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Dinny hatte ihren Platz zwischen Hallorsen und dem jungen Tasburgh an der linken Längsseite des Tisches; von da aus konnte Sie an der Spitze der Tafel ihre Tante und Lord Saxenden sehn. Jeanne Tasburgh war seine Nachbarin zur Rechten. ‹Eine Leopardin, so reizend und schön!› Dieses Mädchen bezauberte Dinny mit dem sonngebräunten Teint, dem spitz zulaufenden Oval des Gesichts und den prachtvollen Augen. Auch Lord Saxenden schien fasziniert. Sein Gesicht war röter als sonst; in so heiterer Laune hatte Dinny ihn noch nie gesehn. Da er sich für Jeanne derart interessierte, sah Lady Mont sich gänzlich auf den wortkargen Wilfred Bentworth angewiesen. Zu ihrer Linken saß nämlich nach der Rangordnung bei Tisch ‹Squire› Bentworth, obschon er weit distinguierter schien als Saxenden, so distinguiert, daß er die Pairswürde ausschlug. Neben ihm saß Fleur und unterhielt sich mit Hallorsen. So wurde Dinny von dem jungen Tasburgh in Beschlag genommen. Er plauderte frisch von der Leber weg, wie ein Mann, den der Umgang mit Frauen noch nicht blasiert gemacht hat; für Dinny trug er, wie es ihr schien, unverhohlen Bewunderung zur Schau. Doch zumindest zweimal versank sie, wie es ihm schien, in eine Art Träumerei, saß mit erhobnem Kopf unbeweglich da und blickte zu seiner Schwester hinüber.
«Na, was halten Sie von ihr?» fragte er.
«Sie ist faszinierend.»
«Das werd ich ihr erzählen. Doch sie wird nicht mit der Wimper zucken. Sie ist das sachlichste junge Frauenzimmer der Welt. Mir scheint, ihrem Nachbarn verdreht sie gründlich den Kopf. Wer ist das?»
«Lord Saxenden.»
«Oh! Und wer ist der John Bull auf unsrer Seite?»
«Wilfred Bentworth, der ‹Squire›, wie ihn alle nennen.»
«Und wer ist Ihr Nachbar rechts? – er spricht eben mit Mrs. Michael.»
«Professor Hallorsen aus Amerika.»
«Ein schöner Mann.»
«Das finden alle», entgegnete Dinny trocken.
«Sie nicht auch?»
«Männer brauchen nicht schön zu sein.»
«Reizend, daß Sie das sagen!»
«Warum?»
«Das gibt den Häßlichen eine Chance.»
«So? Gehn Sie oft auf Eroberungen aus?»
«Wissen Sie, ich bin furchtbar froh, daß ich endlich Ihnen begegnet bin.»
«Was heißt das ‹endlich›? Bis heute haben Sie doch gar nichts von mir gewußt.»
«Freilich nicht. Aber nichtsdestoweniger sind Sie mein Ideal.»
«Donnerwetter! Machen das alle so bei der Marine?»
«Jawohl. Rascher Entschluß – das ist dort das erste Gebot.»
«Mr. Tasburgh –»
«Alan heiß ich.»
«Jetzt wird mir klar, warum man von den Seeleuten sagt: In jedem Hafen eine andre Frau.»
«Ich hab keine einzige», erwiderte der junge Tasburgh ernst. «Sie sind die erste, die ich haben möchte.»
«Aber, junger Mann!»
«Tatsache! Marineoffiziere sind sehr draufgängerisch. Finden wir, was wir suchen, dann unternehmen wir gleich einen Sturmangriff. Wir haben so selten Gelegenheit.»
Dinny lachte auf. «Wie alt sind Sie?»
«Achtundzwanzig.»
«Die Seeschlacht von Zeebrugge machten Sie also nicht mit?»
«Doch.»
«Aha! Dort haben Sie also gelernt, wie man Sturmangriffe unternimmt.»
«Und dabei in die Luft gesprengt wird.»
