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Sechsunddreißigstes Kapitel

Auch nach der Unterredung mit Adrian wurde Dinny das Gefühl nicht los, derlei Pläne seien phantastisches Zeug; nur zu oft hatte sie Ähnliches in Romanen gelesen. Und doch gab auch die Geschichte von solchen Abenteuern Kunde, und erst die Sonntagsblätter! Der Gedanke an die Sonntagsblätter wirkte seltsam beruhigend auf sie und bestärkte sie in dem Entschluß, alles dran zu setzen, daß Huberts Sache nur ja nicht durch die Zeitungen geschleift werde. Immerhin übersandte sie gewissenhaft ihrer Schwägerin das türkische Elementarbuch, saß, wenn Sir Lawrence nicht zu Hause war, in seiner Bibliothek über den Landkarten und orientierte sich über den Fahrplan der Dampferlinien nach Südamerika.

Zwei Tage später verkündete Sir Lawrence beim Dinner, Walter sei vom Urlaub zurück, doch nach der Reise werde er gewiß nicht so bald eine so unbedeutende Sache in Angriff nehmen.

«Unbedeutende Sache!» rief Dinny. «Nur Huberts Leben und unser Glück stehn auf dem Spiel.»

«Liebes Kind, die Entscheidung über Menschenleben und Menschenglück gehört zur täglichen Beschäftigung eines Innenministers.»

«Ein abscheuliches Amt muß das sein. Mir würde davor grauen!»

«Darin liegt eben der Unterschied, Dinny, zwischen dir und einem Mann der Öffentlichkeit», erklärte Sir Lawrence. «Dem graut ja gerade davor, eines Tages vielleicht nicht mehr über Glück und Leben seiner Mitmenschen entscheiden zu können. Sag doch, sind alle Vorbereitungen getroffen, falls Walter Huberts Sache dennoch vornimmt?»

«Das Tagebuch ist im Druck – ich hab bereits die Korrektur gelesen. Das Vorwort ist auch schon geschrieben. Ich hab es noch nicht gesehn, doch Michael sagt, es werde wie eine Bombe wirken.»

«Bravo! Mr. Blythes Bomben schlagen stets ein. Bobbie verständigt uns, sobald Walter zu dem Fall kommt.»

«Wer ist Bobbie?» fragte Lady Mont.

«Eine Institution, meine Liebe.»

«Blore, laß mich nicht vergessen, daß ich um das Junge des Schäferhunds schreibe.»

«Jawohl, Mylady.»

«Wenn diese Kleinen im Gesicht stark weiß gescheckt sind, sehn sie so gottvoll närrisch aus. Hast du das nicht auch bemerkt? Und alle heißen Bobbie.»

«Unser Bobbie und gottvoll närrisch?! Dinny, was sagst du dazu?»

«Hält er denn immer seine Versprechungen, Onkel?»

«Jawohl, drauf kannst du deinen Kopf wetten.»

«Ich möchte gern einmal zuschaun, wie ein Schäferhund mit der Herde ins Gericht geht», bemerkte Lady Mont. «Ungemein klug sind diese Tiere. Man sagt, sie wissen ganz genau, welches Schaf sie nicht beißen dürfen. Und dabei sind sie so mager! Nichts als Haar und Intellekt! Henny hat ihrer zwei. Was macht übrigens dein Haar, Dinny?»

«Wie, Tante Emily?»

«Hast du dir dein abgeschnittnes Haar aufgehoben?»

«Jawohl.»

«Gib nur ja acht, daß es in der Familie bleibt. Vielleicht brauchst du's noch einmal. Es heißt, die alte Mode der langen Zöpfe kehrt wieder. Altmodisch und modern zugleich, verstehst du?»

Sir Lawrence zwinkerte. «Bist du das nicht seit jeher, Dinny? Drum möcht ich ja, daß du mir zu dem Miniaturbild sitzen sollst. Du zeigst das Beharrende im englischen Typus.»

«Welcher Typus?» fragte Lady Mont. «Werd nur ja kein Typus, Dinny. Typusse sind so fad. Mir hat einmal wer einreden wollen, Michael sei ein Typus, ich hab aber nie was davon bemerkt.»

«Onkel, bring doch lieber die Tante dazu, deinem Maler zu sitzen. Mit jedem Tag wird sie jünger, jünger als ich. Hab ich nicht recht, Tantchen?»

«Mehr Respekt, bitte! Blore, mein Mineralwasser!»

«Onkel, wie alt ist Bobbie?»

«Das weiß niemand genau, etwa gegen sechzig. Eines Tages wird man vielleicht sein Geburtsdatum entdecken, dazu wird man ihn aber sezieren und die Anzahl der Jahrringe feststellen müssen. Du hast doch nicht die Absicht, ihn zu heiraten, Dinny? Übrigens, Walter ist Witwer. Hat von irgendeinem Ahnen Quäkerblut geerbt und ist noch dazu bekehrter Liberaler. Der fängt Feuer.»

