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Da der Vater und Sir Lawrence zum Dinner nicht zurückkamen und die Mutter im Bett blieb, speiste Dinny allein mit ihrer Tante, denn Clare hielt sich bei Freunden auf.
«Tante Emily», sagte sie nach der Mahlzeit, «du bist mir doch nicht böse, wenn ich jetzt zu Michael geh? Du weißt doch, Fleur –»
«Sie wird doch nicht – das wäre ja viel zu früh. Sie soll doch erst Ende März –»
«Aber nein! Vorderhand hat sie nur eine Idee geboren.»
«Ach so!» Lady Mont drückte die Klingel.
«Blore, ein Taxi für Miß Dinny! Und, Blore, melde mir's, wenn Sir Lawrence heimkommt. Ich nehm jetzt ein heißes Bad und wasch mir das Haar.»
«Sehr wohl, Mylady.»
«Dinny, wäschst du dir auch immer das Haar, wenn du traurig bist?»
Durch den finstern, nebligen Abend fuhr Dinny nach dem South Square und fühlte sich so tief bedrückt wie noch nie. Nun saß Hubert in einer Kerkerzelle, getrennt von der Frau, die er erst vor drei Wochen geheiratet, wer weiß, vielleicht für immer! Und sah ein Schicksal vor Augen, das nicht auszudenken war! Alles nur darum, weil diese Gesellen es nicht auf ihr Gewissen nehmen wollten, seinem Wort ohne weiteres zu trauen. Angst und Zorn wallten in ihr auf, wie Hitzeschwaden vor einem Gewitter. Sie traf Fleur und ihre Tante Lady Alison in eifrigem Gespräch über die erforderlichen Schritte. Der bolivianische Gesandte hatte, wie es schien, nach einer Erkrankung einen Erholungsurlaub angetreten, er war verreist, und ein Untergebener versah jetzt sein Amt. Nach Lady Alisons Ansicht machte das die Sache schwieriger, denn der Stellvertreter würde wahrscheinlich keine Verantwortung übernehmen. Immerhin wollte sie eine Diplomatengesellschaft zum Lunch laden und Fleur und Michael dazu bitten; auch Dinny sollte kommen, wenn sie es wünschte. Doch sie schüttelte den Kopf. Sie hatte das Vertrauen zu ihrer Kunst im Umgang mit Diplomaten verloren.
«Wenn ihr beide, du und Fleur, es nicht fertigbringt, Tante Alison, dann richte ich bestimmt nicht das mindeste aus. Aber Jeanne kann, wenn sie will, ungemein bezaubernd sein.»
«Jeanne hat mir eben telephoniert, Dinny. Du sollst heut auf dem Heimweg einen Sprung in ihre Wohnung machen. Wenn nicht, will sie dir schreiben.»
Dinny erhob sich. «Ich geh gleich hin.» Sie eilte durch den Nebel am Themsekai hin und wandte sich zu dem Block der Mietskasernen, wo Jeanne Unterkunft gefunden. An der Straßenecke schrien kleine Zeitungsjungen die blutrünstigen Tagesereignisse aus. Sie kaufte ein Blatt, um zu sehn, ob Huberts Angelegenheit schon drin stand, und entfaltete es unter einer Laterne. Jawohl, da war's! ‹ Britischer Offizier verhaftet. Auslieferungsbegehren wegen Mords.› Wie wenig Aufmerksamkeit hätte sie dieser Notiz geschenkt, wäre es sie nicht persönlich angegangen! Diese Nachricht bedeutete für sie und die Ihren grenzenlosen Kummer, für das Publikum einen kleinen, angenehmen Nervenkitzel. Das Unglück andrer war eine Zerstreuung, und die Zeitungen lebten davon. Der Mann, von dem sie das Blatt erstanden, hatte ein mageres Gesicht, schmutzige Kleider, ein lahmes Bein. Und, vielleicht um das Schicksal durch ein kleines Opfer günstig zu stimmen, reichte sie ihm die Zeitung zurück und einen Shilling. Der Mensch riß vor Staunen Mund und Augen auf. Hatte die am Ende das große Los gewonnen? Die? Dinny stieg die Ziegeltreppe zu Jeanne empor. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Vor der Tür drehte sich eine große schwarze Katze sechsmal um sich selbst; sie lief dabei, wie es schien, immer ihrer eignen Schwanzspitze nach. Dann ließ sie sich nieder und hob eine ihrer Vorderpfoten, um sie zu lecken.
