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Elftes Kapitel

Als Dinny Hallorsens Blick auf sich und dem schlafenden Lord ruhen fühlte, stockte ihr einen Augenblick der Atem. Was mochte er nur jetzt von ihr denken, da er sie ertappte, wie sie sich um Mitternacht aus einem abgeschiedenen kleinen Zimmer von einem hohen Würdenträger davonstahl? Todernst sah er ihr in die Augen. Dinny hatte Angst, er könnte ‹Pardon!› rufen und den Schläfer wecken; drum schloß sie das Tagebuch, legte den Finger an die Lippen und flüsterte: «Pst! Baby schläft!» Dann entschwand sie durch den Korridor. In ihrem Zimmer lachte sie hell auf, setzte sich hin und überdachte die Ereignisse der letzten Stunde. Was mochte Hallorsen wohl von ihr denken? Vermutlich das Schlimmste, in demokratischen Ländern hat man ja vor Titeln und Würden besondern Respekt. Doch sie ließ ihm volle Gerechtigkeit widerfahren. Was immer er auch von ihr dachte, er würde es nicht weitererzählen. Wie immer er auch war, kleinlich war er bestimmt nicht! Sie hörte ihn schon morgens beim Frühstück in seinem ernsten Ton sagen: ‹Sie sehen blühend aus, Miß Cherrell. Wahrhaftig, eine Freude!› Auf einmal empfand sie Kummer darüber, wie schlecht sie Huberts Sache geführt, und ging zu Bett. Sie schlief unruhig, war beim Erwachen blaß und müde und nahm das Frühstück auf dem Zimmer.

Bei solchen Besuchen auf Landschlössern geht ein Tag ganz wie der andre hin. Die Männer tragen stets die gleichen bunten Krawatten und weiten Pumphosen, essen das gleiche Frühstück, klopfen auf dasselbe Barometer, rauchen die gleichen Pfeifen, schießen die gleichen Vögel. Die Hunde wedeln stets mit denselben Schwänzen, lauern unerwartet in denselben Winkeln, stoßen stets dasselbe winselnde Gebell aus, jagen auf denselben Rasenplätzen dieselben Tauben. Die Damen nehmen stets das gleiche Frühstück in oder außer dem Bett, schütten die gleichen Badesalze in die gleichen Bäder, spazieren durch denselben Park und sagen von den gleichen Freundinnen mit dem gleichen gehässigen Ausdruck: «Ich hab sie natürlich furchtbar gern!», besichtigen dieselben Portulakbeete, spielen mit gleichem Quieken die gleichen Tennis- und Croquetpartien, schreiben die gleichen Briefe, um die gleichen Gerüchte zu entkräften, hamstern die gleichen Antiquitäten, sind einträchtig in der Zwietracht und zwieträchtig in der Eintracht. Die Dienerschaft wird stets nur in den gleichen Momenten sichtbar. Und das Haus durchzieht stets der gleiche Geruch von Räucherwerk, Blumen, Tabak, alten Büchern und Sofakissen.

Dinny schrieb ihrem Bruder einen Brief, worin sie weder Hallorsen noch Saxenden noch die Tasburghs erwähnte, aber angeregt und lebhaft über Tante Emily, Boswell und Johnson, Onkel Adrian, Lady Henrietta und die andern Gäste zu plaudern wußte und bat, sie im Auto heimzuholen. Nachmittags kamen die Tasburghs zum Tennis. Erst nach der Jagd traf Dinny Lord Saxenden und den Amerikaner. Doch Saxenden starrte sie von seinem Teetisch im Winkel so lang und seltsam an, daß sie merkte, er habe ihr nicht vergeben. Sie verriet sich natürlich nicht, war aber im stillen recht verstimmt. Bisher, so schien es, hatte sie Hubert nur geschadet. Jetzt lasse ich Jeanne auf den Kerl los›, dachte sie und ging die ‹Leopardin› suchen. Unterwegs traf sie Hallorsen und erklärte hastig, um seine frühere Achtung zurückzugewinnen: «Wenn Sie gestern nacht etwas früher gekommen wären, Professor Hallorsen, hätten Sie mich hören können, wie ich Lord Saxenden ein paar Stellen aus Huberts Tagebuch vorlas. Vielleicht hätte es auf Sie mehr Eindruck gemacht als auf ihn.»

Hallorsens Miene erhellte sich. «Ach so!» erwiderte er. «Ich fragte mich schon, was für einen Schlaftrunk Sie dem guten Lord verabreicht hätten.»