Ihr Blick ruhte gütig auf ihm. «Jetzt will ich mit meinem Feind sprechen.»
«Mit Ihrem Feind? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?»
«Danke. Sein Ableben wäre mir jetzt nicht von Nutzen. Zuvor muß er noch tun, was ich von ihm brauche.»
«Schade. Er sieht gefährlich aus.»
«Mrs. Muskham erwartet sie», flüsterte Dinny und wandte sich an Hallorsen, der ihren Namen so ehrfürchtig aussprach, als sei sie eben vom Mond herabgefallen.
«Ich höre, Sie sind ein ausgezeichneter Schütze, Professor.»
«Wieso? An Vögel wie die euren, die sich eine Ehre draus machen, daß man sie abschießt, bin ich nicht gewöhnt. Vielleicht finde ich mich mit der Zeit drein. Vorläufig ist mir hier alles ein Erlebnis.»
«Und alles gefällt Ihnen wohl in diesem Garten Eden?»
«Und ob! Mit Ihnen unter einem Dach zu wohnen, ist ein Vorzug, den ich ganz besonders zu schätzen weiß, Miß Cherrell.»
›Sturmangriff von links, Sturmangriff von rechts›, dachte Dinny.
«Haben Sie schon überlegt, was Sie für meinen Bruder tun wollen?» fragte sie ihn plötzlich.
Hallorsen senkte die Stimme. «Miß Cherrell, ich bewundere Sie sehr – ich will tun, was Sie verlangen. Wenn Sie wünschen‹ schicke ich einen Widerruf an die englische Presse und streiche alle Anspielungen in meinem Buch.»
«Und was ist Ihre Gegenforderung, Professor Hallorsen?»
«Gegenforderung? Nichts andres als Ihr Wohlwollen.»
«Mein Bruder hat mir sein Tagebuch zur Veröffentlichung übergeben.»
«Wenn Sie sich davon etwas versprechen, tun Sie es.»
«Möchte wissen, ob ihr beide euch je im geringsten verstanden habt.»
«Ich glaube nicht.»
«Und ihr wart doch nur vier Weiße, nicht? Darf ich fragen: Was hat Sie eigentlich an meinem Bruder so verdrossen?»
«Das kann ich Ihnen nicht erzählen; sonst spielen Sie es am Ende gegen mich aus.»
«O nein. Ich kann wirklich anständig sein.»
«Nun, vor allem hat er zu viele Vorurteile, die er nicht ändern wollte. Wir lebten in einem uns gänzlich unbekannten Land, unter Indianern und Halbwilden; der Hauptmann aber glaubte, er könne alles einrichten wie zu Haus in England; er wollte Regeln festlegen und wünschen, daß man sich dran halte. Hätten wir's ihm erlaubt, wär er wohl gar zum Dinner im Abendanzug erschienen.»
«Sie sollten dran denken», entgegnete Dinny, ein wenig aus der Fassung gebracht, «daß dieses echt englische Festhalten an den Formen sich in der ganzen Welt bewährt hat. In der Wildnis, fern aller Kultur, behaupten wir uns erfolgreich, weil wir immer Engländer bleiben. Ich ersehe aus dem Tagebuch meines Bruders, daß er zu wenig dickhäutig war, um die Sache durchzuführen.»
«Er ist allerdings nicht jener John-Bull-Typ wie Lord Saxenden hier und Mr. Bentworth dort» – er wies durch eine Kopfbewegung nach der Spitze der Tafel –, «sonst hätte ich ihn vielleicht besser verstanden. Ihr Bruder ist ungemein sensibel und äußerst zurückhaltend; innerlich zehrt er sich gewiß dadurch auf. Er kommt mir vor wie ein Reitpferd, das man vor eine Kutsche gespannt hat. Vermutlich stammen Sie aus alter Familie, Miß Cherrell?»
«Alt ist unsere Familie schon, aber noch nicht degeneriert.»
