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Eine Weile nach dem Lunch, zu dem Dinny und ihre Tante zu spät gekommen waren, schritt Adrian mit den vier jungen Damen einen Heckenweg entlang zu dem Platz, wo nachmittags die Treibjagd stattfinden sollte. Sie trugen die von den Jägern übriggelassenen Jagdstöcke, die sich in Klappsessel verwandeln ließen. Adrian ging mit Angela und Cicely Muskham, vor ihnen schritten Dinny und Fleur, die Frau von Dinnys Vetter Michael Mont. Beide hatten sich seit fast einem Jahr nicht gesehn und kannten einander nur wenig. Aufmerksam betrachtete Dinny den ‹hellen Kopf›, den die Tante ihr empfohlen. Er war wohlgeformt, aufrecht und trug einen kleinen Hut. Das hübsche Gesicht zeigte einen ziemlich harten, aber – wie Dinny fand – hochintelligenten Ausdruck. Die schlanke, tadellos gekleidete Gestalt erinnerte an eine Amerikanerin. Dinny fühlte, aus einem so klaren Quell könne man zumindest gesunden Hausverstand schöpfen. «Fleur, unlängst war ich auf dem Polizeigericht; dort las man ein von dir ausgestelltes Sittenzeugnis vor», begann sie.
«Ach, richtig! Das schrieb ich nur Onkel Hilary zulieb. Ich weiß von jenem Mädchen nicht das geringste. Sie verraten einem nichts. Manche Leute schleichen sich freilich in jedermanns Vertraun. Ich kann das nicht und will es auch gar nicht. Sag, sind die Mädchen bei euch auf dem Land zugänglicher?»
«Bei uns daheim haben alle Leute schon seit so langer Zeit mit unsrer Familie zu tun, daß wir von ihnen alles Wissenswerte früher wissen als sie selbst.»
Prüfend sah Fleur sie an. «Dinny, du verstehst gut mit den Leuten umzugehn. Wirst eine prächtige Gutsherrin und Ahnfrau abgeben. Wenn ich nur wüßte, wer dein Bild malen soll! Es wär an der Zeit, daß endlich einmal ein Porträtist auftaucht, der von den frühitalienischen Meistern etwas gelernt hat. Die Präraffaeliten haben keine Spur davon. Ihnen fehlen Rhythmus und Humor. Dein Bild müßte beides zum Ausdruck bringen.»
«Sag doch», fragte Dinny, «war Michael damals im Parlament anwesend, als Huberts Angelegenheit erörtert wurde?»
«Jawohl, er kam ganz verärgert heim.»
«Bravo!»
«Er wollte die Sache nochmals aufs Tapet bringen, doch zwei Tage darauf wurden die Sitzungen geschlossen. Was hat übrigens das Parlament schon zu bedeuten? Es ist ja doch das letzte, woraus man sich heutzutage etwas macht.»
«Mein Vater, fürcht ich, macht sich aus diesen Dingen entsetzlich viel.»
«Stimmt, er gehört ja zur ältern Generation. Von allen Parlamentsangelegenheiten interessiert weitere Kreise jetzt nur noch das Budget. Kein Wunder, alles läuft am Ende auf die Geldfrage hinaus.»
«Sagst du das auch Michael?»
«Unnötig, der weiß es selbst. Die Parlamentsmaschine produziert nur Steuern, nichts weiter.»
«Schafft doch auch Gesetze?»
«Allerdings, meine Liebe. Aber es tappt immer hinter den Ereignissen drein, bestätigt nur das, was schon längst allgemein gedacht oder getan wird. Eigene Initiative hat es nie. Wie denn auch? Das wäre ja undemokratisch. Sieh dir doch nur einmal die Verhältnisse im Inland an. Die sind das letzte, worum das Parlament sich kümmert.»
«Wer gibt denn die Initiative?»
«Wer? Hinter den Kulissen werden die Drähte gezogen. Ein höchst wichtiger Platz, die Kulissen. Wem möchtest du denn auf dem Anstand Gesellschaft leisten?»
«Lord Saxenden.»
Überrascht sah Fleur sie an: «Seine schönen Augen haben dir's wohl kaum angetan, sein schöner Titel auch nicht. Warum also?»
«Ich will mich Huberts wegen an ihn heranschlängeln und hab nicht viel Zeit dazu.»