«Ich wollte ihn auf die Lektüre Ihres Buches vorbereiten. Sie übersenden ihm doch ein Exemplar?»

«Kaum, Miß Cherrell. Mir ist es einerlei, ob er schläft oder wachliegt. Für einen Menschen, der während Ihrer Vorlesung einschlafen kann, hab ich, weiß Gott, nichts übrig. Was treibt denn eigentlich dieser Lord?»

«Was er treibt? Oh, der ist eine große Nummer. Ich weiß zwar nicht wo, aber mein Vater sagt, man muß mit ihm rechnen. Hoffentlich haben Sie heut sein Mißfallen erregt, Professor, denn je tiefer Sie in seinen Augen sinken, um so höher steigt die Aussicht meines Bruders, die Stellung, die er durch Ihre Expedition verlor, zurückzuerobern.»

«So? Üben denn persönliche Antipathien hierzulande so entscheidenden Einfluß?»

«In Amerika drüben vielleicht nicht?»

«Doch! Ich meinte aber, die alten Länder blieben durch ihre Traditionen davor bewahrt.»

«Na, zugeben wollen wir derartige Einflüsse natürlich nicht.»

Hallorsen lächelte. «Was da nicht alles ineinanderspielt! Bei uns daheim wäre es auch nicht viel anders. Es würde Ihnen dort bestimmt gefallen, Miß Cherrell. Ich würde Ihnen so gern eines Tages Amerika zeigen!»

Er hatte von Amerika gesprochen wie von einer Antiquität, die man zu Hause in der Truhe liegen hat. Dinny war der Sinn dieser Bemerkung nicht recht klar, vielleicht hatte sie gar keine Bedeutung, vielleicht eine unerhört große. Dann ersah sie aus seiner Miene, daß es sich doch um die große Bedeutung handle, und erwiderte, wobei sie ihm die Zähne zeigte: «Danke, Sie sind aber noch immer mein Feind.»

Hallorsen streckte die Hand aus, aber Dinny wich zurück. «Miß Cherrell, ich will alles tun, was ich kann, Sie zu einer bessern Meinung von mir zu bekehren. Ich stehe ganz und gar zu Ihren Diensten, doch hoffe ich, Ihnen eines Tages viel näher zu stehn.» Überwältigend groß, stattlich und kraftstrotzend stand er vor ihr; Dinny nahm ihm das geradezu übel.

«Keinesfalls darf man den Kopf hängen lassen, Professor, das führt zu nichts Gutem. Verzeihn Sie, ich muß jetzt Miß Tasburgh suchen.»

Und sie entschwand. Lächerlich! Rührend! Schmeichelhaft! Scheußlich! Ein Narrenturm, diese ganze Welt! Was immer man in die Hand nahm, gleich war es so heillos verworren. Am klügsten schien es schließlich noch, dem Glück zu vertraun!

Jeanne Tasburgh hatte eben eine Tennispartie mit Cicely Muskham beendet und entfernte ein Netz vom Haar.

«Kommen Sie doch zum Tee», mahnte Dinny. «Lord Saxenden sehnt sich schon nach Ihnen.»

An der Tür des Teezimmers wurde Dinny von Sir Lawrence aufgehalten. Er sagte, er habe sie noch kaum zu Gesicht bekommen, und lud sie ein, die Miniaturen in seinem Arbeitszimmer zu besehen.

«Meine Sammlung von Nationaltypen, Dinny, lauter Frauen. Sieh doch: Französin, Deutsche, Italienerin, Holländerin, Amerikanerin, Spanierin, Russin. Und von dir, Dinny, hätte ich auch gar zu gern ein Bild. Möchtest du wohl einem jungen Mann sitzen?»

«Ich?»

«Ja, du.»

«Warum denn?»

«Weil grade du die Antwort auf das Rätsel der englischen Dame zu geben vermagst», erwiderte Sir Lawrence und betrachtete sie prüfend durch sein Monokel. «Ich sammle nämlich die unterscheidenden Merkmale der einzelnen Völker.»

«Das klingt ja furchtbar aufregend.»