«Um Dinny muß man lange werben», erklärte Lady Mont.

«Darf ich mich jetzt verabschieden, Tante Emily? Ich möchte zu Michael hinüber.»

«Sag Fleur, ich komme morgen früh den kleinen Kit besuchen. Ich hab ein neues Spiel für ihn gekauft, es heißt ‹Parlament›: Verschiedene Tiere stellen die Parteien dar, alle quieken und brüllen in allen Tonarten drauflos und führen sich gar nicht salonfähig auf. Das Zebra ist Staatskanzler, der Tiger Finanzminister. Blore, ein Taxi für Miß Dinny!»

Michael war im Parlament, Dinny traf jedoch Fleur zu Hause und erfuhr von ihr, Mr. Blythes Vorwort befinde sich schon in Bobbie Ferrars Händen. Der bolivianische Gesandte sei zwar noch immer nicht zurück, doch sein Stellvertreter habe Bobbie Ferrar eine Unterredung zugesagt, um sich über die Angelegenheit zu informieren. Er habe so viel Höflichkeit an den Tag gelegt, daß seine wahren Gedanken Fleur ganz verborgen blieben; wahrscheinlich hatte er überhaupt keine.

Wie auf glühenden Kohlen kehrte Dinny zurück. Alles stand und fiel mit Bobbie Ferrar, und der war schon gegen sechzig, an so vieles gewöhnt; flammende Begeisterung brachte er gewiß nicht mehr auf. Doch vielleicht war das gut so, war ein Appell an das Gefühl gar nicht am Platz. Kühle Berechnung, der Hinweis auf unangenehme Folgen und leises Andeuten eines Vorteils taten vielleicht eher not. Was eigentlich die Behörden bei ihren Entscheidungen bestimmte, schien ihr völlig schleierhaft. Michael, Fleur und Sir Lawrence taten alle von Zeit zu Zeit, als wüßten sie es, und dennoch merkte Dinny, sie tappten genau so im dunkeln wie sie selbst. Alles hing von der augenblicklichen Stimmung des Würdenträgers ab. Sie ging zu Bett, fand jedoch fast keinen Schlaf.

So schlich noch ein weiterer Tag dahin. Aber als Dinny am nächsten Morgen beim Frühstück einen ungestempelten Briefumschlag mit dem Aufdruck ‹Ministerium des Innern› öffnete, fühlte sie sich neubelebt wie ein Schiffer, dem plötzlich frischer Wind die Segel bläht.

‹Geehrte Miß Cherrell!

Gestern nachmittag überreichte ich dem Innenminister das Tagebuch Ihres Bruders. Er versprach mir, es noch am selben Abend zu lesen, und heut um sechs Uhr soll ich bei ihm sein. Wenn Sie zehn Minuten vor sechs ins Ministerium des Äußern kommen, könnten wir zusammen hingehn.

Mit den besten Empfehlungen,
Robert Ferrar.›

Ach, noch einen ganzen Tag mußte sie überstehn! Jetzt hatte Walter bereits das Tagebuch gelesen, vielleicht auch schon die Entscheidung gefällt! Ihr war's, als sei sie bei einer Verschwörung im Bund und zum Stillschweigen verpflichtet, seit sie dieses formelle Schreiben in Händen hatte. Instinktiv sagte sie kein Wort davon, wollte sie allein sein, bis alles vorüber war. So ähnlich fühlte man sich wohl vor einer Operation. Sie schritt in den schönen Morgen hinaus und fragte sich: ‹Wohin nur? In die Nationalgalerie?› Nein, Bilder verlangten zuviel Aufmerksamkeit. Da fiel Dinny ihr Besuch mit Millicent Pole in der Westminster-Abtei ein. Fleur hatte dem Mädchen bei Frivolles einen Posten als Mannequin verschafft. Dorthin konnte sie jetzt gehn, die Wintermodelle besichtigen und dabei das Mädchen wiedersehn. Schön war es grade nicht, sich Kleider vorführen zu lassen, ohne etwas zu kaufen; das hieß doch, die Leute sinnlos plagen. Doch wenn Hubert freigesprochen wurde, wollte sie sich's leisten, tief in den Beutel zu greifen und ein ‹großes Abendkleid› zu kaufen; freilich würde dabei ihre nächste Rente draufgehn. Sie kämpfte also ihre Bedenken nieder, schlug den Weg nach der Bond Street ein, überquerte die schmale Verkehrsader und kam zum Warenhaus Frivolles; entschlossen trat sie ein.

«O bitte, Gnädige!» klang es ihr entgegen, während man sie treppauf führte und auf einem Stuhl Platz nehmen ließ. Den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, saß sie lächelnd da und sprach liebenswürdig mit der Verkäuferin; denn sie entsann sich, wie ihr eines Tags eine Angestellte in einem großen Geschäftshaus erklärt hatte: «Gnädiges Fräulein haben keine Ahnung, wie wohl es einem tut, wenn die Kundin lächelt und ein wenig Interesse zeigt. Mit vielen Damen hat man es so schwer – ach ja – unglaublich!» Die Modelle waren alle ‹dernier cri›, kosteten ein Vermögen und standen den Käuferinnen höchstwahrscheinlich elend, trotz der stets wiederholten Beteuerung: «Gnädige, diese Robe wird Sie entzückend kleiden, bei Ihrer Figur und Ihren Farben.»

