der Fall ist – empfindlich kühl, sobald die Sonne hinter den Bergen untergegangen war; des alten Mannes Bein aber bedurfte stets der Schonung und Aufmerksamkeit.
So verfügten sich denn alle drei in die Stube und suchten nach eingenommener Abendmahlzeit die Ruhe auf.
Rita fand lange keinen Schlaf. Mit weitaufgerissenen Augen lag sie auf ihrem Bette und ließ alles heute Vernommene nochmals an sich vorüberziehen. Der arme Großvater! Was hatte er doch alles erlebt und gelitten! – Endlich mischten sich verworrene Träume in ihr Wachen und sie sank in einen tiefen Schlaf.
Da erblickte sie den Großvater auf einem Grabe liegen und aus einer Wunde am Fuße strömte warmes Blut und färbte den Hügel rot, dann wieder fiel plötzlich ein Stern vom Himmel herunter, gerade auf die Brust des Verwundeten, der wurde zur goldenen Medaille, die der alte Herr am blauweißen Bande an hohen Festtagen zu tragen pflegte und Rita jubelte zu dieser ehrenvollen Dekoration!
Dann wieder ward er plötzlich ihren Blicken entrückt – sie sah ihn nicht mehr – dafür stand sie jetzt auf einem anderen Grabe, neben klein Lischen und hielt deren Hand in der ihrigen; gegenüber aber war Franz, der Anstreicher, der starrte sie ganz erschrecken an, wie er es neulich einmal gethan und deutete nach ihr, indem er ausrief: »Das Bild der Gräfin Helene im großen Saale des Schlosses!«