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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Auf einem Tummelplatz von Feinschmeckern, dem Lunchsaal des Piedmont-Hotels, saßen die Sachverständigen in verschiedenen Phasen der Sättigung und neigten sich einander so wohlwollend zu, als hätten sie im Essen das einigende Band ihrer Seelen entdeckt. Sie saßen zu zweit, gelegentlich auch zu viert und fünft; hie und da brütete ein Einsiedler über seiner Zigarre oder sah dem Treiben zu. Zwischen den Tischen trippelten die Kellner, ihre magern Gesichter blickten ausdruckslos und müde, sie mußten sich ja so viel merken! In einem Winkel saßen Lord Saxenden und Jeanne. Sie hatten bereits einen Hummer verzehrt, eine halbe Flasche Rheinwein getrunken und unterhielten sich im leichten Plauderton über belanglose Dinge. Da hob Jeanne die Augen vom Teller, auf dem eine abgeknabberte Hummerschere lag, und fragte: «Nun, Lord Saxenden?»

Seine blauen Augen glotzten ein wenig, als sie diesem Blick aus Jeannes dicht bewimperten Lidern begegneten.

«War der Hummer gut?» fragte er.

«Delikat.»

«Wenn ich gut futtern will, geh ich immer her. Kellner, wo steckt das Rebhuhn?»

«Sofort, Mylord.»

«Also los! Los! Versuchen Sie doch den Rheinwein, Miß Tasburgh! Sie trinken ja gar nicht.»

Jeanne hob den grünlichen Römer. «Seit gestern heiße ich Mrs. Hubert Cherrell. Es steht übrigens in der Zeitung.»

Lord Saxendens Züge verrieten den Gedanken: ‹Was bedeutet das für mich? Wie ist diese junge Dame amüsanter, ledig oder verheiratet?› «Sie haben sich beeilt», erklärte er und sah sie von oben bis unten prüfend an, als suche er irgendeine Veränderung an ihr zu bemerken. «Hätt ich das gewußt, ich hätte nicht gewagt, Sie ohne ihn zum Lunch zu laden.»

«Sehr liebenswürdig», gab Jeanne zurück, «er kommt ohnedies bald.» Und wieder warf sie ihm unter ihren Wimpern hervor einen Blick zu; nachdenklich leerte er sein Glas.

«Was gibt es Neues?» fragte sie.

«Ich habe mit Walter gesprochen.»

«Walter?»

«Dem Staatssekretär des Innern.»

«Ganz reizend von Ihnen!»

«Das will ich meinen! Den Kerl hab ich gefressen! Einen Schädel hat er wie ein Ei, nur daß ab und zu ein Haar drauf wächst.»

«Was hat er denn gesagt?»

«Verehrte junge Dame, ein Mann in Amt und Würden sagt nie etwas, höchstens, er werde sich's überlegen. Das gehört zu unserer Verwaltung.»

«Aber er hört natürlich auf das, was Sie sagen. Was haben Sie denn gesagt?»

Lord Saxendens eiskalte Augen schienen zu erwidern: ‹Da hört sich aber alles auf!›

Doch Jeanne lächelte, und das Eis seiner Blicke begann zu tauen.

«Sie sind das resoluteste junge Frauenzimmer, das mir je in den Weg kam. Also aufgepaßt! Ich erklärte ihm: ‹Machen Sie Schluß damit, Walter!›»

«Ausgezeichnet! Könnt ich ihn sprechen?»

Lord Saxenden begann zu lachen, wie man eben lacht, wenn man etwas ganz Köstliches kennenlernt.

Jeanne wartete, bis er damit fertig war, dann sagte sie: «Ich werd ihn also sprechen!»

Dann folgte eine Pause, in der das Rebhuhn beide in Anspruch nahm.

«Hören Sie», erklärte Lord Saxenden unvermittelt, «wenn Sie das wirklich vorhaben, so weiß ich einen Mann, der Ihnen ein Interview deichseln könnte, Bobbie Ferrar. Der hat viel mit Walter gearbeitet, als der noch Sekretär im Auswärtigen Amt war. Ich geb Ihnen ein Empfehlungsschreiben an Bobbie. Süßspeise gefällig?»