Jeanne öffnete selbst die Tür. Offenbar war sie grade beim Packen gewesen, eine Hemdhose hing ihr über dem Arm. Dinny gab der Schwägerin einen Kuß und sah sich um. Noch nie war sie hier gewesen. Die Türen des kleinen Wohnraums, des Schlafzimmers, der Küche und des Bads standen offen; die Wände waren apfelgrün getüncht, der Fußboden mit dunkelgrünem Linoleum belegt. Im Schlafzimmer standen ein Doppelbett und einige Handkoffer, im Wohnraum zwei Armsessel und ein kleiner Tisch, in der Küche eine Anrichte und drauf ein Glastopf mit Badesalz. Keine Teppiche, keine Bilder, keine Bücher, an den Fenstern Vorhänge aus bedrucktem Kattun; ein eingebauter Schrank nahm eine ganze Wand des Schlafzimmers ein, Jeanne hatte draus die Kleider hervorgeholt und aufs Bett geworfen. Kaffeegeruch und Lavendelduft unterschieden die Atmosphäre dieser Wohnung von der Luft auf der Treppe.
Jeanne legte die Hemdhose hin. «Willst du Kaffee trinken, Dinny? Ich hab grad welchen gekocht.» Sie goß ihn in zwei Schalen, zuckerte ihn, reichte Dinny eine der Schalen und ein Papiersäckchen mit Zigaretten. Dann wies sie einladend auf einen der Armstühle und setzte sich selbst in den andern.
«Du hast also meine Botschaft erhalten? Freut mich, daß du gekommen bist. Da brauch ich kein Paket zu machen, das tu ich so ungern. Du nicht auch?»
Ihr kühler, frischer Gesichtsausdruck setzte Dinny in Staunen.
«Hast du Hubert seither gesehn?»
«Ja. Er hat es ganz angenehm. Seine Zelle ist nicht schlecht, sagt er; man hat ihm Bücher und Schreibpapier gegeben. Auch Essen kann er sich holen lassen, nur rauchen darf er nicht. Gegen dieses Verbot müßte man Beschwerde führen. Nach dem britischen Gesetz ist Hubert jetzt noch ebenso unschuldig wie der Minister des Innern. Und verbietet dem vielleicht irgendein Paragraph das Rauchen? Ich werde Hubert vorläufig nicht wiedersehn. Aber du wirst ihn besuchen, Dinny! Gib ihm einen herzlichen Kuß von mir und bring ihm einige Zigaretten, vielleicht darf er sie doch rauchen.»
Dinny starrte Jeanne an.
«Was hast du denn vor?»
«Darüber will ich eben mit dir sprechen, aber nur mit dir. Versprich mit strengste Diskretion, sonst sag ich kein Wort.»
Entschlossen erklärte Dinny: «Ich schweige wie das Grab.»
«Morgen reise ich nach Brüssel. Alan ist schon heute gefahren. Man hat ihm wegen dringender Familienangelegenheiten den Urlaub verlängert. Wir wollen uns für das Schlimmste vorbereiten, weiter nichts. Ich lerne fliegen, in der halben Zeit wie die andern. Wenn ich dreimal im Tag aufsteige, kann ich es in drei Wochen ganz gut. Und wenigstens drei Wochen Frist hat mir unser Anwalt garantiert. Selbstverständlich ahnt er nichts von meinem Plan. Niemand darf etwas wissen, nur du. Du könntest für mich etwas besorgen.» Sie streckte die Hand aus und holte aus ihrem Täschchen ein in Seidenpapier gewickeltes kleines Paket hervor.
«Ich muß fünfhundert Pfund haben. Wir sollen in Brüssel für wenig Geld aus zweiter Hand einen guten Aeroplan bekommen, doch werden wir den Rest des Betrages brauchen. Da sieh, Dinny, dies ist ein altes Familienerbstück und sehr wertvoll. Du sollst es gegen fünfhundert Pfund versetzen. Wenn du dabei nicht soviel herausschlägst, mußt du es verkaufen. Verpfänd oder verklopf es in deinem Namen. Wechsle das Geld in belgische Banknoten um und schick sie mir eingeschrieben an das Hauptpostamt Brüssel. Binnen drei Tagen muß ich das Geld haben.» Sie streifte das Papier ab. Ein altmodischer, doch sehr schöner Smaragdanhänger kam zum Vorschein.