«Aha. Laß dich von mir warnen, Liebe. Dieser Lord Saxenden ist durchaus nicht so harmlos, wie er aussieht. Er ist ein durchtriebener alter Fuchs, übrigens noch nicht einmal so alt. Gibt er etwas, so will er dafür auch etwas haben, und zwar sofort. Wie willst du ihn schadlos halten?»
Dinny schnitt eine Grimasse. «Ich will mein möglichstes tun. Onkel Lawrence hat mir schon ein paar Winke gegeben.»
«‹Hüte dich, Knabe, vorm Zauber der Maid!›» summte Fleur. «Ich geh jetzt zu Michael; der liebe arme Kerl schießt besser, wenn er mich in der Nähe weiß, Bentworth und mein Schwiegervater sind froh, wenn wir sie in Ruhe lassen. Cicely geht natürlich zu ihrem Charles, die beiden sind noch in den Flitterwochen. Angela wird also dem Amerikaner bleiben.»
«Hoffentlich blendet sie ihn so, daß jeder Schuß daneben geht», gab Dinny zurück.
«Kaum, der zielt sicher. Richtig, Adrian hab ich vergessen. Na, der wird auf seinem Jagdstuhl hocken und an Angela und vorsintflutliche Gebeine denken.» –
«So, da sind wir schon. Guck doch durch die Hecke. Dort sitzt Saxenden, einen famosen Platz hat man ihm zugeteilt. Steig über den Zauntritt und schleich dich von hinten an ihn heran. Den schlechtesten Platz an der äußersten Ecke hat man gewiß wieder Michael zugeschanzt.»
Sie verließ Dinny und schritt den Heckenweg hinab. Jetzt erst fiel Dinny ein, daß sie ganz vergessen hatte, Fleur wegen des Tagebuchs um Rat zu fragen. Sie ging zum Zauntritt, kletterte hinüber und schlich sich von der andern Seite behutsam an Saxenden heran. Der Lord stolzierte auf dem ihm zugewiesenen Fleck von einer Hecke zur andern. Neben einer hohen Stange, in die man einen Zettel mit einer Nummer eingeklemmt hatte, stand ein junger Jagdgehilfe mit zwei Gewehren, zu seinen Füßen lag ein Spürhund, dem die Zunge aus dem Maul hing. Die Rüben- und Stoppelfelder jenseits des Heckenwegs stiegen ziemlich steil an; für Dinny, die etwas vom Jagen verstand, war es klar, daß die von den Treibern aufgescheuchten Vögel hier hochfliegen konnten. ‹Wenn nicht am Ende Deckung dahinter liegt›, dachte sie, wandte sich und lugte nach jener Richtung aus. ‹Keine Deckung!› Sie stand auf einer ausgedehnten Grasfläche, das nächste Rübenfeld lag mindestens vierhundert Schritt weit. ‹Bin neugierig›, überlegte Dinny, ‹ob er besser oder schlechter schießt, wenn ein weibliches Wesen ihm zuschaut. Na, der sieht mir nicht danach aus, als hätt er Nerven.› Dann wandte sie sich wieder um und erkannte an seinem Blick, daß er sie bemerkt hatte. «Ich störe Sie doch nicht, Lord Saxenden? Ich werd ganz ruhig sein.»
Der Lord rückte ein wenig an der Jagdkappe, die vorn und hinten spitz auslief. «Schon gut!» brummte er. «Hm!»
«Das klingt nicht sehr ermutigend. Soll ich wieder abziehn?»
«Nein, nein, bleiben Sie nur! Nicht das kleinste Federvieh bring ich heut zur Strecke. Sie werden mir Glück bringen.»
Dinny ließ sich auf ihrem Jagdstuhl neben dem Spürhund nieder und spielte mit seinen Ohren.
«Dreimal hat mich dieser Kerl aus Amerika schon übertrumpft.»
«Wie geschmacklos von ihm!»
«Er schießt auf die unglaublichsten Vögel, doch hol's der Teufel, er trifft sie! Alles Federvieh, das ich verfehle, fliegt ihm vor den Schuß. Wie ein Wilderer geht er auf die Pirsch; erst läßt er die Tiere vorbei, dann wendet er sich rechts oder links um und trifft auf eine Distanz von achtzig Schritt. Wenn ihm die Vögel knapp vor dem Lauf schwirren, sieht er sie nicht deutlich, behauptet er.»