Sie wußte nicht recht, ob es Millicent Pole nützen oder schaden würde, wenn sie nach ihr fragte, und ließ sich zunächst zwei Kleider vorführen. Im ersten, einer ‹Schöpfung› in Schwarz und Weiß, kam ein gertenschlankes, hochmütiges Mädchen mit hübschem Köpfchen und breiten Schultern hereingeschwebt. Die eine Hand ruhte an der Stelle, wo bei andern Leuten die Hüfte saß; sie wandte den Kopf zurück, vielleicht um nach der zweiten zu spähn. Ihr Gehaben erhöhte noch die Abneigung, die Dinny von Anfang an gegen dieses Kleid gehegt. Im zweiten, in Grün und Silber gehaltenen Abendkleid – es war das einzige, das Dinny, abgesehen vom Preis, wirklich gefiel – erschien Millicent Pole. Sie sah kühl und geschäftsmäßig drein und würdigte die Kundin keines Blicks; in ihrer Miene stand zu lesen: ‹Habt ihr eine Ahnung, was es heißt, den ganzen Tag nur immer im Unterkleid zu stecken und sich so viel Ehemänner vom Leib zu halten!› Doch bei einer Wendung gewahrte sie Dinnys Lächeln, ein Freudenschimmer huschte über ihr Gesicht, sie gab das Lächeln zurück und schritt lässig weiter. Dinny erhob sich, trat an das Modell heran, das nun wieder reglos wie eine Statue dastand, und nahm eine Falte des Kleids zwischen die Finger, als prüfe sie die Qualität des Stoffs.

«Freut mich, Sie wiederzusehn.»

Der rosige, üppige Mund des Mädchens lächelte anmutig. ‹Blendend sieht sie aus!› dachte Dinny.

«Ich bin mit Miß Pole bekannt», erklärte sie der Verkäuferin. «Sie bringt das Kleid prachtvoll zur Geltung.»

«Oh, gnädige Frau, es ist grade Ihr Stil. Miß Pole ist etwas zu schlank dafür. Wollen Sie nicht hineinschlüpfen?»

Dinny wußte nicht recht, ob das ein Kompliment sein sollte, und erwiderte:

«Ich – ich kann mich heut noch nicht entschließen, der Preis macht mir Bedenken.»

«Tut nichts, Gnädigste. Miß Pole, legen Sie das Kleid ab, die gnädige Frau will es probieren.»

Hinter einem Vorhang zog Millicent Pole das Kleid aus. ‹So ist sie noch blendender! Ich wollt, ich wär im Unterkleid auch so reizend!› dachte Dinny und ließ sich entkleiden.

«Gnädige Frau sind wundervoll schlank», schmeichelte die Verkäuferin.

«Wie eine Latte, nicht wahr?»

«Keine Spur, Gnädigste sind vollschlank.»

«Grad recht, find ich», warf Millicent eifrig ein. «Das gnädige Fräulein hat Stil.»

Die Verkäuferin schloß die Haken. «Vollendet, Gnädigste! Hier fällt es vielleicht etwas zu reich. Nun, das ist leicht zu ändern.»

«Ausgeschnitten ist es grade genug», murmelte Dinny.

«Das steht Ihnen aber ausgezeichnet, Gnädigste, bei Ihrem Decolleté.»

«Könnt ich Miß Pole auch noch in dem andern Kleide sehn, in dem schwarz-weißen?» fragte Dinny; sie wollte mit dem Mädchen allein bleiben, im Unterkleid schickte man sie gewiß nicht fort.

«Selbstverständlich, Gnädige, ich hol es sogleich. Miß Pole, sorgen Sie indessen für die Dame.»

Sie ging, lächelnd standen die beiden Mädchen einander gegenüber. «Nun, Millie, wie gefällt es Ihnen hier?»

«Ich hab mir's freilich anders vorgestellt, Miß.»

«Öde, wie?»

«Man malt sich eben alles anders aus. Könnte freilich weit ärger sein!»

«Ich kam nur, um Sie wiederzusehn.»

«Wahrhaftig? Aber hoffentlich kaufen Sie das Kleid, Miß. Es paßt Ihnen wie angegossen, Sie sehn darin entzückend aus!»

«Vorsicht, Millie, sonst steckt man Sie noch in die Verkaufsabteilung.»

«Puh, da bringen die mich nicht hinein. Lügen und wieder lügen!»

«Wo muß ich das Kleid aufhaken?»

«Hier – sehr einfach, nur eine Schließe. Sie können es ganz leicht selbst machen. Miß, ich hab das über Ihren Bruder gelesen; eine Schmach und Schand!»