«Nein, danke. Aber Mokka, bitte. Da kommt Hubert.»

Hubert war eben dem Drehkäfig der Eingangstür entronnen und suchte offenbar seine Frau.

«Bringen Sie ihn, bitte, her!»

Jeanne sah unverwandten Blicks auf den Gatten. Sein Gesicht hellte sich auf, er trat auf die beiden zu.

«Sie haben in der Tat einen zwingenden Blick», murmelte Lord Saxenden und erhob sich. «Guten Tag! Sie haben eine ungewöhnliche Frau. Mokka gefällig? Der Kognak ist gut hier.» Er zog eine Karte hervor und schrieb darauf in klaren, festen Zügen: ‹Mr. Robert Ferrar, M. d. A., Whitehall. Lieber Bobbie! Meine junge Freundin Mrs. Hubert Cherrell wird Dich besuchen. Verschaffe ihr doch, wenn irgendmöglich, eine Unterredung mit Walter. Saxenden.›

Dann übergab er Jeanne die Karte und ersuchte den Kellner um die Rechnung.

«Hubert», gebot Jeanne, «zeig Lord Saxenden deine Narbe.» Sie öffnete den Manschettenknopf und schob ihm den Ärmel hinauf. Seltsam und unheimlich schimmerte der bläuliche Streif über dem weißen Tischtuch.

«Hm!» meinte Lord Saxenden, «ein nützliches Andenken.»

«Ab und zu spür ich sie jetzt noch», bemerkte Hubert und zog den Ärmel rasch herunter.

Lord Saxenden zahlte und bot Hubert eine Zigarre an.

«Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt davonlaufe. Bleiben Sie nur und trinken Sie Ihren Mokka! Leben Sie wohl, alles Gute!» Er drückte ihnen die Hand und bahnte sich zwischen den Tischen den Weg zum Ausgang. Die beiden jungen Leute sahn ihm nach.

«Solches Feingefühl dürfte sonst kaum seine Schwäche sein», erklärte Hubert. «Nun, Jeanne?»

Jeanne blickte auf. «Was bedeutet M. d. A.?»

«Ministerium des Äußern, du Mädchen vom Lande.»

«Trink den Kognak aus, dann wollen wir jenen Mann besuchen.»

Im Hof rief eine Stimme hinter ihnen her: «He, Hauptmann! Miß Tasburgh!»

«Meine Frau, Professor.»

Hallorsen faßte sie an den Händen.

«Ich hab ein Telegramm in der Tasche, das ist für Sie so wertvoll wie ein Hochzeitsgeschenk. Wunderbar, sag ich Ihnen!»

Über Huberts Schulter hinweg las Jeanne vor: «‹Entlastungszeugnis von Manuel beschworen und per Post abgesandt. Amerikanisches Konsulat La Paz.› Großartig, Professor! Wollen Sie nicht mit uns ins Auswärtige Amt, um mit einem Herrn in dieser Sache zu sprechen?»

«Gern! Nur kein Gras drüber wachsen lassen. Nehmen wir einen Wagen.»

Im Auto saß er ihnen gegenüber, strahlend vor Überraschung und Wohlwollen.

«Da sind Sie aber scharf ins Zeug gegangen, Hauptmann!»

«Jeanne war's.»

«Ja», sagte Hallorsen, als wäre sie gar nicht zugegen, «schon als ich sie in Lippinghall sah, dacht ich mir: ‹Die kann sich rühren!› Ist Ihre Schwester drüber froh?»

«Was meinst du, Jeanne?»

«Das will ich glauben!»

«Eine wunderbare junge Dame! Euer Außenministerium gefällt mir. Niedrige Gebäude haben auch ihre Vorzüge. Je mehr man in einer Straße von der Sonne und den Sternen sieht, um so höher steht die Moral ihrer Bewohner. Trugen Sie bei der Trauung einen Zylinder, Hauptmann?»