«Ah!»
«Ein schönes Stück!» sagte Jeanne. «Du kannst hübsch viel verlangen. Fünfhundert Pfund gibt man dir bestimmt dafür. Smaragde stehn hoch im Preis.»
«Aber warum versetzt du ihn nicht selbst vor deiner Abreise?»
«Nur keinen Verdacht erwecken! Was du tust, Dinny, ist schließlich einerlei. Du hast ja nicht vor, das Gesetz zu brechen. Alan und ich müssen es vielleicht, aber fangen lassen wir uns nicht.»
«Du solltest mir doch mehr drüber erzählen», bat Dinny.
Wieder schüttelte Jeanne den Kopf. «Unnötig, und auch unmöglich. Näheres wissen wir ja selbst noch nicht. Kopf hoch! Sie werden uns Hubert nicht fortführen. Du übernimmst das also?» Sie wickelte den Anhänger wieder ein.
Dinny nahm das kleine Paket und ließ es in den Ausschnitt des Kleides hinabgleiten, da sie kein Täschchen mit hatte. Dann beugte sie sich vor und mahnte eindringlich: «Versprich mir, Jeanne, du wirst keinen derartigen Schritt wagen, eh nicht alles andre fehlschlägt.»
Jeanne nickte. «Erst im allerletzten Augenblick. Es wäre sonst nicht ratsam.»
Dinny drückte ihr die Hand. «Jeanne, ich hätte dich nicht in diese Sache stürzen sollen! Hätt ich euch beide doch nur nicht zusammengebracht!»
«Liebste, ich hätte es dir nie verziehn, wenn du es nicht getan hättest. Ich hab ihn doch so lieb!»
«Aber es ist so entsetzlich für dich!»
Jeanne starrte in die Ferne. Wieder glich sie einer Leopardin, die um ihr Junges bangt.
«Nein, mich freut der Gedanke, ihn herauszureißen. Noch nie hab ich mich so frisch und lebendig gefühlt.»
«Setzt Alan viel dabei aufs Spiel?»
«Wenn wir geschickt vorgehn, wohl kaum. Wir haben verschiedene Pläne, je nachdem die Dinge sich gestalten.»
«Ich hoffe zu Gott, daß sich das alles als überflüssig erweist», seufzte Dinny.
«Ich auch. Doch man darf die Sache nicht dem Zufall überlassen, und schon gar nicht bei einem solchen Ausbund an Gerechtigkeit wie Walter.»
«Also leb wohl, Jeanne. Viel Glück!»
Sie küßten einander, und Dinny trat auf die Straße hinaus, mit dem Smaragdanhänger, der ihr bleischwer auf dem Herzen lag. Jetzt begann ein feiner Sprühregen, sie fuhr im Auto in die Mount Street zurück. Ihr Vater und Sir Lawrence waren eben heimgekommen. Sie brachten nur unwesentliche Neuigkeiten. Wie es schien, wollte Hubert nicht mehr darum ansuchen, gegen Bürgschaft auf freiem Fuß belassen zu werden. ‹Jeanne muß ihn herumkriegen›, dachte Dinny. Der Innenminister Walter war in Schottland und würde erst in vierzehn Tagen zur Parlamentseröffnung zurückkehren. Vorher konnte also das Auslieferungsbegehren nicht rechtskräftig werden. Wahrscheinlich hatten sie also noch drei Wochen Frist und konnten inzwischen Himmel und Erde in Bewegung setzen. Aber eher stürzten Himmel und Erde ein, ehe denn ein Buchstabe des Gesetzes verlorenging. ‹Einflußnahme›, ‹Interesse›, ‹Einfädeln›, ‹Durchsetzen› – war das alles wirklich nur sinnloses Geschwätz? Oder gab es doch irgendeinen geheimnisvollen Weg, den sie alle nur nicht kannten?
Ihr Vater küßte sie und ging bekümmert zu Bett; Dinny blieb allein mit Sir Lawrence zurück. Sogar er war niedergeschlagen.