«Jawohl», bestätigte Dinny und stand im Unterkleid wie ein Steinbild da. Plötzlich streckte sie die Hand aus und drückte des Mädchens Rechte. «Viel Glück, Millie!»

«Viel Glück, Miß!»

Kaum hatten ihre Hände einander losgelassen, da kam die Verkäuferin zurück.

«Bedaure, daß ich Sie vergeblich bemühte. Ich hab mich endgültig für dieses Kleid entschlossen, falls ich es erschwingen kann. Der Preis ist haarsträubend!»

«Finden Sie wirklich, Gnädigste? Es ist doch ein Pariser Modell. Will sehn, ob ich nicht Mr. Better dazu bewegen kann, Ihnen in der Preislage entgegenzukommen, weil Sie es sind; das Kleid ist für Sie wie geschaffen. Miß Pole, holen Sie doch, bitte, Mr. Better!»

Das Mädchen, diesmal in der schwarz-weißen ‹Schöpfung›, eilte hinaus.

Dinny hatte ihr Kleid wieder angelegt und fragte: «Pflegen Ihre Mannequins lang bei der Firma zu bleiben?»

«O nein, Gnädigste, dieses An- und Ausziehn den ganzen lieben Tag – eine ermüdende Beschäftigung.»

«Was wird aus ihnen?»

«Gnädige Frau, sie finden einen Mann, auf die eine oder andre Art.»

Wie diskret! Bald drauf erschien Mr. Better, ein schlanker Herr mit grauem Haar und vollendeten Manieren; er ermäßigte der ‹Gnädigen› den Preis so weit, daß er noch immer haarsträubend hoch blieb. Dinny erwiderte, sie werde sich morgen entscheiden, und trat in den blassen Novembersonnenschein hinaus. Noch sechs Stunden! Da schlug sie den Weg nach Nordosten ein, zur Pfarre Sankt Augustin im Grünen; unterwegs half sie sich über ihre Sorgen durch den Gedanken hinweg, daß alle Vorübergehenden, wie immer sie dreinsehn mochten, ebenfalls Sorgen hatten. Sieben Millionen Einwohner, alle irgendwie in Sorgen. Manchen Leuten waren sie anzusehn, andern nicht. In einem Schaufenster musterte sie ihr Gesicht und stellte fest, daß es ihren Kummer nicht verriet. Und dennoch fühlte sie sich elend. Das Menschenantlitz war doch wahrhaftig eine Maske! Sie kam zur Oxford Street und blieb am Rand des Fahrdamms stehn, ihn zu überqueren. Nicht weit von ihr stand, vor einem Lastwagen, ein Pferd mit knochigem Kopf und weißer Schnauze. Dinny streichelte ihm den Hals und bedauerte, daß sie keinen Zucker zur Hand hatte. Das Pferd schien ihre Liebkosung gar nicht zu bemerken, sein Lenker auch nicht. Weshalb hätten sie auch drauf achten sollen? Jahraus, jahrein trabten sie durch diesen Wirbel, fuhren und hielten, hielten und fuhren, langsam, mühsam, ohne Hoffen auf Erlösung, bis sie eines Tags umsanken und weggeschafft wurden. Ein Schutzmann mit weißem Ärmel gab durch eine Armbewegung die Bahn für die Fuhrwerke frei; der Kutscher zog an, und sein Gespann fuhr weiter, hinterdrein ratterten Autos in langer Reihe. Dann streckte der Schutzmann den Arm in andrer Richtung, Dinny überquerte den Fahrdamm, wandte sich in die Tottenham Court Road und blieb wieder wartend stehn. Welch brausender Strom, wieviel Menschen, wieviel Wagen! Wohin trieben sie – zu welchem dunklen Ziel? Was kam am Ende dabei heraus? Eine Mahlzeit, eine Zigarette, in einer Kinovorstellung ein Blick ins sogenannte Leben, ein Bett am Ende des Tags. Millionen erfüllten treu oder lässig ihre Pflicht, um den Hunger zu stillen, ein wenig zu träumen, und dann dieses Tagwerk von neuem zu beginnen. Wie unerbittlich war doch das Leben! Dinny spürte ein leises Pressen in der Kehle und tat einen halblauten Seufzer.

«Verzeihung!» bat ein dicker Passant, «ich bin Ihnen wohl auf den Fuß getreten, Miß?»

«Nein», lächelte sie, da hob der Schutzmann den weißen Ärmel, sie kreuzte die Fahrbahn und ging die Gower Street entlang, die so öd und trostlos dalag, daß Dinny im Laufschritt dahineilte. Wie hieß es doch in dem Negerlied: ‹Und noch ein Fluß und noch ein Fluß, den ich müder Wandrer durchwaten muß.› Dann kam sie endlich nach Sankt Augustin im Grünen, in jenes Gewirr von Gassen und Gossen voll verwahrloster Kinder.

Im Pfarrhof traf sie Tante und Onkel ausnahmsweise beide daheim beim Lunch und nahm gleichfalls Platz. Sie empfand keine Scheu davor, mit ihnen über die bevorstehende Operation zu sprechen, die beiden waren an ‹Operationen› nur zu gewöhnt.