Sein Blick ließ von ihr ab und wanderte zu Adrian hinüber, zu ihrer Tante Wilmet und dann zu Lady Mont. «Ich möchte einmal mit Ihrem Onkel, dem Kustos, über alte Familien sprechen.»
«Was mißfiel Ihnen noch an meinem Bruder?»
«Ihm gegenüber kam ich mir wie ein Barbar vor.»
Dinny zog die Brauen ein wenig hoch.
«Dort saßen wir – in jenem höllischen Sumpf – einem völlig unkultivierten Gebiet. Nun, ich hab mich den Verhältnissen angepaßt, er aber wollte es um keinen Preis.»
«Vielleicht konnte er es nicht. Meinen Sie nicht auch, der eigentliche Grund war der: Sie sind Amerikaner, er Engländer. Gestehn Sie, Professor, wir Engländer sind Ihnen nicht sympathisch.»
Hallorsen lachte. «Sie sind mir schrecklich sympathisch.»
«Sehr freundlich.»
«Wissen Sie», seine Züge wurden hart, «eine Überlegenheit, an die ich nicht glaube, mag ich nicht anerkennen.»
«Sind denn nur wir Engländer so eingebildet? Die Franzosen etwa nicht?»
«Miß Cherell, wenn ich ein Orang-Utan wäre, ich würde mich den Teufel drum scheren, ob sich ein Schimpanse mir überlegen dünkt.»
«Verstehe; zu sehr entfernte Vettern. Aber Verzeihung, Professor, wie steht es denn mit euch Amerikanern? Seid ihr nicht das auserwählte Volk? Nennt ihr euch nicht selbst häufig so? Wollt ihr mit einer andern Nation tauschen?»
«Ich gewiß nicht.»
«Nun, ihr maßt euch also auch eine Überlegenheit an, die wir nicht gelten lassen?»
Er lachte. «Stimmt, da sitz ich nun in der Patsche. Doch wir sind der Sache noch nicht auf den Grund gekommen. Aber jeder Mensch ist bis zu einem gewissen Grad ein Snob. Wir sind ein junges Volk, haben nicht eure Stammbäume, eure Traditionen, euer unfehlbares Selbstvertraun. Dafür sind wir zu verschiedner Herkunft, zu verschiednen Wesens, noch zu sehr im Werden begriffen. Soviel ich sehe, beneidet ihr uns um gar nichts als um unsere Dollars und unsere Badezimmer. Wir aber neiden euch so manches. Das verdrießt uns, ist aber nicht zu ändern.»
«Sind denn wir dran schuld?»
«Vielleicht nicht. Doch wir sind überzeugt, daß auch wir Amerikaner Vorzüge besitzen, um die ihr uns beneiden solltet: Tatkraft, Zuversicht, einen Wirkungskreis. Euch fällt es aber gar nicht ein, das anzuerkennen, und darum haben wir für eure verknöcherte, verkalkte Überlegenheit gar nichts übrig. Ihr kommt mir vor wie ein Sechziger, der auf einen jungen Mann von dreißig verächtlich herabblickt. Ein gottverlaßner Hochmut, verzeihn Sie.»
Dinny sah ihn stumm an, seine Worte verfehlten nicht die Wirkung.
«An euch Engländern», fuhr Hallorsen fort, «verdrießt uns vor allem die leidige Tatsache, daß ihr allen Forschungstrieb verloren habt oder ihn auf snobistische Art ängstlich vor aller Welt verbergt. Vermutlich reizen wir euch auf mancherlei Weise. Doch der Reiz geht bei euch keineswegs tief – nicht unter die oberste Hautschicht, ihr aber irritiert unsere Nervenzentren. Jawohl, so steht es, Miß Cherrell.»
«Furchtbar interessant», gab sie endlich zurück, «und vielleicht auch wahr. Doch ich sehe, meine Tante will schon gehn, da muß ich wohl abziehn, damit Ihre Nervenzentren sich beruhigen.» Sie erhob sich und lächelte ihm über die Schulter weg noch zu.
