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Der Samstagabend hatte mit Reisigbesen und Gießkanne dem Werktag vor den Häusern im Dörfchen des Falkensteins ein Ende bereitet … nun konnte der stille Sonntag kommen, er fand morgen reinlichen Weg zwischen den windschiefen Bauernhütten. Birkenzweige leuchteten hellgrün über den Türen; und wo ein besonders freudiges Menschenkind wohnte, stand wohl gar ein ganzes Birkenbäumchm neben den Gassenstufen, mit zugespitztem Stamm in die Erde gesteckt. Alte Leute saßen darunter mit stillen Gesichtern, denn nun wußten sie die harte Woche hinter sich. Der große Frieden »Du sollst den Feiertag heiligen« träumte über den Bergen. Der Wald hielt seine Blätter still, als bereite auch er sich in Andacht auf das Morgen. Die Tannen reckten ihre befransten Arme über das Feld. Die Lärchen standen in mattgrünen Gewändern am Rand des Forstes. Alle Natur sah aus, als spüre sie schon den Odem des Herrn, denn Gott würde morgen über seine Erde wandern, um nach der Menschen Wohltun und Missetat zu sehen.
Friedlos war nur einer in all dem Frieden, und der war Philipp von Hattstein. Den ganzen Nachmittag hatte er vom die Umgegend beherrschenden Schloß Falkenstein nach der Heimkehr seines Knechtes gespäht. Was würde der von Frankfurt für Antwort bringen? Das Schreiben an den Rat war fürsichtig und höflich abgefaßt gewesen, darinnen er verheißen: es wäre bei der Fehde wider den Hattstein zu bedenken, daß er – Philipp – sich von den Ganerben getrennt und darum der Reichsstadt nicht länger Feind sei; so wolle er sich denn bei einer möglichen Belagerung der Bedräuung im Rücken der Belagerer enthalten – falls nötig, sogar mit Rat und Hilfe dienen und eine Fehde erleichtern helfen; doch solle man ihm dafür versprechen, daß der Falkenstein – ob auch in eines Hattsteiners Besitz – von aller Antast frei erachtet würde.
Und nun kam und kam der Knecht nicht mit der Antwort heim …
Philipp waren nachträglich Bedenken aufgestiegen, daß Herr Hatzicho recht behalten möchte, wenn er der Meinung gewesen: nach dem Mord an Henchen Hanauwe würde Frankfurt mit dem Angriff nicht länger zögern. – Daher der feige Brief … vom Haß gegen den Bruder diktiert und von der Sorge um des eigenen Leibes Sicherheit. Daß er selbst den tödlichen Bolz gesendet, wer wollte ihm das beweisen? Und was Dietrich, Hatzicho und Eberte auch darüber sagen mochten – er würde den Frankfurtern alles ableugnen.
Wohl hatte er den heimkehrenden Hattsteiner mit seinem Fähnlein und den Gefangenen von der Burg aus gesehen. Daß sie den Knecht aufhielten, war ihm entgangen, weil der Hohlweg zwischen Buchen versteckt lag. Hustend und grollend schlich der grämliche Hausherr in dem engen Felsennest umher, stieg manchmal auf den Bergfrit und hielt, mit keuchendem Atem oben ankommend, dort Umschau; aber der Tag wollte schon seinem Ende neigen, und noch immer blieb der Knecht aus. Da hielt es den unruhigen Philipp nicht länger daheim. Er befahl zwei Knechten und ritt mit ihnen eine Weile später den steilen Hang an der Rückseite des Felsens hinab, um dem Ausbleiber entgegenzuziehen. So ungeduldig brannte er auf Frankfurts Botschaft – nicht zuletzt von seinem Gewissen getrieben und von der peinigenden Angst, Frankfurt möchte den Brief überhaupt nicht erst beantworten, sondern ihn – um den Hattsteiner zu gütlichem Nachgeben und Friedhalten zu veranlassen – warnend an Herrn Hatzicho senden. Der letzte Rest von Scham vor den Geschwistern war doch noch nicht ganz erstorben. Fast reute ihn sogar der Brief an den Rat, denn es war wenige Stunden nach dem Durchzug Herrn Hatzichos ein fremder Reiter im Dorf gewesen und hatte sich nach dem Weg gen Hattstein erkundigt. Der Mann, der diese Nachricht ins Falkensteiner Schloß gebracht, meinte den Reiter sogar als eines Frankfurter Ratsherrn Sohn erkannt zu haben; und da er versicherte, der Frankfurter sei – soweit es den nicht Ritterbürtigen verstattet war – gewappnet und gerüstet gewesen, so verfing sich Philipp mehr und mehr in der Überzeugung: wenn es auch nicht einer der Stadtboten Frankfurts war, so konnte dieser Reiter doch sehr wohl nichts anderes bedeuten, als möglicherweise der Überbringer des von Hatzicho vorausgesagten Fehdebriefes. Drei Tage blieben dann vorm Angriff zwar noch Frist … und konnte diese drei Tage der Rat, den so langmütig seither nicht nach der Fehde gelüstet, nicht wiederum benützen, um durch des ältesten Hattsteiners Schreiben abermals gütlichen Vergelt für die zugefügte Beleidigung zu erlangen? – In diesem sorgenvoll beschämenden Überlegen ritt Philipp von der Burg herab, den Geschwistern, Frankfurt, der ganzen Welt und sich selbst am meisten grollend.