«Sieh dir einmal die da an, die Blüte der französischen Kultur. Rasche Auffassungsgabe, Witz, doch kein Humor, Fleiß, Entschlußkraft, Schönheitssinn, der auf die intellektuelle Sphäre beschränkt bleibt, nur konventionelle Gefühle, Besitzgier – beachte den Blick! Gutes Benehmen, Mangel an Originalität, klares, aber eng begrenztes Gesichtsfeld. Sie ist ganz und gar nicht verträumt, ihr Blut wallt rasch auf, doch weiß sie es zu zügeln. Einheitlich, in sich geschlossen. Hier hast du eine ausgeprägte Amerikanerin, Gipfel der Kultur ihres Landes. Sieht sie nicht aus, als hielte sie einen unsichtbaren Zaum im Munde? Sie hat eine elektrische Batterie in den Augen, läßt sie aber nur dann aufleuchten, wenn die ‹Moral› es erlaubt. Bis an ihr seliges Ende wird sie sich ausgezeichnet konservieren. Guter Geschmack, reiche Kenntnisse, nicht allzuviel gelehrte Bildung. Und hier die Deutsche: sie gibt sich mehr ihren Gefühlen hin, hat weniger Schliff als die beiden andern, dafür aber Gewissen, starken Arbeitswillen, ausgeprägtes Pflichtgefühl, nicht allzuviel Geschmack, etwas derben Humor. Wenn sie nicht auf der Hut ist, wird sie fett. Sie hat viel Gefühl, viel gesunden, klaren Hausverstand. Jedenfalls ist sie in jeder Hinsicht begabter als die beiden andern. Die da ist vielleicht kein besondres Musterbeispiel, ich kann aber kein besseres auftreiben. Hier mein Prachtexemplar einer Italienerin: interessant, schön gefirnißt, aber hinter dieser Fassade lauert etwas Grausames, oder sagen wir lieber: ungebändigte Natur. Sie trägt mit Grazie eine schöne Maske, die ihr aber gelegentlich herabgleiten kann. Sie weiß, was sie will, weiß es vielleicht nur zu gut, handelt, wo sie kann, nach eignem Ermessen, wo sie nicht kann, nach dem eines andern. Ist nur dann poetisch, wenn ihre Sinne erwachen. Starkes Gefühl für die Familie und gelegentlich auch für andere; Gefahren blickt sie unerschrocken ins Auge, doch versagen leicht ihre Nerven. Feiner Geschmack, dem aber arge Entgleisungen passieren können. Kein Sinn für die Natur, beachte den Zug da! Sie hat ein entschiedenes Urteil, doch mangeln ihr Fleiß und Erkenntnistrieb. Und nun», fuhr Sir Lawrence fort und faßte Dinny ins Auge, «werd ich bald mein Musterexemplar einer Engländerin haben. Soll ich dir von ihr etwas erzählen?»

«Gott steh mir bei!»

«Keine Sorge, ich will ganz unpersönlich sein: gut entwickeltes, ungewöhnlich beherrschtes Selbstbewußtsein. Das Ich ist für diese Dame ein ungebetner Gast. Sinn für Humor, gelegentlich auch Witz, der bisweilen alles übrige an der Entfaltung hindert. Zum Unterschied von unsern andern Typen verrät sie das Bestreben, nicht so sehr häusliche, als auch Arbeit auf öffentlichem und sozialem Gebiet zu leisten. So zart und durchsichtig scheint sie, als sei ihr Körper aus Luft und Tau gewoben. Sie ist nicht sehr präzis in Wissen, Urteil, Denken, Handeln, doch im gegebnen Fall handelt sie entschieden. Die Sinne sind nicht besonders stark entwickelt, ästhetische Empfindungen werden mehr durch Naturschönheiten als durch Kunstgegenstände wachgerufen. Sie ist nicht so fähig wie die Deutsche, nicht so klar denkend wie die Französin, schillert nicht so farbig wie die Italienerin, ist nicht so diszipliniert und zielbewußt wie die Amerikanerin. Doch sie hat etwas an sich – vielleicht findest du, liebe Dinny, dafür den richtigen Ausdruck –, was in mir den Wunsch erweckt, sie um jeden Preis in meiner Sammlung kultivierter Frauentypen vertreten zu sehn.»

«Ich bin doch nicht im mindesten kultiviert, Onkel Lawrence.»