An der Tür stand der junge Tasburgh. Auch ihm warf sie einen lächelnden Blick zu und flüsterte: «Sprechen Sie doch mit meinem Freund, dem Feind, er ist es wert.»
Im Empfangszimmer sah sie sich nach der ‹Leopardin› um und fand sie auch, doch da keine der andern ihre Bewunderung verraten wollte, kam ihr Gespräch nicht recht in Gang. Jeanne Tasburgh war eben einundzwanzig geworden, doch Dinny empfing den Eindruck, Jeanne sei älter als sie selbst. Solch klares, vielleicht nicht tiefes Wissen um Menschen und Dinge, solch entschiedenes Urteil war Jeanne über jeden Gegenstand eigen, den die Unterhaltung streifte. ‹Ein prächtiges Mädchen!› dachte Dinny, ‹zweifellos kann man sich in Not und Bedrängnis auf sie verlassen. Sie steht gewiß treu zu den Ihren, will aber wohl überall den Ton angeben. Trotz ihrer kühlen Sachlichkeit geht ein seltsam berückender, fast katzenartiger Zauber von ihr aus, der dem Mann, den sie umgarnen will, gewiß berauschend zu Kopf steigt. Hubert wird diesem Zauber sofort erliegen. Soll ich es wünschen?› Dinny wußte das wahrhaftig nicht. Besser als jede andere konnte dieses Mädchen ihrem Bruder jene augenblickliche Ablenkung bringen, die sie für ihn suchte. Doch war Hubert einer solchen Ablenkung auch gewachsen? Wie, wenn er sich in Jeanne verliebte, und sie wollte nichts von ihm wissen? Oder wenn er, sinnlos in sie vernarrt, ganz in ihren Bann geriet? Und dann – die Geldfrage! Wenn Hubert seinen Offiziersrang verlor, wovon sollten die beiden dann leben? Außer seinem Gehalt besaß er nur ein Einkommen von dreihundert Pfund im Jahr und das Mädchen vermutlich gar nichts. Vertrackte Geschichte! Wenn Hubert seinen Dienst bei der Armee wieder antrat, so bedurfte er wohl keiner Zerstreuung mehr. Wurde er dauernd kaltgestellt, dann brauchte er freilich Ablenkung, konnte es sich aber nicht leisten. Und doch – gerade dieses Mädel hatte eine so energische Art, die würde für ihren Gatten eine Karriere aus dem Boden stampfen! Nun, einstweilen plauderten sie über italienische Malerei.
«Nebenbei bemerkt», erklärte Jeanne plötzlich, «Lord Saxenden ist der Meinung, Sie wollten etwas von ihm haben.»
«So?»
«Was wollen Sie von ihm? Ich werd ihn dazu bringen.»
Dinny lächelte.
«Wie denn?»
Jeanne warf ihr unter den dunklen Wimpern hervor einen vielsagenden Blick zu.
«Spielend leicht. Was wollen Sie denn von ihm?»
«Die Rückberufung meines Bruders zu seinem Regiment – oder noch besser irgendeinen Posten für ihn. Seit der Bolivien-Expedition mit Professor Hallorsen ist er geradezu gemütskrank.»
«Hallorsen? Der große Kerl? Drum ist er also hier zu Gast geladen?»
Dinny war's, als stehe sie nackt vor dem durchdringenden Blick dieses Mädchens.
«Offen gestanden, ja.»
«Ein schöner Mann.»
«Ihr Bruder sagt das auch.»
«Alan ist der Edelmut in Person. Er ist bis über die Ohren in Sie verschossen.»
«Das hat es mir bereits gestanden.»
«Er ist ein offenherziges Kind. Doch im Ernst: Soll ich auf Lord Saxenden losgehn?»
«Warum wollen Sie sich bemühn?»
«Es macht mir Spaß, meine Nase in andrer Leute Affären zu stecken. Lassen Sie mir freie Hand, und ich bringe Ihnen die Ernennung auf dem Präsentierteller.»