«Der alte Tasburgh und ich bewogen Bentworth zu einer Unterredung mit dem Minister des Innern», erzählte Hilary. «Heut abend schrieb mir der ‹Squire›, Walter habe nur geäußert, er werde diesen Fall streng unparteiisch behandeln, ohne Rücksicht auf Ansehn der Person. ‹Ansehn der Person› – wie das klingt! Hab mir's doch immer gedacht, der Kerl hätte Liberaler bleiben sollen!»

«Ich wollte, er ginge wirklich streng unparteiisch vor!» rief Dinny, «dann wäre Hubert gerettet. Dieses Liebäugeln mit der sogenannten Demokratie ist mir in die Seele zuwider. Einen Chauffeur hätte er wegen Mangels an Beweisen enthaften lassen.»

«Das ist die Reaktion auf unsre Vorrechte in der Vergangenheit; sie schießt wie jede Reaktion übers Ziel hinaus. In meiner Jugend warf man dem Adel noch mit gutem Grund seine Privilegien vor; heute ist's umgekehrt, vornehme Herkunft wird vor dem Gesetz zum Nachteil. Aber ungemein schwer ist es, in der Mitte zu lavieren – man gibt sich alle Mühe, unparteiisch zu sein, und bringt es doch nicht zustande.»

«Auf dem Weg zu euch, Onkel, hab ich mir die Frage vorgelegt: Was für einen Sinn hat es eigentlich, daß du, Hubert, Vater und eine Unzahl andrer Menschen so treu ihre Pflicht erfüllen – abgesehn davon, daß ihr dadurch euer Brot verdient?»

«Frag doch deine Tante!» erwiderte Hilary.

«Tante May, was hat es für einen Sinn?»

«Ich weiß nicht, Dinny. Man hat mich im Glauben erzogen, daß es Sinn habe, drum halt ich auch dran fest. Wenn du verheiratet wärest und Kinder hättest, fändest du nicht Zeit, das zu fragen.»

«Hab mir's doch gedacht, Tante May, du würdest dich um die Antwort drücken. Nun, Onkel, was sagst du

«Ich weiß es auch nicht, Dinny. Die Tante hat recht, wir tun, was wir zu tun gewohnt sind. Das ist alles.»

«Hubert sagt in seinem Tagebuch, die Rücksicht auf andre diene im Grunde nur der Wahrung der eignen Interessen. Ist das richtig?»

«Diese Formulierung klingt freilich etwas schroff. Ich würde lieber sagen, wir alle sind so aufeinander angewiesen, daß die Sorge um das eigne Wohl auch Sorge um das Wohl der Mitmenschen erfordert.»

«Was ist denn überhaupt wert der Müh und Sorge?»

«Du meinst: Ist das Leben lebenswert?»

«Ja.»

«Die Menschheit ist vielleicht gegen fünfhunderttausend Jahre alt (Adrian meint, mindestens eine Million) und hat sich in diesem Zeitraum gewaltig vermehrt; ihre Zahl ist heut größer als je zuvor. Sag, hätte der vollbewußte, vernunftbegabte Mensch so viel Elend, so viele Kämpfe überdauert, wenn das Leben nicht dennoch lebenswert wäre?»

«Du magst recht haben», murmelte Dinny. «In London geht einem der Sinn für das rechte Maß verloren.»

In diesem Augenblick trat eine Hausgehilfin ein.

«Mr. Cameron möchte Sie besuchen.»

«Führen Sie ihn herein, Lucy. Dieser Mann, Dinny, wird dir helfen, das rechte Maß wiederzugewinnen. Er ist ein wandelnder Beweis für die unausrottbare Liebe zum Leben. Jede Krankheit unter der Sonne hat der schon durchgemacht, sogar Schwarz-Wasserfieber, hat drei Kriege und zwei Erdbeben überstanden und in allen möglichen Winkeln der Welt alle möglichen Berufe ausgeübt. Jetzt hat er eben wieder einen verloren, und obendrein ist er herzleidend.»

Mr. Cameron trat ein; er war ein kleiner, schmächtiger Mann gegen fünfzig, mit hellen, grauen Keltenaugen, graumeliertem, dunklem Haar und Adlernase. Die eine Hand trug er in der Schlinge, vermutlich hatte er sich den Daumen verstaucht.

«Hallo, Cameron!» rief Hilary und erhob sich. «Wieder im Gefecht gewesen?»

«Pfarrer, in meiner Straße gibt es ein paar Kerle, die gehn mit ihren Pferden niederträchtig um. Da hatte ich gestern eine Rauferei. Zusehn, wie ein braves Roß geprügelt wird, ein alter, abgerackerter Gaul –, das ertrag ich nicht.»

«Hoffentlich haben Sie dem Burschen gründlich eingeheizt.»

Mr. Cameron zwinkerte vielsagend.