«Gelungen!» meinte Dinny; leise Anerkennung klang daraus.
«Mir scheint, er hat heute noch kein einzigesmal danebengeschossen», bemerkte Lord Saxenden ärgerlich. «Ich fragte ihn, wieso er denn gar so verteufelt gut schießt, und er erwiderte: ‹Auf den Expeditionen hab ich nichts zu essen, wenn ich nichts erjage. Da kann ich mir's nicht leisten, das Wild zu verfehlen.›»
«Jetzt geht's los, Mylord!» meldete der Forstgehilfe.
Der Spürhund begann zu keuchen. Lord Saxenden griff nach dem einen Gewehr, der Jagdgehilfe machte das andre bereit.
«Eine Kette Rebhühner, links, Mylord.» Dinny vernahm ein Surren und Schwirren und sah acht Vögel dem Heckenweg zufliegen. Bum-bum! Bum-bum!
«Herrgott im Himmel!» rief Lord Saxenden. «Was zum Teufel –!»
Dinny sah dieselben acht Vögel über die Hecke hinweg zum andern Ende der Wiese flattern. Der Spürhund stieß einen halb erstickten Laut aus und keuchte noch ärger.
«Das Licht muß hier gräßlich blenden!» meinte sie.
«Das Licht ist nicht dran schuld», erwiderte Lord Saxenden, «meine Leber.»
«Drei Hühner vorm Schuß, Mylord.»
Bum! – Bum-bum! Ein Vogel zuckte, bäumte sich, krümmte sich und fiel ein paar Schritt hinter Dinny zu Boden. Dinny spürte ein seltsames Würgen in der Kehle. Daß ein Wesen, das eben noch so lebendig war, so starr und tot sein konnte! Hühnerjagden waren ihr nichts Neues, doch noch nie hatte sie das Töten so stark empfunden wie diesmal. Die beiden andern Vögel strichen in einiger Entfernung über die Hecke, Dinny sah sie verschwinden und atmete erleichtert auf. Der Spürhund lief, den toten Vogel im Maul, zum Jagdgehilfen, der ihm das Tier abnahm. Dann setzte er sich auf die Hinterbeine und stierte mit heraushängender Zunge noch immer auf den toten Vogel. Dinny sah Speichel von seiner Zunge tropfen und schloß angewidert die Augen.
«Lechzt nach Blut!» murmelte Lord Saxenden kaum hörbar.
«Nach Blut!» wiederholte er noch leiser. Dinny schlug die Augen wieder auf und sah, daß er neuerlich das Gewehr hob.
«Eine Fasanhenne, Mylord», mahnte der junge Jagdgehilfe.
Ein Fasanweibchen flog in mäßiger Höhe hin, als wüßte sie, ihr habe die Schicksalsstunde noch nicht geschlagen.
«Hm!» brummte Lord Saxenden und legte den Gewehrkolben übers Knie.
«Wild in Sicht, rechts!» kündete der Jagdbursche. «Außer Schußweite, Mylord!»
Einige Schüsse knallten; Dinny sah zwei Vögel über die Hecke davonfliegen, der eine verlor dabei ein paar Federn.
«Getroffen!» rief der Jagdbursche, beschattete mit der Hand die Augen und verfolgte ihren Flug. «Fällt schon!» Der Spürhund begann zu keuchen und blickte zu dem Burschen auf. Zur Linken erdröhnten Schüsse.
«Verdammt!» knurrte Lord Saxenden, «mir kommt nichts vor den Schuß.»
«Ein Hase, Mylord!» schrie der Jäger, «dort an der Hecke!»
Lord Saxenden wandte sich rasch und hob das Gewehr.
«Nicht, nicht!» rief Dinny, doch der Knall übertönte ihren Ruf. Der Hase, hinten getroffen, hielt im Lauf inne, dann schleppte er sich noch ein paar Schritte weiter und heulte zum Erbarmen.
«Faß ihn, faß!» schrie der Jagdgehilfe.
Dinny hielt sich die Ohren zu und schloß wieder die Augen.
«Verdammt!» knurrte Saxenden, «ins Hinterteil getroffen!» Durch die geschlossenen Lider fühlte Dinny seinen kalten, starren Blick. Als sie die Augen wieder aufschlug, lag der Hase tot neben dem Rebhuhn. Wie unglaublich sanft er aussah! Plötzlich erhob sie sich, wollte gehn, besann sich aber und nahm wieder Platz.