«Heut läßt uns beide unsre Munterkeit im Stich», sagte er. «Dinny, mitunter glaub ich, daß wir den Wert des Gesetzes stark überschätzen. Das Justizverfahren ist roh und überstürzt und trifft bei der Strafbemessung ungefähr ebensooft das Richtige wie die Diagnose eines Arztes, der den Patienten zum erstenmal sieht. Doch aus unerklärlichen Gründen scheint uns das Gesetzbuch ein Heiligtum wie der Gral, und seine Paragraphen dünken uns Offenbarungen Gottes. Wenn es je einen Fall gab, beim dem ein Minister den Regungen der Menschlichkeit nachgeben könnte, ist es wohl dieser. Und dennoch scheint mir Walter nicht dazu geneigt. Und Bobbie Ferrar hat denselben Eindruck, Dinny. Vor kurzem hat offenbar irgendein hirnverbrannter Idiot Walter als ‹Urbild der Unbestechlichkeit› gepriesen; diese Lobhudelei ist ihm nach Bobbies Vermutung berauschend zu Kopf gestiegen, statt ihm den Magen umzudrehn; seither hat er keine Gnade walten lassen. Ich überlege, ob ich nicht an die ‹Times› einen Brief schicken soll des Inhalts: ‹Diese Pose erbarmungsloser Unbestechlichkeit in gewissen Ämtern unsres Vaterlandes schädigt die Gerechtigkeit mehr als die Methoden der Justiz von Chicago.› Diesen Kerl sollte Chicago berufen. Er ist übrigens einmal drüben gewesen, glaub ich. Entsetzlich, wenn ein Mensch so alle Menschlichkeit verliert!»
«Ist er verheiratet?»
«Gegenwärtig nicht einmal das», erklärte Sir Lawrence.
«Manche Leute werden schon als Unmenschen geboren, nicht wahr?»
«Die sind nicht einmal so schlimm; bei denen weiß man wenigstens, wie man dran ist, und kann auf der Hut sein. Die Kerle, denen ihr Wert zu Kopf steigt, richten das meiste Unheil an. Da fällt mir ein, ich hab dem jungen Mann gesagt, du würdest ihm zu einem Miniaturbild sitzen.»
«Ach Onkel, doch jetzt nicht, in dieser Sorge um Hubert.»
«Nein, nein, jetzt gleich natürlich nicht. Aber in Huberts Sache muß bald etwas geschehn. Dinny, wie wär's übrigens mit dem jungen Frauchen, mit Jeanne?» fügte er mit schlauem Zwinkern hinzu.
Dinny blickte ihn voll ahnungsloser Unschuld an.
«Wieso, was meinst du, Onkel?»
«Mir scheint, die läßt sich nicht so leicht kleinkriegen.»
«Freilich nicht, aber was kann die arme Jeanne dabei tun?»
«Das frag ich mich eben», erwiderte Sir Lawrence und zog die eine Braue hoch, «das frag ich mich eben. Weißt du, es gibt doch allerhand unschuldige Dinge, es gibt Engel ohne Flügel. Gab es schon zu meiner Zeit und gibt es auch jetzt noch, nur daß euch Engeln jetzt so die Flügel wachsen.»
Dinny sah ihn noch immer mit ihrem Unschuldsblick an und dachte: ‹Onkel Lawrence sieht unheimlich scharf.› Bald darauf ging sie zu Bett.