«Ich hab ihm die Nase blutig geschlagen und mir dabei den Daumen verstaucht. Doch eigentlich, Sir, kam ich heut, Ihnen zu berichten, daß ich einen Posten bei der Gemeinde gefunden hab. Viel trägt er mir grade nicht, aber vorläufig hält er mich über Wasser.»

«Famos! Cameron, es tut mir wirklich leid, doch ich muß mit meiner Frau zu einer Versammlung. Bleiben Sie doch, bitte, und plaudern Sie mit meiner Nichte bei einer Tasse Kaffee. Erzählen Sie ihr doch etwas von Brasilien.»

Mr. Cameron sah Dinny mit bestrickendem Lächeln an.

Die nächste Stunde verfloß Dinny rasch und angenehm. Mr. Cameron verstand es, trefflich zu berichten. Er gab Dinny fast seine ganze Lebensgeschichte zum besten, von seiner Kindheit in Australien und der Anwerbung im Burenkrieg – damals war er sechzehn gewesen – bis zu seinen Erlebnissen im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Jedes Insekt, jeder Bazillus hatte irgendwann in seinem Körper genistet, er hatte Pferde, Chinesen, Kaffern und Brasilianer dressiert, sich Schlüsselbein und Schenkel gebrochen, war mit Gas vergiftet und in die Luft gesprengt worden, doch jetzt ging es ihm, wie er ausdrücklich hervorhob, wieder tadellos, abgesehen von einer leichten Attacke seines Herzleidens. Sein Gesicht schien von innen heraus zu leuchten, und seine Redeweise verriet keineswegs, daß er sich des Ungewöhnlichen seines Schicksals bewußt war. Augenblicklich war er für Dinny das denkbar beste Aufheiterungs- und Beruhigungsmittel, drum hielt sie ihn so lang wie möglich zurück. Als er fort war, trat auch sie mit frischem Mut ins Straßengewühl hinaus. Jetzt war es halb vier; noch zweieinhalb Stunden mußte sie also totschlagen. Sie wandte sich zum Regent's Park, an den Bäumen hingen noch wenig Blätter, in der Luft lag beißender Qualm von verbranntem Laub. Sie schritt durch die bläulichen Rauchschwaden hin, dachte an Mr. Cameron und gab sich redlich Mühe, ihre Schwermut niederzukämpfen. Was für ein Leben hatte dieser Mann hinter sich, wie frisch und heiter sah er seinem Ende entgegen! Sie schritt den Teich entlang, das Wasser blinkte im letzten Schein der Abendsonne; dann trat sie in den Marylebone-Distrikt hinaus. Da fiel ihr ein, sie müsse sich vor dem Besuch bei Walter noch ein wenig zurechtmachen, und sie beschloß, dies im Warenhaus Harridge zu besorgen. Es war halb fünf geworden, die Räume waren voll von Käufern; Dinny schritt durch das Gewühl hindurch, erstand eine neue Puderquaste, trank eine Tasse Tee und brachte Haar und Gesicht in Ordnung. Noch eine gute halbe Stunde! Dinny fühlte sich schon müde, dennoch ging sie zu Fuß weiter. Punkt dreiviertel sechs gab sie ihre Karte einem Bediensteten des Außenministeriums ab und wurde in ein Wartezimmer geführt. Dort gab es nicht einmal einen Spiegel, sie zog ihre Puderdose hervor und besah sich in dem runden, von Puderflecken getrübten Spiegelchen. Sie kam sich häßlich vor und wünschte, sie wäre hübscher. Ach was, sie ging ja nicht hin, Walter zu berücken, sondern um im Hintergrund zu sitzen und zu warten. Immer nur warten!

«Miß Cherrell!»

Bobbie Ferrar stand im Türrahmen und trug seine gewohnte Miene zur Schau. Dem lag freilich nichts dran! Warum auch?

Er tippte sich auf die Brusttasche. «Da drin ist das Vorwort. Gehn wir also?» Er schritt ihr voran; unterwegs sprach er über den Mord in Chingford. Ob sie den Prozeß verfolgt habe? Nein? Der Fall liege sonnenklar. Plötzlich fügte er hinzu: «Der Bolivianer mag nicht die Verantwortung übernehmen, Miß Cherrell.»

«Oh!»

«Tut nichts!» Er lächelte.

‹Seine Zähne sind tatsächlich echt›, dachte Dinny, ‹ich seh ein paar Goldplomben.›

Sie erreichten das Ministerium des Innern und traten ein. Ein Diener führte sie die breite Treppe empor und durch einen langen Gang in ein großes, kahles Zimmer; am Ende des Raums brannte in einem Kamin helles Feuer. Bobbie Ferrar schob einen Stuhl zum Tisch und fragte: «Den ‹Graphic› oder das da?» Er zog aus der Tasche einen dünnen Band.

«Beides, bitte!» erwiderte Dinny matt; er legte beides vor sie hin. Das Bändchen war die dünne, rotgebundne Ausgabe einiger Kriegsgedichte.