Ach was, es war doch einerlei – ehe die Jagd nicht zu Ende war, mußte sie überall die Gewehrsalven hören. Wieder schloß sie die Augen, wieder knatterten Schüsse.
«Dort, Mylord, ein ganzer Schwarm!»
Lord Saxenden schoß, gab dem Jagdgehilfen das Gewehr zurück, und drei weitere Vögel lagen tot neben dem Hasen.
Ziemlich beschämt über ihre ungewohnte Empfindsamkeit, erhob sich Dinny, klappte ihren Jagdstuhl zu, ging zum Zauntritt, stieg drüber und wartete draußen auf ihren Partner.
«Zu dumm, daß ich diesen Hasen ins Hinterteil traf», bemerkte er. «Aber heut tanzen mir den ganzen Tag Trübungen vor den Augen. Sehn Sie auch manchmal trübe Flecken?»
«Nein, höchstens Flimmern. Dieses Winseln der Hasen ist entsetzlich, nicht?»
«Stimmt», erwiderte Lord Saxenden, «mag es auch nicht leiden.»
«Einmal sah ich bei einem Picknick einen Hasen, der machte hinter uns Männchen wie ein Hund. Seine Ohren schimmerten in der Sonne ganz rosenrot. Seither hab ich Hasen so gern!»
«Die Hasenjagd heißt nicht viel», gab Lord Saxenden zu. «Mir persönlich sind sie übrigens gebraten lieber als in Pfeffertunke.»
Dinny betrachtete ihn verstohlen. Er sah rot und zufrieden aus. ‹Jetzt leg ich los!› dachte sie. «Geben Sie den Amerikanern gegenüber je zu, sie hätten den Krieg entschieden, Lord Saxenden?»
Er starrte sie mit eisigem Blick an. «Wie käme ich zu dieser Behauptung?»
«Aber sie haben ihn doch entschieden?»
«Erklärt das vielleicht dieser Bursche, der amerikanische Professor?»
«Gehört hab ich's nicht von ihm, aber er denkt es bestimmt.»
Dinny sah wieder den argwöhnischen Ausdruck in seinen Zügen.
«Was wissen denn Sie von ihm?»
«Mein Bruder nahm an seiner Expedition teil.»
«Ihr Bruder? Aha!» Das klang, als sagte er laut zu sich: ‹Dieses junge Frauenzimmer will was von mir.›
Dinny hatte plötzlich das Gefühl, als gehe sie über eine ganz dünne Eisdecke. «Wenn Sie Professor Hallorsens Buch lesen», bemerkte sie, «dann lesen Sie hoffentlich auch das Tagebuch meines Bruders.»
«Ich lese überhaupt nie was», erklärte Lord Saxenden, «hab keine Zeit dazu. Doch jetzt erinnere ich mich, Bolivien – hat er nicht einen Mann niedergeknallt und den Verlust des Transports verschuldet?»
«Er hat diesen Menschen in Notwehr erschossen und zwei Leute wegen fortgesetzter Mißhandlung ihrer Maultiere prügeln lassen. Draufhin nahmen alle bis auf einen Reißaus und ließen auch die Maultiere mitgehn. Mein Bruder war der einzige Weiße unter einer Schar von Mestizen.»
Und plötzlich sah sie auf und blickte ihm tief in die kalten, listigen Augen. Sie entsann sich des Rats, den Sir Lawrence ihr gegeben: ‹Sieh ihn mit deinem Botticelliblick an, Dinny, mit dem Botticelliblick!› «Dürfte ich Ihnen etwas aus seinem Tagebuch vorlesen?»
«Schön, wenn ich Zeit dafür finde.»
«Und wann wäre das?»
«Morgen nach der Jagd reise ich ab. Vielleicht heute abend?»
«Wann es Ihnen beliebt, zu jeder Stunde», gab sie kühn zurück.
«Vor dem Abendessen ist es ausgeschlossen. Ich hab noch einige Korrespondenzen zu erledigen.»
«Ich bleib so lang auf, wie Sie wollen.» Dinny merkte, wie er sie mit schnellem Blick vom Kopf bis zu den Füßen maß.
«Wollen sehn», meinte er dann kurz. In diesem Augenblick holten die andern sie ein.