«Dieser Lord Saxenden ist, wie ich von glaubwürdiger Seite höre, ein zäher Brocken.»
Jeanne dehnte sich geschmeidig.
«Sieht Ihnen Ihr Bruder Hubert ähnlich?»
«Keine Spur, er ist brünett und hat braune Augen.»
«Unsere Familien sind seit Olims Zeiten miteinander verschwägert. Interessieren Sie sich für Zuchtwahl? Ich züchte Terriers und glaube nicht, daß die Erbanlagen ausschließlich vom Vater oder von der Mutter stammen. Hervorstechende Eigenschaften vererben sich in männlicher und weiblicher Linie und zeigen sich oft erst nach mehreren Generationen.»
«Mag sein. Mein Vater und mein Bruder sehn beide dem ältesten Ahnherrn, von dem wir ein Bild besitzen, ungemein ähnlich, nur daß sie nicht braun gefirnißt sind.»
«In unserer Familie gibt es eine geborene Fitzherbert, die sich Anno 1547 mit einem Tasburgh vermählte. Sie ist ganz mein Ebenbild bis auf die Halskrause, hat sogar die gleichen Hände wie ich.» Und das Mädchen streckte Dinny zwei schlanke braune Hände mit leicht gekrümmten Fingern entgegen.
«Manchmal überspringt eine solche Erbanlage mehrere Generationen», fuhr sie fort, «und kommt dann plötzlich wieder zum Durchbruch. Fabelhaft interessant! Ich möchte gern Ihren Bruder kennenlernen und wissen, ob er Ihnen wirklich so ganz unähnlich ist.»
Dinny lächelte.«Ich will es so einrichten, daß er von Condaford herüberkommt, mich im Auto abholen. Doch vielleicht verdient er dann Ihrer Ansicht nach gar nicht, daß Sie so viele Künste um seinetwillen verschwenden.»
In diesem Augenblick traten die Herren ein.
Dinny flüsterte: «Diese Männer sehn drein, als fragten sie sich: ‹Macht es mir wirklich Spaß, mich jetzt zu einem Frauenzimmer hinzusetzen? Und wenn ja, warum?› Nach dem Essen sind die Männer komisch.»
Da klang Sir Lawrence Monts Stimme durch das Schweigen: «Saxenden, kommen Sie und Bentworth zum Bridge?»
Bei diesen Worten erhoben sich Tante Wilmet und Lady Henrietta automatisch von dem Sofa, auf dem sie stumm in einträchtiger Zwietracht gesessen, und gingen ins Spielzimmer hinüber, wo sie diese sanfte Gemütsbewegung den Rest des Abends hindurch genießen wollten; Lord Saxenden und der ‹Squire› trabten hintendrein.
Jeanne Tasburgh schnitt eine Grimasse: «Die Bridgespieler schießen wie Pilze aus dem Boden, einfach besessen sind sie!»
«Noch eine Partie?» fragte Sir Lawrence. «Adrian? Nein. Professor?»
«Fleur, wir spielen also beide gegen Emily und Charles. Vorwärts, dann haben wir es bald überstanden.»
«Onkel Lawrence ist wohl kaum besessen», flüsterte Dinny. «Professor, sind Sie mit Miß Tasburgh bekannt?»
Hallorsen verneigte sich.
«Eine wunderschöne Nacht», erklärte der junge Tasburgh an Dinnys andrer Seite. «Könnten wir nicht ins Freie hinaus?»
«Michael», rief Jeanne und erhob sich, «wir gehen in den Garten.»
Die Nacht war wirklich wunderschön. Reglos ragten die Kronen der Ulmen und Steineichen ins Dunkel. Diamanthell blitzten die Sterne, noch lag kein Tau auf den Gräsern. Die Blumen leuchteten weiß, nur ein scharfes Auge unterschied ihre Farben. Ab und zu schwirrte ein Käfer vorüber oder drang vom Fluß her ein Eulenschrei. Die Luft war mild, durch die gestutzten Zypressen tauchten verschwommen die Umrisse des beleuchteten Schlosses auf. Dinny und der Seemann schritten den andern voran.