«Erste Auflage», erklärte Bobbie. «Ich hab sie nach dem Lunch wo aufgegabelt.»

«So?» sagte Dinny und nahm Platz.

Da öffnete sich die Tür zu den Innenräumen, ein Kopf guckte herein: «Mr. Ferrar, der Herr Minister läßt bitten.»

Bobbie Ferrar warf Dinny einen Blick zu, murmelte halblaut: «Mut!» und schritt gewichtig zur Tür.

Noch nie im Leben hatte Dinny sich so einsam gefühlt wie jetzt in diesem großen Wartezimmer, noch nie war sie über das Alleinsein so froh gewesen, noch nie hatte sie so gefürchtet, was ihr bevorstand. Sie schlug das Bändchen auf und las:

Da sah er über dem Kamin
In nettem Rahmen ein Plakat,
Für Kriegsverletzte, wie es schien,
Schuf dieses Merkblatt Hilf und Rat.

Drin stand genau der Preis zu lesen
Von Schulter-, Schenkel-, Hüftprothesen.
Den Offizieren, hieß es dann
In schwülstigem Amtsstil, spende man
Arme und Beine kostenlos,
Und wären hin auch alle zweie,
Ihr Schade sei darum nicht groß,
Man liefre ihnen gratis neue!
Dann steckte eine Pflegerin
Den Kopf zur Tür herein und sprach …

Plötzlich knisterte das Feuer und spie einen Funken aus. Dinny sah ihn am Rand des Kamins ersterben. Sie las noch einige Gedichte, ohne sie recht zu erfassen, dann schloß sie das kleine Buch und schlug den ‹Graphic› auf. Nervös durchblätterte sie ihn von der ersten bis zur letzten Seite und hätte von keinem einzigen der Bilder sagen können, was es darstellte. Ihr war's, als sinke ihr das Herz vor Angst stets tiefer; dieses Gefühl verdrängte schließlich alle andern Empfindungen. Sie fragte sich, ob es wohl schwerer sei, auf die eigne Operation zu warten oder auf die eines geliebten Menschen, und kam zu dem Schluß, das letztere müsse weit qualvoller sein. Stunden schienen verstrichen. Wie lang war Bobbie Ferrar jetzt tatsächlich bei Walter? Erst halb sieben! Sie erhob sich, stieß den Stuhl zurück und betrachtete die bärtigen Porträts der viktorianischen Staatsmänner an den Wänden, eines nach dem andern. So viele Gesichter, und dennoch starrte ihr aus jedem Bild stets das gleiche Diplomatenantlitz entgegen, nur die Bartkoteletten waren in verschiedenen Entwicklungsstadien festgehalten. Dann trat sie wieder zum Tisch, schob den Stuhl ganz dicht heran und setzte sich mit aufgestützten Ellbogen hin, das Kinn ruhte auf den Händen. Irgendwie brachte ihr diese verkrampfte Haltung Trost. Gott sei Dank, Hubert ahnte nicht, daß jetzt die Entscheidung fiel, litt nicht die Marter dieses Wartens! Sie dachte an Jeanne und Alan und wünschte von ganzem Herzen, sie möchten sich für das Schlimmste bereithalten. Denn mit jeder Minute wuchs die Gewißheit: Das Schlimmste trifft ein! Dann verfiel sie in dumpfe Betäubung, Mr. Ferrar kam wohl nie zurück, nie mehr, nie! Und wenn – er würde nur das Todesurteil bringen! Zuletzt legte sie die Arme flach auf den Tisch und preßte die Stirn darauf. Sie wußte nicht, wie lang sie so seltsam starr gesessen, da vernahm sie plötzlich ein Räuspern und schrak empor:

Vor dem Kamin stand – nicht Bobbie Ferrar, sondern ein hochgewachsner Mann, mit rötlichem, glattrasiertem Gesicht und silbrigem, zurückgebürstetem Haar, die Beine ein wenig gespreizt, die Hände unter den Rockschößen. Seine hellgrauen Augen glotzten sie an, auf den leicht geöffneten Lippen schien ihm eine Bemerkung zu schweben. Dinny konnte vor Schreck nicht aufstehn, sie saß nur da und erwiderte seinen starren Blick.

«Miß Cherrell, behalten Sie Platz.» Er zog die Hand hinterm Rockschoß hervor und hob sie abwehrend. Dinny war froh, daß sie sitzenbleiben konnte, sie bebte an allen Gliedern.

«Ferrar sagt mir, Sie hätten das Tagebuch Ihres Bruders herausgegeben.»

Dinny neigte zustimmend den Kopf. ‹Fassung!› sagte sie sich, ‹tief atmen!›

«Ist es in der ursprünglichen Fassung gedruckt?»

«Ja.»

«Wörtlich?»

«Ja. Kein Wort hab ich geändert oder weggelassen.»

Sie starrte ihn an und stellte fest, er habe runde helle Augen und eine etwas aufgeworfene Unterlippe. Fast war es ihr, sie stehe vor dem Angesicht Gottes. Sie erschauerte über den sonderbaren Einfall, und ihre Lippen verzogen sich zu einem leisen, verzweifelten Lächeln.