Dinny entrann glücklich dem Ende der Jagd und wanderte allein nach Lippinghall zurück. Ihr Sinn für Humor war erwacht, doch die Situation schien heikel. Schlau erfaßte sie, das Tagebuch werde wohl kaum den gewünschten Erfolg bringen, wenn Lord Saxenden nicht hoffen durfte, das Zuhören werde sich rentieren; klar wie noch nie ermaß sie jetzt, wie schwer es ist, etwas zu geben, ohne sich davon zu trennen. Von einem Strohschober zu ihrer Linken flatterte ein Schwarm Wildtauben auf und flog zu einem Gehölz an der Themse; die Sonne stand schon tief; es war kühler geworden, Vögel sangen ihre Abendlieder. Das Gold der sinkenden Sonne lag auf den Stoppelfeldern, das Laub begann sich erst ganz wenig zu verfärben. Tiefer unten glitzerte der Fluß wie ein blaues Band zwischen den Bäumen. In der Luft hing der Dunst und der prickelnde Duft des Frühherbstes. Aus den Dorfhütten stieg der beißende Rauch von Holzfeuern empor. Eine schöne Stunde, ein schöner Abend!
Welche Stellen des Tagebuchs sollte sie vorlesen? Unentschlossen sann sie nach. Wieder hörte sie Lord Saxenden sagen: ‹Ihr Bruder! Aha!›, sah wieder sein Gesicht vor sich mit den harten, fühllosen Zügen und dem berechnenden Ausdruck. Sir Lawrence Monts Bemerkung über jene Wochenendgesellschaft im Krieg fiel ihr wieder ein: ‹Und ob! Es gab solche Leute, meine Liebe! Unschätzbare Mitbürger!› Sie hatte unlängst die Memoiren eines Mannes gelesen, der den ganzen Krieg hindurch nur an Truppenbewegungen und militärische Berechnungen gedacht; kaum hatte er das erste Mißbehagen überwunden, gab er es gänzlich auf, an Elend und Leiden, die hinter diesen Truppenbewegungen und Zahlen steckten, auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Sein Wille, den Krieg zu gewinnen, trug über alles andre den Sieg davon; nach seiner Meinung gehörte es offenbar zum Handwerk, an die menschliche Seite des Kriegs überhaupt nicht zu denken, und wenn er sie vielleicht ab und zu mit einem Gedanken streifte, so war er doch gewiß außerstande, sie je ernsthaft ins Auge zu fassen. Unschätzbare Mitbürger! Schon öfters hatte sie Hubert mit spöttisch gekräuselten Lippen von den Strategen im Lehnstuhl sprechen hören; diese Kerle hatten am Krieg ihren Spaß, strategische Kombinationen und Ziffern dienten ihnen als Nervenkitzel. Sie waren stolz darauf, dies und jenes zu erfahren, noch ehe jemand andrer darum wußte, stolz auf die Wichtigkeit, die sie dadurch in den Augen der Leute gewannen. Unschätzbare Mitbürger! Dinny fiel ein Abschnitt aus einem andern Buch ein, das sie unlängst gelesen, ein Bericht über jene Männer, die die Menschheit auf der Bahn des sogenannten Fortschritts weiterbrachten: Bankdirektoren, Geschäftsunternehmer, Regierungsbeamte, die in Ziffern und Transaktionen aufgingen; unbedenklich schritten sie über Leichen und kümmerten sich um gar nichts, höchstens um den eigenen Leichnam. Sie heckten alle möglichen Pläne aus, skizzierten sie in Umrissen auf Papierblättern und befahlen dann allen möglichen Leuten: ‹Führ das durch! Du bist dafür verantwortlich!› Männer in Zylindern oder Pumphosen, die über das Wirtschaftsleben in den Tropen geboten, über Bergwerke, Riesenwarenhäuser, Eisenbahnbauten und Konzessionen in allen Teilen des Erdballs. Unschätzbare Mitbürger! Kaltblickende, gesunde, wohlgelaunte und wohlgenährte Burschen, die nicht unterzukriegen waren. Stets schmausten sie mit gutem Appetit, hielten sich stets auf dem laufenden und fragten nie danach, wieviel Menschenglück und Menschenleben ihre Geschäfte verschlangen. ‹Und dennoch›, dachte Dinny, ‹sind diese Kerle zweifellos von Wert, hätten wir denn ohne sie Kautschuk, Kohle, Perlen, Eisenbahnen, die Börse, Kriege und Siege?› Da kam ihr Hallorsen in den Sinn; der arbeitete und litt wenigstens für seine Ideen, stellte sich an die Spitze seiner Leute, blieb nicht hinterm Ofen hocken wie gewisse andere, die stets über alles genauestens orientiert waren, Schinken fraßen, Hasen ins Hinterteil schossen und andere herumkommandierten. Sie schritt zum Rasen vor dem Schloß und blieb beim Croquetplatz stehn. Tante Wilmet und Lady Henrietta stimmten offenbar schon wieder in dem einen Punkt überein, daß sie in keinem Punkt übereinstimmen konnten. Sie riefen Dinny als Schiedsrichterin an: «Erlauben das die Spielregeln, Dinny?»