«In solchen Nächten», erklärte Tasburgh, «spürt man den Hauch des Weltalls. Mein Kommandant ist ein lieber, alter Kerl, aber der Dienst bei ihm tötet allen Glauben. Glauben Sie noch an etwas?»
«An Gott, meinen Sie?» fragte Dinny. «Ja, vielleicht, doch weiß ich nichts von ihm.»
«Können Sie anders, als allein und unter freiem Himmel an Gott denken?»
« Mich stimmt die Kirche andächtig.»
«Andächtige Stimmung genügt nicht; man möchte die unermeßliche Schöpferkraft und zugleich die unermeßliche Ruhe des Weltgeists doch auch begreifen. Ewige Bewegung und zugleich ewige Ruhe. Dieser Amerikaner scheint mir ein recht netter Mensch.»
«Haben Sie sich mit ihm auch über Vetternliebe unterhalten?» fragte Dinny.
«Dieses Thema hab ich mir für Sie aufgespart. Wir beide haben einen gemeinsamen Ururururahn, einen Zeitgenossen der Königin Anna. Sein Porträt hängt in unserm Haus, ein gräßlicher Kerl mit langer Perücke. Somit sind wir Vetter und Base – draus folgt doch die Liebe von selbst.»
«So, wirklich? Blutsverwandtschaft ist freilich nicht bedeutungslos. Jede Verschiedenheit springt dann um so mehr in die Augen.»
«Denken Sie dabei an die Amerikaner?» – Dinny nickte.
«Immerhin», erklärte der Seemann, «hab ich in Not und Gefahr viel lieber einen Amerikaner zum Kameraden als irgendeinen andern Fremden. So dachten wir alle bei der Marine.»
«Das kommt wohl von der gemeinsamen Sprache?»
«Nein, eher von der verwandten Wesensart und Lebensanschauung.»
«Aber das gilt doch nur bei Amerikanern britischer Herkunft?»
«Diese Amerikaner geben noch immer den Ausschlag, besonders, wenn man die Nachkommen von Holländern und Skandinaviern dazu nimmt, wie diesen Hallorsen. Ihre Rasse ist ja der unsern nah verwandt.»
«Sie sollten einmal mit meinem Onkel Adrian drüber sprechen.»
«Ist das der hochgewachsne Mann mit dem Spitzbart? Sein Gesicht ist mir sympathisch.»
«Er ist ein lieber, guter Mensch», sagte Dinny. «Doch wir haben die andern verloren, und ich spüre jetzt den Nachttau.»
«Einen Augenblick! Meine Erklärung heut beim Dinner war völlig ernst gemeint. Sie sind wirklich mein Ideal und erlauben mir hoffentlich, es weiter zu verehren.»
Dinny knixte.
«Ihr schmeichelt, Herr, mir armem Mägdelein, gewiß seid Ihr ein Herr von hohem Stande», fuhr sie leicht errötend fort.
«Können Sie denn nie ernsthaft sein?»
«Selten. Und schon gar nicht, wenn der Nachttau fällt.»
Er ergriff ihre Hand. «Eines Tages werden Sie es doch sein – ich werd Sie dazu bringen.»
Dinny erwiderte leicht den Druck seiner Hand, dann machte sie die ihre frei und ging weiter.
«Schöne Base», sagte der junge Tasburgh. «Tag und Nacht will ich an Sie denken. Still, keine Antwort!»
Und er öffnete die Glastür. Cicely Muskham saß vor dem Klavier, hinter ihr stand Michael. Dinny trat auf ihn zu.
«Ich geh jetzt in Fleurs Boudoir, Michael. Willst du so freundlich sein und Lord Saxenden hinführen? Wenn er bis zwölf nicht dort ist, geh ich zu Bett. Jetzt muß ich mir die Stellen heraussuchen, die ich ihm vorlesen will.»