«Ich gebrauche dieses verwünschte Wort nur darum, weil mir just kein beßres einfällt. Ich verstehe darunter nicht etwa gelehrte Bildung, sondern jenen individuellen Stempel, den Abstammung und Erziehung dem Menschen aufprägen, wohlgemerkt, Abstammung und Erziehung. Wenn diese Französin auch die gleiche Erziehung genossen hätte wie du, sie trüge darum doch nicht den Stempel deiner Wesensart, noch hättest du, Dinny, ihr individuelles Gepräge, wärst du auch in den gleichen Verhältnissen aufgewachsen wie sie. Sieh dir einmal diese Russin aus der Vorkriegszeit an. Unsteter und beweglicher als jede der andern Frauen. Ich hab sie bei einem Trödler in der Vorstadt erstanden. Diese Frau war gewiß von dem Verlangen erfüllt, tief in alles einzudringen, doch nie hielt dieser Wunsch lange vor. Sicherlich ist sie im Laufschritt durchs Leben gestürmt – und wenn sie nicht gestorben ist, stürmt sie vielleicht heute noch. Doch diese Jagd greift sie weniger an, als sie dich angriffe. Ihre Züge verraten dir, daß sie mehr erlebt hat und von diesem Erleben weniger mitgenommen wurde als jede meiner andern. Und hier siehst du meine Spanierin, vielleicht den interessantesten Typ der ganzen Sammlung: die Frau, die fern von der Gesellschaft der Männer aufwuchs; ein seltener Vogel heutzutage. Sanft und lieblich, etwas klösterlich, kein großer Wissentrieb, nicht viel Energie, sehr viel Stolz, ganz wenig Eitelkeit. Ihre Leidenschaft muß verheerend wirken – meinst du nicht auch? –, und sie läßt wohl nicht so leicht mit sich reden. Also, Dinny, willst du neben dem Jüngling sitzen?»

«Gewiß, wenn dir so viel dran liegt.»

«Freilich liegt mir dran, das ist nun einmal mein Steckenpferd. Ich werd die Sache einfädeln. Er kann zu euch nach Condaford hinauskommen. Jetzt muß ich zurück, darf bei Saxendens Abreise nicht fehlen. Hast du ihm schon einen Heiratsantrag gemacht?»

«Gestern nacht las ich ihn mit Huberts Tagebuch in Schlaf. Er kann mich nicht ausstehn. Ich wage es nicht, ihn um etwas zu bitten. Onkel Lawrence, ist er wirklich eine so große Nummer?»

Sir Lawrence nickte geheimnisvoll. «Saxenden ist der ideale Politiker», erklärte er. «Vorausfühlen kann er fast nichts, außer es dreht sich um sein eignes Ich. Ein Mann wie er läßt sich nicht unterkriegen; wie ein Kautschukmensch schnellt er immer und überall wieder in die Höhe. Na ja, der Staat braucht ihn eben. Wenn es keine Dickhäuter gäbe, wen sollte man dann auf die Throne der Mächtigen setzen? Harte Sitze sind das, über und über mit Messingnägeln beschlagen. Du hast hier also deine Zeit vergeudet?»

«Ich hab ja noch ein zweites Eisen im Feuer.»

«Famos! Hallorsen reist auch ab. Der Bursche gefällt mir. Durch und durch Amerikaner, aber ein Mann von echtem Schrot und Korn.»

Er verließ sie. Da Dinny weder den Kautschukmenschen noch den Mann von echtem Schrot und Korn zu sprechen wünschte, ging sie auf ihr Zimmer.

Am nächsten Morgen gegen zehn brachen die Gäste auf, wie gewöhnlich bei solchen Besuchen auf Landsitzen überraschend schnell. Fleur und Michael brachten Adrian und Angela in ihrem Auto nach London zurück. Das Ehepaar Muskham reiste mit der Bahn heim, der ‹Squire› und Lady Henrietta fuhren mit dem Auto quer durchs Land nach ihrem Gutssitz in Northamptonshire. Nur Tante Wilmet und Dinny waren zurückgeblieben. Die Tasburghs sollten mit ihrem Vater zum Lunch kommen.

«Ein liebenswürdiger Mann, Dinny», erklärte Lady Mont. «Alte Schule, ungemein höflich. Schade, daß sie kein Geld haben. Jeanne ist bezaubernd, findest du nicht auch?»

«Sie macht mir ein wenig Angst, Tantchen. Die weiß wahrhaftig, was sie will!»

«Ich finde es so amüsant, eine ‹Partie› zustande zu bringen; ich hab schon so lang keine Gelegenheit gehabt. Möcht wirklich wissen, was Conway und deine Mutter zu mir sagen werden. Vor Aufregung werd ich gar nicht schlafen können.»

«Fang erst Hubert ein, Tantchen, deinen Liebling.»