«Noch eine Frage, Miß Cherrell.»

«Bitte!» hauchte Dinny.

«Welche Abschnitte dieses Tagebuchs sind seit der Rückkehr Ihres Bruders entstanden?»

Dinny starrte ihn an. Dann sprang sie gekränkt auf. «Nichts! Gar nichts! Er schrieb alles an Ort und Stelle nieder.»

«Darf ich fragen, woher Sie das wissen?»

«Mein Bruder»– erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, daß sie nichts andres ausspielen konnte als ihres Bruders Wort – «mein Bruder hat es mir gesagt.»

«Und sein Wort bedeutet Ihnen das Evangelium?»

Ihr Sinn für Humor bewahrte sie vor einem Ausbruch, doch sie warf den Kopf zurück. «Jawohl, das Evangelium. Mein Bruder ist Soldat und –» Rasch hielt sie inne und starrte auf seine vorgeschobne Unterlippe – wie dumm von ihr, daß sie diese hohle Phrase gebraucht!

«Zweifellos, zweifellos. Doch Sie ermessen wohl die Bedeutung dieses Umstands?»

«Ich hab doch das Original –» stammelte Dinny. Ach, warum hatte sie es nicht mitgebracht? «Es beweist deutlich – ich meine, es ist ganz schmutzig und befleckt. Sie können jederzeit Einblick nehmen. Soll ich –?»

Wieder hob er abwehrend die Hand. «Nicht nötig. Sie sind Ihrem Bruder wohl sehr zugetan, Miß Cherrell?»

Dinnys Lippen bebten.

«Von ganzem Herzen. Wir alle.»

«Wie ich höre, hat er eben geheiratet.»

«Ja, vor kurzem.»

«Wurde Ihr Bruder im Krieg verwundet?»

«Ja. Ein Schuß ins linke Bein.»

«Keine Verletzung an den Armen?»

Wieder dieser empörende Verdacht!

«Keine!» Wie aus der Pistole geschossen klang diese Antwort. Eine halbe Minute, eine ganze Minute standen sie einander gegenüber und starrten sich an. Flehende, zornige, zusammenhanglose Worte drängten sich ihr auf die Lippen, doch sie hielt sie geschlossen, bedeckte sie mit der Hand. Er nickte.

«Danke. Miß Cherrell, danke.» Er neigte ein wenig den Kopf und schritt zur Tür zurück. Als er fort war, vergrub Dinny das Gesicht in die Hände. Was hatte sie getan? Ihn zum Feind gemacht? Sie fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Körper, dann stemmte sie die Arme in die Hüften und starrte, an allen Gliedern bebend, zur Tür, die sich eben hinter ihm geschlossen. Eine Minute verstrich. Dann öffnete sich die Tür wieder, und Bobbie Ferrar trat ein. Dinny sah seine Zähne blinken. Er nickte, schloß hinter sich und sagte: «Alles in Ordnung.»

Dinny schwankte ans Fenster. Dunkel war hereingebrochen, doch auch bei hellem Tag hätte sie nichts gesehn. Gerettet! Gerettet! Sie fuhr sich über die Augen, wandte sich um und streckte beide Hände aus, ohne zu wissen, wo Bobbie Ferrar stand.

Niemand ergriff sie. Dinny vernahm nur eine Stimme: «Ich bin wirklich froh!»

«Ich dachte schon, ich hätt es verdorben.»

Dinny blickte in seine runden Augen.

«Er hatte bereits den Entschluß gefaßt, sonst hätte er Sie gar nicht empfangen, Miß Cherrell. Am Ende ist er doch nicht gar so hartgesotten. Um die Mittagszeit besprach er sich mit dem Polizeirichter darüber – das war offenbar günstig.»

‹Dann hab ich diese Todesangst umsonst ausgestanden!› dachte Dinny.

«Mußten Sie ihm das Vorwort zeigen, Mr. Ferrar?»

«Nein – um so besser, vielleicht hätt es grade das Gegenteil bewirkt. Ich glaube, der gute Ausgang ist dem Richter zu danken. Sie, Miß Cherrell, haben übrigens auf ihn einen günstigen Eindruck gemacht. Er fand Sie ‹kristallklar›.»

«So!»

Bobbie Ferrar nahm das kleine rote Buch vom Tisch, sah es liebevoll an und steckte es in die Tasche. «Gehn wir?»

In Whitehall tat Dinny einen langen Atemzug und sog die Novemberabendluft ein wie ein Dürstender den ersehnten Trunk. «Ein Telegraphenamt!» rief sie. «Er kann sich's doch nicht mehr anders überlegen?»

«Er hat mir sein Wort gegeben. Heute abend ist Ihr Bruder frei.»

«Ach, Mr. Ferrar!» Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie wandte sich ab, sie zu verbergen, doch als sie sich wieder nach ihm umsah, war er fort.


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