Entsetzlich, schlafengehn zu müssen, so in Hangen und Bangen! Und doch, wie viele angstgequälte Menschenkinder mußten schlafen gehn und die Wangen ins Kissen drücken! Das Zimmer schien ihr von dem sinnlosen Leid der ganzen Welt erfüllt. Wäre sie doch wenigstens dichterisch begabt! Da könnte sie jetzt aufstehn und sich in einem lyrischen Erguß Luft machen. Aber ach, so leicht hatte sie's wahrhaftig nicht, sie lag da und war traurig, traurig, angstvoll und zornig. Sie entsann sich noch ihrer Gefühle in den Tagen, da Hubert kaum achtzehnjährig in den Krieg gezogen, sie selbst war damals dreizehn gewesen. Wie entsetzlich war das damals, doch noch lange nicht so schlimm wie jetzt! Sie fragte sich, warum. Damals hätte er jeden Augenblick den Tod finden können; jetzt war er sicherer als jeder, der nicht hinter Schloß und Riegel saß. Selbst auf der Überfahrt nach Amerika, bis zur Übergabe an das Gericht im fernen Ausland vor stammesfremden Richtern würden ihn die Begleitpersonen wie ihren Augapfel hüten. Einige Monate hindurch drohte ihm keine Lebensgefahr. Warum schien ihr also sein gegenwärtiges Schicksal so viel grauenhafter als alle die Gefahren, denen er seit dem ersten Tag des Felddienstes ins Auge geschaut, furchtbarer sogar als die lange, böse Zeit der Expedition mit Hallorsen? Warum? Wohl darum, weil er all diesen frühern Nöten und Gefahren freiwillig die Stirn geboten; doch in sein heutiges Elend hatte ihn fremde Gewalt gestürzt. Fremde Gewalt zwang ihn nieder, raubte ihm die beiden heiligsten Güter der Menschheit: persönliche Freiheit und Privatleben, Güter, die die Menschheit in Staat und Gemeinde seit Jahrtausenden erstrebt, bis – bis sie eben der Ideenwelt des Bolschewismus erlag. Freiheit und Privatleben – jedermann waren sie wertvolle Güter, vor allem aber Leuten ihres Schlags, die allein der Stimme des eignen Gewissens gehorchen wollten. Wie sie so dalag, sah sie Hubert in seiner Kerkerzelle, voll Sehnsucht nach Jeanne, voll Ingrimm über seine Haft, voll Grauen vor der Zukunft, verbittert, beklommen, elend. Was hatte er denn verbrochen, Herrgott im Himmel, was nur? Welcher Mann mit Gefühl und Temperament hätte in Huberts Lage nicht ganz dasselbe getan?
Der Straßenlärm, der aus der Park Lane heraufdrang, gab den Grundbaß zu ihrer rebellischen Klage. Sie wurde so rastlos, daß sie es nicht länger im Bett aushielt; sie warf den Morgenrock über und wanderte lautlos durch den Raum, bis sie in der kühlen Herbstluft erschauerte, die durchs offne Fenster drang. Wer weiß, am Ende war die Ehe doch nicht so ganz zu verachten. Man hatte wenigstens eine Brust, an die man sich schmiegen, an der man sich ausweinen konnte, ein Ohr, das den Klagen Gehör lieh, und Lippen, die Worte des Mitgefühls sprachen. Doch schwerer als die Einsamkeit war in diesen bösen Wochen das Nichtstun zu ertragen. Sie beneidete alle, die wie ihr Vater und Sir Lawrence wenigstens ihren Angelegenheiten nachgehn und im Auto herumfahren konnten; besonders beneidete sie Jeanne und Alan. Was sie auch taten, immer noch besser, als gar nichts zu tun wie sie! Sie zog den Smaragdanhänger hervor und sah ihn an. Nun, da gab es morgen wenigstens etwas für sie zu erledigen, sie malte sich aus, wie sie, den Schmuck in der Hand, irgendeinem herzlosen Geldverleiher große Summen entlocken würde. Dann schob sie den Anhänger unter ihr Kopfkissen, als vermöchte seine Nähe sie von dem Gefühl der Hilflosigkeit zu befreien, und schlief endlich ein.
Am nächsten Morgen stand sie zeitig auf. Ihr war eingefallen, sie könnte den Anhänger vielleicht schon am Morgen versetzen und Jeanne das Geld noch vor der Abreise bringen. Sie beschloß, den Kammerdiener Blore zu fragen. Sie kannte ihn ja schon seit ihrem fünften Jahr. Er war ein altes Faktotum der Familie und hatte nie etwas von den Kümmernissen verraten, die sie ihm in den Kindertagen anvertraute.
Als er mit Tante Emilys Kaffeemaschine kam, trat Dinny auf ihn zu.
«Blore!»
«Bitte, Miß Dinny?»
«Möchten Sie nicht so lieb sein und mir im strengsten Vertrauen sagen, wer als der anständigste Pfandleiher von London gilt?»