«Gut, Dinny. Auf der Fußmatte vor der Tür setz ich ihn ab und verschwinde. Viel Glück!»
Dinny öffnete das Fenster des kleinen Boudoirs, zog das Tagebuch hervor und setzte sich hin, die Auswahl der Stellen zu treffen. Es war halb elf, weit und breit kein Laut zu vernehmen. Sie wählte sechs ziemlich lange Abschnitte, die ihrer Ansicht nach erwiesen, daß man Hubert vor eine unmögliche Aufgabe gestellt hatte. Dann steckte sie eine Zigarette an und beugte sich wartend zum Fenster hinaus. Die Nacht war noch ebenso wundervoll wie zuvor, doch sie selbst war jetzt ernster gestimmt. Ewige Bewegung und zugleich ewige Ruhe? Wenn das das Wesen Gottes war, dann half er den Menschen wohl nicht viel. Warum sollte er auch? Als Saxenden den Hasen ins Hinterteil geschossen, als das arme Tier so kläglich aufgeschrien, hatte Gott es gehört, und war er in Mitleid erbebt? Als der junge Mann ihr die Hand gedrückt, hatte Gott es gesehn und gelächelt? Als Hubert in der Wildnis Boliviens in Fieberdelirien gelegen und dem Kreischen der Vögel gelauscht, hatte Gott ihm einen Engel mit einer Dosis Chinin gesandt? Wenn der Stern dort droben einst in Billionen von Jahren erlosch und kalt und glanzlos am Himmel hing, würde Er dieses Ereignis auf seiner Manschette notieren? Die Millionen und aber Millionen Grashalme und Blätter, die im Dunkel der Nacht so samtschwarz schimmerten, die Millionen und aber Millionen Sterne, in deren Licht sie dieses tiefe Schwarz sah, sie alle, alle waren aus der ewigen Bewegung in der ewigen Ruhe hervorgegangen, alle waren ein Abglanz Gottes. Und auch sie selbst und der Rauch ihrer Zigarette, die Jasminblüte, deren Duft sie einsog, deren Farbe ihre Phantasie erriet, das Hundegebell, das aus weiter Ferne fast drohend durch diese tiefe Stille drang – das alles, alles war beseelt, durchdrungen von der unendlichen, ewig fernen, unfaßbaren Gottheit!
Nach einer Weile zog sie fröstelnd den Kopf zurück und streckte sich in einen Armstuhl, das Tagebuch glitt ihr in den Schoß. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, dem Fleurs Geschmack ein neues Gepräge verliehn hatte; der Teppich war in zarter Farbe gehalten. Anmutig fiel der gedämpfte Schein der Lampe auf ihr seegrünes Kleid und die Hände, die auf den Blättern ruhten. Der lange Tag hatte sie müde gemacht. Emporgewandten Gesichts lehnte sie da und betrachtete schlaftrunken den Majolikafries, mit dem irgendeine frühere Lady Mont den Raum hatte schmücken lassen. Spaßige kugelrunde Kupidos, mit Rosenketten aneinandergebunden, starrten unverwandt stets aus der gleichen Entfernung auf ihres Vordermanns Hinterfront. Die Flucht der rosigen Stunden, der rosigen – – Dinnys Lider wurden schwer, die Lippen öffneten sich ein wenig, sie schlief. Das milde Licht floß über Antlitz, Haar und den lässig ruhenden Nacken der Schlummernden. Jetzt sah sie tatsächlich so zart aus wie manche jener blonden, so englisch wirkenden Frauen Botticellis. Eine Locke fiel ihr in die Stirn, ein leichtes Lächeln huschte um die halbgeöffneten Lippen. Die Wimpern, ein wenig dunkler als das Haar, streiften ab und zu leise über die durchsichtigen Wangen, und im Traum zuckte und bebte die kleine Stumpfnase, als mache sie sich über ihr eignes Aussehen lustig. Genügte nicht der leiseste Griff, um dies zarte, emporgewandte Antlitz von dem weißen Stengel des Halses zu pflücken? Plötzlich fuhr sie in die Höhe. Lord Saxenden stand mitten im Zimmer und starrte sie aus seinen kalten blauen Augen unverwandt an. «Bedaure lebhaft, daß ich störe», erklärte er. «Sie haben so gut geschlafen.»