Just kam da ein einzelner Reiter aus der Feldberggegend her, dem der Brustharnisch in der Abendsonne funkelte, und hatte ein grünes Reislein auf der Kopfberge prangen. Daß der Mann weder Hattsteiner noch Reifenberger war, erkannte Philipp von weitem. Vielleicht war es jener Frankfurter, und man konnte nun sicher erfahren, was ihn nach dem Hattstein geführt? Wenige Worte genügten und die beiden Knechte sperrten im Verein mit ihrem Herrn den Weg so, daß der Reiter von drei Seiten eingeschlossen war, sobald er herankam.
Der heimkehrende Echter Keseler nahte arglos … dann sah er sich dem Beleidiger Frenes gegenüber, den er vor fünf Jahren über den Lattenzaun geworfen und so weich auf Henchen Hanauwes Misthaufen gebettet hatte. Es stieg der blutrote Grimm in Echters gutes Gesicht: das war auch der, der den armen Stadtboten verbluten gemacht! Und wie der unglückliche Mensch in Ebertes Schoß gestorben, hatte er heute auf dem gastlichen Hattstein vernommen, wo niemand dem Überbringer des Fehdebriefes verleidet gewesen war … nur einmal war etwas wie ein feindseliges Schweigen zwischen ihm und den Hattsteiner Brüdern gewesen: als er nach dem gefangenen Flink gefragt. – Langsam tastete Echters Hand nach dem am Sattel befestigten Schwerte, das nach dem Brauch nur die Ritterlichen und ihre Mannen beim Reiten umgegürtet tragen durften. Des Guten hatte er sich von dem finstern Philipp nicht versehen, der bleich und hohläugig, heiser hustend, dürr wie der Tod selbst, auf dem Gaul vor ihm hielt.
Und Philipp von Hattstein sah die Stunde der Abrechnung auch mit diesem Kränker seines Stolzes gekommen … alles andere vergaß er über dieser Aussicht …
»Gebt den Weg frei, Herr!« grollte des Frankfurters starke, tiefe Stimme.
Philipp zwang ärgerlich einen kitzelnden Hustenanfall nieder. »Ich halte an der Straße vor meinem Schlosse, wo mir's beliebt!« entgegnete er verbissen.
Da wollte Echter über den grasigen Rain stumm an ihm vorbei. Philipp stellte seinen Gaul die Quere, die beiden Knechte näherten sich. Ein Blitz grellte durch das Abendscheinen: Echters gute Klinge. Auch der Ritter zückte das Schwert. Da klirrte schon des einen Knechtes Waffe auf der Kopfberge mit dem grünen Reis; das Zweiglein wirbelte davon. Dem Ratsherrnsohn dröhnte der Schädel, vor den Augen tanzten ihm glührote Funken und sprangen blaue Sternchen. Philipp warf den langen Oberkörper neben seines Gaules Hals nach vorne – in seiner Hand war etwas, das Echter wie eine feurige Natter sah; dann spürte er einen rasenden Schmerz dort, wo der Brustharnisch knapp über Leib und Hüfte abschloß. Unter diesem brennenden Stechen wirbelte er die lange Klinge und schlug blindlings um sich, sah einen Menschen aus dem Sattel stürzen und den Weg frei werden. Er gab dem Rosse beide Sporen in die Flanken und jagte davon …
So sahen die friedlichen Leute unter den Sonntagsbirken, wie ein Reiter wild durch die Dorfgasse raste und nach Cronberg zu entschwand. Mit blutigen Tropfen bestreute er seinen Weg.
Hinter dem Falkensteiner Felsen aber schleppten die beiden Knechte ihren Herrn in das Zwingnest hinauf. Er ächzte und stöhnte nur leise, sobald das Blut aus zwei tiefen Wunden sprudelte – einer am Kopf und einer am Hals.