Überrascht und doch gefaßt stellte der Kammerdiener die Kaffeemaschine auf den Tisch – schließlich mußte in dieser Zeit so mancher etwas versetzen. «Miß Dinny», sagte er zuletzt nachdenklich, «da ist natürlich die Firma Attenborough, doch, wie ich höre, gehn jetzt die vornehmsten Kreise zu einem gewissen Frewen in der South Molton Street. Ich kann seine Hausnummer im Telephonbuch nachschlagen. Er soll, wie es heißt, sehr zuverlässig und anständig sein.»
«Famos, Blore! Übrigens hat die Sache ja nicht viel zu bedeuten.»
«Selbstverständlich, Miß.»
«Und – und Blore, muß ich wirklich meinen eignen Namen angeben?»
«Nein, Miß Dinny. Wenn ich raten darf, geben Sie den Namen meiner Frau und die hiesige Adresse an. Falls Sie mit ihm in Verbindung treten müssen, könnte ich es telephonisch vermitteln. Verlassen Sie sich auf mich.»
«Das ist mir wirklich ein Trost, Blore. Doch wird es Ihre Frau nicht vielleicht übelnehmen?»
«Keine Spur, Miß, sie ist gewiß froh, wenn sie Ihnen einen Gefallen erweisen darf. Wenn Sie wünschen, kann ich die Sache für Sie erledigen.»
«Vielen Dank, Blore. Aber ich fürchte, ich muß es doch selbst besorgen.»
Der Kammerdiener strich sich das Kinn und sah sie an; sein Blick schien Dinny wohlwollend, doch etwas spöttisch.
«Darf ich mir noch einen Rat erlauben, Miß? Auch dem Besten seiner Sorte dürfen Sie nie verraten, daß Ihnen an der Sache etwas liegt. Bietet er Ihnen nicht den vollen Wert, dann gibt es ja noch andre.»
«Herzlichen Dank, lieber Blore! Wenn er es nicht tut, wend ich mich an Sie. Kann ich um halb zehn schon zu ihm?»
«Das soll die beste Zeit sein, Miß. Da treffen Sie ihn noch frisch und unternehmungslustig.»
«Lieber Blore!»
«Wie man hört, hat er Welt- und Menschenkenntnis. Er wird Sie gewiß nicht für eine zweifelhafte Dame halten.»
Dinny legte den Finger an die Lippen.
« Sie schweigen, Blore!»
«Wie das Grab, Miß. Nächst Mr. Michael waren Sie ja immer mein Liebling.»
«Und Sie der meine.» Sie langte nach der ›Times‹, da trat ihr Vater ein, und Blore zog sich zurück.
«Hast du gut geschlafen, Vater?»
«Und Mutters Kopfweh?»
«Ist nicht mehr so arg. Sie kommt gleich herunter. Wir sehn ein, daß wir durch Sorgen die Sache nicht besser machen.»
«Stimmt, liebster Vater. Was meinst du, können wir jetzt mit dem Frühstück beginnen?»
«Emily frühstückt auf ihrem Zimmer, Lawrence um acht. Bereite du den Kaffee.»
Dinny schritt andächtig ans Werk, sie teilte die Leidenschaft ihrer Tante für guten Kaffee.
«Und was macht Jeanne?» fragte der General plötzlich. «Kommt sie zu uns?»
Dinny hielt den Blick gesenkt.
«Ich glaub nicht, Vater. Das ließe ihr keine Ruhe. Sie will wohl lieber allein damit fertig werden. Ich an ihrer Stelle möcht es auch.»
«Armes Mädel! Aber Mut hat sie wirklich. Bin froh, daß Hubert solch ein mutiges Mädchen geheiratet hat. Diese Tasburghs haben das Herz auf dem rechten Fleck. Ich erinnere mich noch an einen ihrer Onkel, der stand in Indien bei einem Gurkha-Regiment – ein waghalsiger Bursche! Seine Soldaten gingen für ihn durchs Feuer. Wo ist er nur gefallen, laß mich nachdenken!»
Dinny beugte sich tiefer über den Kaffee.
Es war noch nicht halb zehn, als sie fortging, ihren schönsten Hut auf dem Kopf, den Anhänger im Täschchen. Punkt halb zehn stieg sie in den ersten Stock eines Geschäftshauses in der South Molton Street. In einem geräumigen Zimmer saßen an einem Mahagonitisch zwei Herren, die man für Buchmacher hätte halten können. Ängstlich musterte Dinny die beiden, um irgendeine Spur von Herz an ihnen zu entdecken. Nun, sie schienen wenigstens aufgeräumt; der eine trat auf sie zu.