«Ich hab ihn immer gern gehabt. Er hat ein echtes Cherrell-Gesicht, du nicht, Dinny, ich weiß nicht, woher du deine Farben hast – und er sitzt so elegant zu Pferd. Wo läßt er seine Reithosen schneidern?»

«Tantchen, mir scheint, er hat sich seit dem Krieg keine neuen angeschafft.»

«Und er trägt so schöne lange Westen. In den anliegenden, kurzgeschnittenen Westen sehn die Männer so gedrungen aus. Ich schick ihn mit Jeanne zu den Terrassen, den Portulak besichtigen – das beste Mittel, zwei junge Leute zusammenzubringen. Ah! Da kommt Boswell und Johnson – den muß ich abfangen.»

Am frühen Nachmittag traf Hubert ein. «Dinny, ich hab mir die Veröffentlichung des Tagebuchs überlegt», begann er unvermittelt. «Es ist verdammt peinlich, seine Wunden vor aller Welt zu entblößen.»

Dinny war froh, daß sie noch keine weitern Schritte unternommen hatte, und erwiderte sanft: «Wie du willst, lieber Hubert.»

«Ich hab mir gedacht», fuhr er fort, «wenn ich hier keinen Posten finde, teilt man mich vielleicht einem der Sudan-Regimenter zu, oder der indischen Polizei – dort, scheint mir, herrscht an Offizieren Mangel. Ich werde Gott danken, wenn ich wieder aus England hinauskomm. Wer ist denn noch in Lippinghall?»

«Nur Onkel Lawrence, Tante Emily und Tante Wilmet. Der Pfarrer und seine Kinder kommen zum Lunch. Sie heißen Tasburgh, sind entfernte Verwandte von uns.»

«So!» rief Hubert verdrossen.

Fast boshaft beobachtete Dinny die Ankunft der Geschwister. Hubert und der junge Tasburgh fanden sofort heraus, daß sie beide in Mesopotamien und am Persischen Golf in Diensten gestanden. Inmitten des Gesprächs, das sich über dieses Thema entspann, wurde Hubert auf Jeanne aufmerksam. Dinny sah, wie er sie lange prüfend betrachtete, als sei sie eine neue Vogelart, wie er dann die Augen von ihr wandte, lachte und sprach, und wie sein Blick wieder zu Jeanne zurückglitt.

«Hubert ist aber mager!» ließ sich die Tante vernehmen.

Der Pfarrer streckte die Hände aus, als wolle er die Aufmerksamkeit auf sein wohlgerundetes Bäuchlein lenken. «Gnädige Frau», meinte er, «in seinem Alter war ich noch magerer.»

«Ich auch», erklärte Lady Mont, «schlank wie du, Dinny!»

«Wir nehmen unverdient an Umfang zu ha – ha! Sehn Sie sich einmal Jeanne an, gertenschlank; aber in vierzig Jahren – doch vielleicht wird die Jugend von heute nie korpulent. Die Schlankheitskuren, haha!»

Beim Lunch saß der Pfarrer Sir Lawrence an der verkürzten Tafel gegenüber, die beiden ältern Damen nahmen rechts und links von ihm Platz. Alan saß Hubert, Dinny Jeanne gegenüber.

«Vater, segne, was wir essen, daß wir Deiner nicht vergessen –»

«Ausgezeichnet, dieses Tischgebet!» flüsterte der junge Tasburgh Dinny ins Ohr. «Segen über den Tiermord, wie?»

«Hasenbraten gibt's heut», murmelte Dinny, «und ich war dabei, wie man den Armen erschoß. Er schrie so erbärmlich auf.»

«Ebensogern möcht ich Hundebraten essen!»

Dinny sah ihn dankbar an. «Wollen Sie uns nicht mit Ihrer Schwester in Condaford besuchen?»

«Geben Sie mir doch Gelegenheit!»

«Wann rücken Sie wieder zur Flotte ein?»

«Einen Monat hab ich Urlaub.»

«Sie hängen wohl sehr an Ihrem Beruf?»

«Ja», erwiderte er schlicht. «Diese Neigung ist mir angeboren, wir hatten immer einen Seemann in der Familie.»

«Und wir immer einen Soldaten.»

«Ihr Bruder ist unerhört kühn. Ich bin so froh, daß ich ihn kennenlernte.»

«Danke, Blore», sagte Dinny, als der Diener den Hasen anbot. «Kaltes Rebhuhn, bitte. Auch Mr. Tasburgh möchte kaltes Fleisch.»