Auch der endlich nahende Bote begegnete dem dahersprengenden Reiter, der die Herrschaft über seinen Gaul verloren zu haben schien und mit halbgeschlossenen Augen wankend im Sattel saß. Da er ihn für einen Trunkenen hielt, sah er ihm nur kurz nach und ritt in gemächlichem Schritt heim. Doch kam er nicht dazu, Herrn Philipp des Frankfurter Rates Antwort zu übergeben, in der die Stadt mit höflich kühlen, inhaltslosen Worten kaum einen Dank für das heimtückische Anerbieten eines Hattsteiners wider die Hattsteiner aussprach, auch nichts davon äußerte, daß sie den Falkenstein schonen wolle. Der ungetreue Bruder kam nicht mehr dazu, die Schmach dieses versteckt verachtungsvollen Briefes zu empfinden – still und kurzatmig, bleich und gereckt lag er auf seinem Bette. Und das Brünnlein seines verfehlten Lebens kroch in beharrlichem Sickern durch den Verband. Die paar Leute auf dem Falkenstein warteten ohne Trauer auf das Versiegen dieser Quelle. –
Wo der Weg nach Cronberg hineinführte, griff endlich ein Mann dem nun langsam schreitenden Rosse Echters in den Zaum. Im Sattel hing der wunde Mensch tief auf des Wallachs Mähne geneigt und stammelte mit brechenden Augen um Hilfe. Der Bauer Berchthold Rüdiger ließ seinen Acker Acker sein, den er in samstägiger Zufriedenheit auf die vollen Ähren geprüft hatte. Er geleitete den Reiter vor ein kleines Haus dicht unter der Veste Cronberg. Ein kräftiges Weib und ein Mädchen mit braunen, erschrockenen Augen halfen ihm den Stöhnenden aus dem Sattel heben und in die Behausung tragen. Sie betteten den Mann mit dem heimtückischen Schwertstich ohne Klage und Aufregung, aber mit stiller Sorgfalt und barmherzigem Bedauern. Als den Wunden die Frauen weit genug entkleidet hatten, daß sich Berchtold allein behelfen konnte, verließen sie die Stube. Wie der Bauer nun den letzten Rest der Kleidung entfernte, blutete ihm eine breite Wunde überm Hüftbein entgegen. Er rief erschrocken nach Weib und Tochter und jagte das Mädchen zur Burg hinauf, damit man kundige Hand sende. Derweil wusch die Frau den schwertgeschlagenen Wundmund mit Essigwasser, damit sich das Bluten beruhige. Über dem sank der Mensch in tiefe Bewußtlosigkeit … und das blieb so die Samstagnacht und den folgenden Sonntag. Niemand kannte ihn und keines wußte, woher er war. Im Fieber schrie Echter ab und zu ein Wort über die durstbrennenden Lippen. Doch konnte niemand dies Wort deuten – – denn wer ahnte, daß des Frankfurter Ratsherrn Gilbrecht Weiße Tochter Frene hieß …? –
In tiefem Leid und in stillen, heißen Klagen, stumm und aller Welt verborgen, trug Frene ihre Angst um den nicht Heimgekehrten. Sie rang die Hände und ließ den Tränen freien Lauf, wenn sie allein war: O Christophel, warum betrogst du dies arme Herz um deine Macht! Und immer wieder wurde der verzweifelten Seele klar, daß sie sich an ihrer Liebe versündigt, seit Jahren ihre Liebe getäuscht hatte, mit unguten Worten danklos für die Treue des treuesten Menschen. Ach, wenn ihn der fluchbeladene Hattsteiner wenigstens am Leben ließe … dann konnte vielleicht …
Ja ja, des Menschen ewiges »Vielleicht«, auf das er so viel baut! –
Klaus Keseler war erstarrt und sah wie eine Mumie aus. Die Samstagnacht brachte er schlaflos zu und wanderte unablässig von einer Stubenwand zur andern. Was hatte das zu bedeuten, daß der Echter nicht heimgekommen war? … trieb er die Zuneigung für den Hattsteiner zu weit und nächtete töricht in der Burg des Mannes, der – mochte er so liebenswert sein, daß er des tiefsten Eindrucks auch auf den alten Klaus nicht verfehlt – doch nun einmal der Feind Frankfurts war?! Klaus fiel das Wort ein »Ihr werdet dem Hattsteiner eine große Freude antun« … war's teuflisch gemeint gewesen, und war der schöne, stolze Mann aus dem Raubnest doch vielleicht der Menschlichkeit und des Adels eines Menschen bar? Hatte er heuchelnd die Versicherung ausgesprochen, nur um der Aussicht willen, einen reichen