Dinny fuhr sich unmerklich mit der Zunge über die Lippen.
«Sie sind, wie ich höre, so liebenswürdig, Geld auf Juwelen zu leihen?»
«Jawohl, gnädige Frau.» Er war grauhaarig, ziemlich kahl und rotwangig, hielt einen Kneifer in der Hand und starrte sie durch das Glas hindurch aus hellen Augen an. Dann setzte er den Zwicker auf die Nase, zog einen Stuhl an den Tisch heran, machte eine einladende Handbewegung und ließ sich nieder. Dinny nahm Platz.
«Ich brauche ziemlich viel, fünfhundert Pfund.» Sie lächelte. «Als Pfand geb ich ein altes, ganz hübsches Erbstück.»
Beide Herren verneigten sich leicht.
«Ich brauche das Geld auf der Stelle, hab eine dringende Zahlung zu leisten. Da ist das Pfand!» Und sie zog den Anhänger aus der Tasche, entfernte die Hülle und legte ihn auf den Tisch. Dann fiel ihr Blores Rat ein, sie lehnte sich lässig zurück und kreuzte die Beine.
Eine volle Minute lang musterten die beiden Männer den Anhänger, ohne ein Wort zu sprechen oder eine Miene zu verziehn. Dann öffnete der zweite der Herren eine Lade und entnahm ihr eine Lupe. Während er den Anhänger prüfte, sah der erste Dinny aufmerksam an; ihr entging das nicht – vermutlich war das die Art der Arbeitsteilung dieser Herren. Welches Juwel gefiel ihnen wohl besser, der Anhänger oder – sie? Atemlos gespannt wartete sie auf das Urteil und hielt dabei die Augen halb offen, die Brauen ein wenig emporgezogen.
« Ihr Eigentum, gnädige Frau?» fragte der erste der beiden Herren.
Dinny erwiderte fest: «Jawohl», – sie entsann sich wieder des alten Schuljungenspruchs: ‹Lüge, aber laß dich nicht erwischen!›
Der zweite legte die Lupe hin und schien mit der Hand das Gewicht des Schmuckstücks zu prüfen. «Sehr nett», meinte er. «Altmodisch, aber sehr nett. Wie lang brauchen Sie das Geld?»
Dinny hatte keine Ahnung. «Sechs Monate», erwiderte sie kühn; «doch ich darf es wohl auch früher einlösen?»
«Gewiß. Fünfhundert Pfund, sagten Sie?»
«Bitte.»
«Wenn Sie einverstanden sind, Mr. Bondy», erklärte der zweite Herr, « ich bin es.»
Dinny hob den Blick zu Mr. Bondys Gesicht. Ob der jetzt wohl sagte: ‹Nein, sie hat mich angelogen?› Doch er schob die Unterlippe ein wenig vor und erwiderte mit leichter Verbeugung: «Gewiß!»
‹Ob die immer den Angaben ihrer Klienten Glauben schenken – oder nie?› fragte sie sich. ‹Doch einerlei – sie haben den Anhänger, ich muß ihn auf Treu und Glauben ausliefern – oder vielmehr Jeanne.›
Der zweite Herr schob den Anhänger fort, holte ein Buch hervor und trug etwas ein. Mr. Bondy schritt auf einen Stahlschrank zu.
«Möchten Sie das Geld in Banknoten, gnädige Frau?»
«Bitte.»
Der zweite Herr – er trug einen Schnurrbart, weiße Gamaschen und glotzte ein wenig – überreichte ihr das Buch.
«Bitte um Name und Adresse, Gnädige.»
Dinny schrieb bebend ‹Mrs. Blore› und die Adresse ihrer Tante in der Mount Street. ‹Gott steh mir bei!› fuhr es ihr durch den Kopf, ‹ich hab ja keinen Ehering!›, und sie krampfte die linke Hand zusammen, um den Ringfinger den Blicken der Herren zu entziehen. Leider saßen ihre Handschuhe wie angegossen, der Ringfinger ließ den erwünschten Wulst vermissen.