«Hab von Plumpudding geträumt», gab Dinny zur Antwort. «Reizend von Ihnen, daß Sie zu dieser Nachtstunde noch kommen – wie spät ist es?»
«Halb zwölf. Hoffentlich machen Sie's nicht gar zu lang. Es stört Sie doch nicht, wenn ich mir eine Pfeife anzünde?»
Er nahm ihr gegenüber auf dem Sofa Platz und begann die Pfeife zu stopfen. Dinny las in seiner Miene den Wunsch, die Vorlesung bald überstanden zu haben und den Entschluß, sich erst dann ein Urteil zu bilden. In diesem Augenblick gewann sie in seine Führung der Staatsgeschäfte Einblick. ‹Ach ja›, dachte sie, ‹er gibt und weiß nicht, ob sich die Sache rentiert. Daran ist Jeanne schuld!› Was empfand sie jetzt für die Leopardin? Dankbarkeit, weil sie Saxendens Interesse von ihr abgelenkt, oder vielleicht doch etwas wie Eifersucht? Weder sie noch irgendeine andre Frau hätte das je verraten. Erregt schlug ihr das Herz, rasch, in sachlichem Ton begann sie zu lesen. Drei der Stellen hatte sie beendet, ehe sie wieder den Blick zu ihm hob. Sein Gesicht sah so unbewegt aus, als sei es aus Mahagoni geschnitzt, nur die Lippen sogen unablässig an der Pfeife. Wie er ihr so gegenüber saß, glotzte er sie neugierig, fast feindselig an, als denke er: ‹Dieses junge Weibsbild appelliert an mein Gefühl. Es ist schon sehr spät.›
Dinnys Abneigung gegen ihre Aufgabe wuchs, immer rascher las sie weiter. Der vierte Abschnitt wirkte auf sie so ergreifend wie kein andrer, ausgenommen der letzte. Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie zu den Schlußworten kam.
«Das nenn ich ein wenig stark», warf Lord Saxenden hin, «einzig dastehende Biester, wahrhaftig! – was kann so ein Maultier schon fühlen?»
Da packte Dinny heftiger Ärger. Am liebsten wollte sie Saxenden gar nicht mehr ansehn. Sie las weiter und lebte sich immer tiefer in jene qualvolle Schilderung hinein, die sie jetzt zum erstenmal in Worte gekleidet hörte. Atemlos kam sie zu Ende, sie bebte an allen Gliedern vor Anstrengung, die Stimme zu beherrschen. Lord Saxendens Kinn ruhte friedlich auf seiner Hand. Er war eingeschlafen.
Dinny stand da und starrte ihn an, wie er kurz vorher sie angesehn. Einen Augenblick fühlte sie sich versucht, ihm die Hand vom Kinn wegzureißen, doch ihr Sinn für Humor wußte sie davor zu bewahren. Sie betrachtete ihn – wie auf Botticellis Gemälde Venus den schlafenden Mars. Schließlich nahm sie von Fleurs Schreibtisch ein Blatt Papier, schrieb: ‹Bedaure ungemein, daß ich Sie so erschöpft habe. Gute Nacht!›, und legte es mit unendlicher Vorsicht auf Saxendens Knie. Dann rollte sie die Tagebuchblätter zusammen, stahl sich zur Tür, öffnete sie und warf noch einen Blick zurück. Sein leises Atemholen ging allmählich in Schnarchen über. ‹Man appelliert an sein Gefühl, und er schläft ein!› dachte sie. ‹Na, jetzt weiß ich, wie er es anstellte, den Krieg zu gewinnen.› Sie wandte sich um, da stand Professor Hallorsen vor ihr.