«Nein, wenn die Bälle einander berühren, spielst du weiter, Tantchen, darfst aber Lady Henriettas Ball nicht fortstoßen, während du den deinen schlägst.»
«Hab ich's nicht gesagt?» fragte Lady Henrietta.
«Und ob du's gesagt hast, Henny! Na, da sitz ich ja nett in der Patsche! Ich für meine Person erlaube mir, andrer Meinung zu bleiben, und fahre fort», sagte Tante Wilmet, schleuderte ihren Ball durch ein Tor und stieß dabei neuerdings den Ball ihrer Gegnerin einige Zoll weit fort.
«Diese Frau kennt keine Skrupel», seufzte Lady Henrietta, und Dinny ermaß sogleich die großen praktischen Vorteile, die solche Eintracht in der Zwietracht bringen konnte.
«Tantchen, du kommst mir vor wie ein Grenadier», erklärte Dinny, «nur daß du vielleicht nicht ganz so oft den Satan anrufst.»
«Tut sie doch!» meinte Lady Henrietta. «Ihre Ausdrucksweise ist haarsträubend.»
«Vorwärts, Henny!» rief Tante Wilmet, sichtlich geschmeichelt.
Dinny verließ sie und schritt dem Hause zu. Sie trat ins Schloß, kleidete sich zum Dinner um und begab sich in Fleurs Zimmer.
Lady Monts Kammerjungfer fuhr eben mit einer kleinen Mähmaschine über Fleurs Nacken, während Michael im Türrahmen seines Ankleidezimmers stand und sich einen weißen Selbstbinder umlegte.
Fleur wandte den Kopf. «Hallo, Dinny, komm doch herein, nimm Platz! Genug, Kitty. Komm, Michael.»
Die Zofe verschwand. Michael trat näher und ließ sich von Fleur die Schlipsenden anordnen.
«So», erklärte sie befriedigt. «Nun», sie wandte sich an Dinny, «kommst du wegen Saxenden?»
«Ja. Ich soll ihm heut nacht Proben aus Huberts Tagebuch vorlesen. Es fragt sich nur: Wo soll diese Vorlesung stattfinden, und schickt es sich auch für meine Jugend und –»
«Unschuld? Still davon, Dinny! Gar so eine ahnungslose Unschuld warst du wohl nie. Was sagst du, Michael?»
Michael lächelte: «Unschuldig – nie, doch allzeit tugendhaft. Schon als kleines Küken warst du ein Englein, das es faustdick hinter den Ohren hatte, sahst immer drein, als fragtest du, wo du deine Flügel gelassen; nachdenklich warst du, nachdenklich.»
«Wahrscheinlich dachte ich, du hättest sie mir ausgerupft.»
«Höschen hättest du tragen sollen und Schmetterlinge jagen wie die beiden kleinen Mädchen auf dem Gainsborough-Bild in der Nationalgalerie.»
«Nun aber Schluß mit den Komplimenten!» gebot Fleur. «Der Gong hat schon geklungen. Ich stelle dir mein kleines Boudoir zur Verfügung, die Tür nebenan. Wenn du klopfst, wird Michael erscheinen, mit einem Pantoffel bewaffnet, wie zur Rattenjagd.»
«Ausgezeichnet», meinte Dinny, «aber Saxenden wird sich vermutlich lammfromm aufführen.»
«Kann man nie wissen», meinte Michael, «er hat was von einem Bock an sich.»
«Hier liegt die Kemenate», erklärte Fleur beim Hinausgehn. « Chambre séparée. Viel Vergnügen! …»