«Roastbeef, Sir, Lammbraten, Rebhuhn.»

«Rebhuhn, bitte.»

«Ich hab einmal einem Hasen zugesehn, wie er sich die Ohren putzte», bemerkte Dinny.

«Wenn Sie so dreinsehn wie jetzt, dann –», rief der junge Tasburgh.

«Wie seh ich denn drein?»

«Ganz entrückt.»

«Danke.»

Dinny sah forschend zu Hubert hinüber. Der dumpf brütende Ausdruck war aus seinen Zügen geschwunden; sein Blick hing wie gebannt an Jeannes unergründlich lockenden Augen. Dinny seufzte leise.

«Wie kommt es nur», fragte Sir Lawrence nachdenklich, «daß ich in den letzten Tagen auf meinem eigenen Tisch so gutes Futter finde? Dinny, was ist nur in deine Tante gefahren?»

Nach dem Lunch brachte Dinny eine Croquetpartie zustande. Sie und Alan spielten gegen den alten Tasburgh und Tante Wilmet. Jeanne und Hubert sah sie zu den Terrassen mit den Portulakbeeten wandern. Die erstreckten sich vom tiefergelegenen Teil des Parks bis zum alten Obstgarten, hinter dem sich ein Wiesenhang dehnte.

‹Die sehen den Portulak mit keinem Blick an!› dachte das Mädchen.

Zwei Partien waren schon vorüber, als Dinny die beiden aus einer andern Richtung in eifrigem Gespräch zurückkommen sah. ‹Schneller geht's nimmer!› dachte sie und stieß den Ball des Pfarrers mit aller Kraft zurück.

«Hilf Himmel!» murmelte der geschlagene Mann Gottes. Tante Wilmet, stramm wie ein Grenadier, rief laut: «Zum Teufel, Dinny, du bist unmöglich!»

Als Dinny später an der Seite des Bruders im offnen Auto saß, blieb sie schweigsam. Ihre Erwartungen hatten sich erfüllt, und doch war sie niedergeschlagen. Bisher hatte Hubert niemanden so lieb gehabt wie sie. Nun mußte sie sich mit einem bescheideneren Platz in seinem Herzen begnügen. Ab und zu sah sie ein Lächeln um seine Lippen huschen, da hieß es jetzt, alle Klugheit zusammennehmen.

«Wie gefallen dir unsere Verwandten?»

«Er ist ein braver Junge. Scheint in dich ziemlich verschossen.»

«So? Wirklich? Für wann sollen wir sie einladen?»

«Wann du willst.»

«Nächste Woche?»

«Gut.»

Offenbar ließ er sich nicht gern ausholen. Schweigend genoß sie den herrlichen Abend, auf den Hügeln ruhte noch der letzte Glanz der Sonne. Sie fuhren nach rechts und kamen über eine Brücke. Da faßte Dinny den Bruder am Arm: «Erinnerst du dich noch, Hubert, an dieser Stelle haben wir die Eisvögel gesehn.»

Sie machten halt und blickten den Fluß entlang. Einsam und ruhig lag er da, ein friedlicher Wohnplatz für diese schimmernden Vögel. Durch die Weiden am westlichen Ufer fiel das Abendlicht und glitzerte auf den Wellen. Der stillste, zahmste Fluß der Welt, so schien es; er strömte mit ruhigen, klaren Wellen zwischen freundlichen Feldern und zierlichen Bäumen an seinen Ufern hin. Voll Anmut war er, voll Lebensfreude.

«Vor dreitausend Jahren», sagte Hubert unvermittelt, «sah dieser alte Fluß wohl auch so aus wie so mancher, den ich in der Wildnis gesehn. Ein regelloser Wasserlauf im unwegsamen Dschungel.»

Er fuhr weiter. Jetzt hatten sie das Sonnenlicht im Rücken, wie ein Gemälde breitete sich die Landschaft vor ihrem Blick. Am Himmel stieg das Abendrot empor, sie jagten weiter. Die Stoppelfelder färbten sich dunkler und lagen einsam da; ab und zu flogen Vögel darüber in den Abend hinein.

Am Tor von Condaford stieg Dinny aus und summte: «Eine Schäferin war sie, so reizend und schön», und sah dabei ihrem Bruder ins Gesicht. Der aber machte sich mit dem Auto zu schaffen und schien die Anspielung nicht zu verstehn.


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