«Nein, einen gewöhnlichen Hut, wie jetzt.»

«Schade. Diese Angströhren sind so gediegen. Es sieht aus, als trüge man eine verlorne Sache auf dem Kopf. Sie stammen gewiß aus alter Familie, Mrs. Cherrell? Eure Gewohnheit, daß sich in manchen Familien der Dienst des Vaters auf den Sohn forterbt, flößt mir wirklich Ehrfurcht ein, Hauptmann, ich hätte das gar nicht für möglich gehalten.»

«Darüber hab ich noch nie nachgedacht.»

«In Lippinghall sprach ich mit Ihrem Bruder, gnädige Frau. Er sagte mir, schon seit Jahrhunderten gebe es stets einen Seemann in Ihrer Familie. Und in der Ihren, Hauptmann, hör ich, stets einen Soldaten. Ich glaube an die Vererbungstheorie. Ist hier das Auswärtige Amt?» Er sah auf die Uhr. «Bin wirklich neugierig, ob wir den Burschen treffen werden. Ich hab den Eindruck, die englischen Beamten erledigen den Großteil ihrer Arbeit bei den Mahlzeiten. Gehn wir vielleicht inzwischen in den Sankt-James-Park und sehn wir uns die Enten an.»

«Ich lasse diese Karte für ihn zurück», bemerkte Jeanne. Rasch holte sie die beiden dann wieder ein. «Er wird jeden Augenblick zurückerwartet.»

«Das heißt, etwa in einer halben Stunde», meinte Hallorsen. «In diesem Park gibt's eine Ente, die wollt ich Ihnen zeigen, Hauptmann.»

Als sie den Platz überquerten, um zum Wasser zu gelangen, wurden sie fast niedergerissen. Zwei Autos wären hier um ein Haar zusammengeprallt, offenbar behindert durch den ungewohnten freien Raum. Krampfhaft preßte Hubert Jeanne an sich, sein sonngebräuntes Gesicht war fahl geworden. Die Autos fuhren nach rechts und links weiter. Hallorsen, der Jeanne am andern Arm gepackt hatte, sagte noch gedehnter als gewöhnlich: «Das hätte fast unsern Plan umgeschmissen.»

Jeanne erwiderte gar nichts.

«Mitunter frag ich mich», fuhr Hallorsen fort, als sie am Teich angelangt waren, «ob wir denn wirklich durch unser Hasten etwas gewinnen. Was sagen Sie dazu, Hauptmann?»

Hubert zuckte die Achseln. «Jedenfalls verlieren wir durch die Fahrten mit dem Auto statt mit der Bahn fast ebensoviel Stunden, als wir dabei gewinnen.»

«Stimmt», erwiderte Hallorsen. «Aber das Fliegen bedeutet wirklich eine Zeitersparnis.»

«Warten wir erst die Verlustliste ab, eh wir uns rühmen.»

«Ganz richtig, Hauptmann. Wir jagen Hals über Kopf zur Hölle. Der nächste Krieg wird für alle Teilnehmer eine nette Zeit sein. Angenommen, es kommt zu einem Krieg zwischen Frankreich und Italien, dann gibt es in vierzehn Tagen weder Rom mehr noch Paris, noch Florenz, noch Venedig, noch Lyon, noch Mailand, noch Marseille. An ihrer Stelle dehnen sich dann vergiftete Wüsten. Und das vielleicht, ehe die Kriegsschiffe und Armeen den ersten Schuß abgefeuert haben.»

«Jawohl. Und alle Regierungen wissen das. Ich bin selbst Soldat, aber ich kann nicht begreifen, wozu wir Hunderte von Millionen für Heer und Marine hinauswerfen, die wahrscheinlich gar keine Verwendung mehr finden. Wenn die Lebenszentren eines Landes zerstört sind, kann es auch keine Armeen und Flotten mehr aussenden. Wie lange können Frankreich und Italien noch wirtschaften, wenn ihre großen Städte vergast sind? England und Deutschland bestimmt keine Woche.»