«Falls Sie das Schmuckstück wieder haben wollen, sind am 29. April des nächsten Jahres fünfhundertfünfzig Pfund zu erlegen. Wenn wir bis dahin nichts von Ihnen hören, wird das Pfand zum Verkauf ausgeboten.»
«Natürlich. Wenn ich es aber früher einlösen will?»
«Dann haben Sie entsprechend weniger zu bezahlen. Der Zinsfuß beträgt zwanzig Prozent; heut in einem Monat beträgt die fällige Summe also fünfhundertacht Pfund, sechs Shilling, acht Pence.»
«Verstehe.»
Der erste Herr trennte einen Zettel ab und händigte ihn Dinny aus. «Hier ist der Pfandschein.»
«Kann der Anhänger gegen Bezahlung von jedermann behoben werden, der diesen Zettel vorweist? Falls ich Sie vielleicht nicht mehr persönlich aufsuchen kann?»
«Gewiß, gnädige Frau.»
Dinny steckte die Bestätigung ein und barg dabei die linke Hand möglichst tief im Täschchen. Dann hörte sie zu, wie Mr. Bondy das Geld auf den Tisch zählte. Er zählte prachtvoll, leise knisterten die Banknoten, sie schienen noch ganz neu. Dinny nahm sie mit der Rechten, verwahrte sie im Täschchen und erhob sich, wobei sie noch immer die Linke versteckt hielt.
«Vielen Dank.»
«Keine Ursache, gnädige Frau, das Vergnügen war auf unsrer Seite. Wir stehn Ihnen mit Freude zu Diensten. Guten Tag!»
Dinny verneigte sich und schritt langsam zur Tür. Unter den halbgesenkten Lidern sah sie ganz deutlich den einen der beiden Herren mit einem Auge zwinkern. Ziemlich versonnen stieg sie die Stufen hinab und schloß das Täschchen. ‹Die denken am Ende gar, ich krieg ein Baby; oder ich hab beim Cambridge-Wettrennen verloren.› Ach was, sie hatte das Geld in Händen, und es war genau dreiviertel zehn. In Cooks Büro würde man es wohl wechseln oder ihr wenigstens sagen, wo belgisches Geld zu haben sei. Sie mußte jedoch bei mehreren Schaltern vorsprechen, das Umwechseln nahm fast eine Stunde in Anspruch. Ganz heiß hatte sie sich gelaufen, als sie endlich den Viktoriabahnhof betrat. Langsam ging sie den Zug entlang und spähte in jedes Abteil. Etwa zwei Drittel hatte sie schon abgeschritten, da rief hinter ihr eine Stimme: «Dinny!» Sie blickte um sich und sah Jeanne in der Tür eines Abteils zweiter Klasse stehn.
«Ah, da bist du ja, Jeanne! Es war eine solche Hetzjagd. Sag doch, glänzt meine Nase?»
«Dinny, du siehst nie erhitzt aus.»
«Na, ich hab's geschafft. Hier das Ergebnis: fünfhundert Pfund, fast alles in belgischem Geld.»
«Großartig!»
«Und hier der Pfandschein. Mit diesem Zettel kann jeder den Anhänger auslösen. Die Zinsen betragen zwanzig vom Hundert. Am 29. April verfällt das Pfand.»
«Behalte du den Schein, Dinny.» Jeanne senkte die Stimme. «Wenn wir unsern Plan ausführen müssen, sind wir im April schwerlich in London. Es gibt ja verschiedene Staaten, die keine diplomatischen Beziehungen zu Bolivien unterhalten. Dort müssen wir wohnen, bis die Sache hier in Ordnung gebracht ist.»
«Weißt du», sagte Dinny offen, «ich hätte mehr herausschlagen können. Sie haben gierig zugeschnappt.»
«Ach was! Jetzt muß ich einsteigen. Hauptpostamt Brüssel. Lebwohl! Küß Hubert von mir und sag ihm, alles geht wie am Schnürchen.» Sie schlang die Arme um Dinny, drückte sie heftig an sich und sprang in den Zug zurück. Er setzte sich fast augenblicklich in Bewegung. Dinny blieb stehn und winkte dem strahlenden braunen Gesicht zu, das vom Fenster nach ihr zurücksah.