«Ihr Onkel, der Kustos, hat gesagt, wenn der Fortschritt der Technik so weitergeht, werden wir noch alle zu Fischen werden.»

«Wieso?»

«Ganz einfach, indem wir den Entwicklungsprozeß zurücklaufen. Fische, Reptilien, Vögel, Säugetiere. Jetzt lernen wir fliegen und werden wieder zu Vögeln. Und am Ende werden wir kriechen und krabbeln und wieder im Meeresschoß hausen, nachdem wir das Festland unbewohnbar gemacht haben.»

«Könnten nicht die Mächte durch ein Abkommen den Luftkrieg verbieten?»

«Ja wie denn?» fragte Jeanne. «Die Staaten trauen einander doch nie. Übrigens sind Amerika und Rußland gar nicht im Völkerbund.»

«Wir Amerikaner wären wohl dafür zu haben, aber unser Senat vermutlich nicht.»

«Euer Senat», murmelte Hubert, «scheint mir recht hart gesotten zu sein.»

«Na, ganz wie euer Oberhaus, eh man ihm im Jahre 1910 die Flügel stutzte.» –

«Da ist die Ente!», und Hallorsen wies auf einen eigenartigen Vogel.

«Ich hab den Gesellen in Indien geschossen», erklärte Hubert. «Es ist ein – ein – der Name liegt mir auf der Zunge. Wir könnten ihn auf einem dieser Täfelchen finden; wenn ich ihn lese, erinnere ich mich wohl daran.»

«Nein», wandte Jeanne ein, «es ist jetzt drei Uhr fünfzehn, er muß schon zurück sein.» Sie kümmerten sich also nicht weiter um die Ente und gingen ins Ministerium.

Bobbie Ferrars Händeschütteln war berüchtigt. Er riß seinem Gegner die Hand empor und ließ sie dann plötzlich los. Als Jeanne die Hand wieder frei hatte, sprach sie sofort von ihrem Anliegen. «Sie haben doch schon von diesem Auslieferungsbegehren gehört, Mr. Ferrar?»

Bobbie Ferrar nickte.

«Dieser Herr ist Professor Hallorsen, der Leiter der Expedition. Möchten Sie die Narbe meines Gatten sehn?»

«Recht gern», murmelte Bobbie Ferrar durch die Zähne.

«Zeig sie ihm, Hubert.»

Mit unglücklicher Miene entblößte Hubert wieder den Arm.

«Erstaunlich!» meinte Bobbie Ferrar. «Ich erzählte Walter davon.»

«Sie haben ihn schon gesprochen?»

«Sir Lawrence ersuchte mich darum.»

«Was hat Walter – das heißt der Minister des Innern dazu gesagt?»

«Nichts. Er hatte mit Saxenden gesprochen, er kann Saxenden nicht ausstehn, drum hat er den Akt ans Gericht weitergeleitet.»

«Oh! Wird es zu einer Verhandlung kommen?»

Bobbie Ferrar nickte und besah prüfend seine Fingernägel. Die beiden jungen Leute starrten einander an.

Hallorsen fragte ernst: «Kann man da keinen Riegel vorschieben?»

Bobbie Ferrar schüttelte den Kopf, seine Augen schienen kugelrund.

Hubert erhob sich. «Ich bedaure, daß ich jemanden mit dieser Angelegenheit behelligt habe. Komm, Jeanne!» Nach einer leichten Verbeugung wandte er sich um und schritt hinaus. Jeanne folgte ihm.

Hallorsen und Bobbie Ferrar standen einander gegenüber.

«Ich versteh mich nicht auf den Landesbrauch», sagte Hallorsen. «Was hätte man andres tun sollen?»

«Gar nichts», gab Bobbie Ferrar zurück. «Wenn es vor Gericht kommt, bringen Sie so viele Entlastungszeugnisse mit wie nur möglich.»

«Das tun wir jedenfalls. Mr. Ferrar, es hat mich sehr gefreut.»

Bobbie Ferrar grinste. Seine Augen schienen noch runder als früher.


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