Frankfurter um das Lösegeld prellen zu können? – Als aber auch der Sonntag zu Ende gehen wollte, ohne daß Echter wiederkehrte, blieb dem verzweifelten Vater nur noch die Überzeugung: wenn der Hattsteiner den Sohn nicht in das berüchtigte Verlies geworfen, so hatte der Wolf von Hattstein wohl den besten aller Söhne zerfleischt. Und in dieser Not lief Klaus Keseler zu Gilbrecht Weiße. Doch der quälte sich mit furchtbaren Vorwürfen, daß er durch sein Eingehen auf Echters Fehdebotschafttragen des Freundes Einzigen wohl zu Tode gebracht haben könnte – er wäre der erste Absager nicht, der auf dem Hatzichenstein an Leib und Leben geschädigt ward. Die beiden Männer hatten nur eine kurze Unterredung, dann ging Herr Gilbrecht mit starrem Gesicht durch die Gassen der Stadt und sprach alle Menschen an, die ihn ehrfürchtig grüßten … es gab nur eines: die Absage war getan – nun galt's, den Rat zur Fehde zu bewegen, ehvor die ehrbare Frist der drei Tage geachtet war …
Die Sonne war noch nicht voll am Sinken, da hallte der wilde Schrei der Volkswut vor dem Römer. Die Menge forderte Rache für das Blut Henchen Hanauwes und für den vermeintlich neu mit Echter angetanen Schimpf. Mit gellem Gekreisch verlangten sie das Blut Hatzichos und den Fall der Burg Hattstein. Die empörten und aufgerührten Frankfurter standen und drängten sich vor dem dreigiebeligen Haus am Samstagsberg, hoben ihre tausend Arme, fluchten dem Rat und baten ihn wieder – bis die Dunkelheit da war. So blieb denn dem angsterschöpften Rat nun nichts anderes übrig … er rieb sich den Schlaf aus den Augen und handelte endlich. Blutrot brennende Fackeln wurden durch die Gassen getragen. Vom Dom rief mit hastigen Schlägen die Glocke den Alarm. Die Menschen wogten in den Gassen hin und her. Die polternden Räder der Geschütze und die ihrer mit Steinkugeln schwer gelasteteten Beiwagen rumpelten die wenigen Schläfer aus den Betten. Die Hufe der Gäule, die Schritte der Reisigen, das stahlklingende Geklirr der Rüstungen machte diese Sonntagnacht früh zum Montagmorgen. Bis zum Tagesgrauen ging das so fort, dann war das Heer aufgeboten. Auf den Wegen zum Bockenheimer Tor staute sich der ganze Wirr, und was bei der Eschenheimer Pforte raschern Ausgang erhoffte, drängte sich in die Gasse nach dem schwer und still fünfzackig aufdräuenden, stolzesten Wartturm Frankfurts. So ging die Sonne in strahlender Morgenröte über dem Maine drüben auf und umschimmerte den Eschenheimer Turm mit lauterem Golde – da sah sein Haupt wie eine Krone aus. Der Taunus blaute in der Ferne und lag in tiefem Frieden, und über der Ebene zwischen Taunus und Main wob der helle Morgen seine Schleier und breitete sie mit sachten Händen auf Wiesen und Bäche. –
*
Auch auf dem Hattstein war kein Feiertag gewesen. Der Sonntagmorgen hatte kaum sein erstes Röten über den Taunus geschickt, als Herr Hatzicho die Gefangenen – einen nach dem anderen – zum Verhör im Saal des Palas vor sich führen ließ.
Da lag der heulende Amtmann von Sülzbach vor ihm auf den Knien, wußte nichts zu sagen und bat mit gerungenen Händen ums Leben. Voller Ekel wendete sich der am Tisch sitzende Hattsteiner von dem feigen Anblick fort und schickte den schlotterigen Menschen ins Gefängnis des Hartenfelshauses zurück, nachdem er im Widerwillen gegen so viel jämmerliche Furcht die Zusage der Sicherheit hingeworfen.
Mit hellen Augen, aus denen das lautere Vertrauen glänzte, hoch aufgerichtet und ein ehrlicher Mann – so trat der Vogt von Eschborn vor den Tisch. Ein Blick Herrn Hatzichos auf diesen Freien … und er befahl, daß man dem Boß von Offenbach die Ketten löse. Doch auch der Vogt wußte nichts von Frankfurts Fehdeplänen. Und der Hattsteiner merkte wohl: selbst wenn dieser Mann hätte reden können, würde er geschwiegen haben. Doch ging aus seinen klaren freimütigen Antworten hervor, daß er uneingeweiht war. Als der Johann Weißkirchen nach dem Schluß dieser Vernehmung mit schadenfrohem Gesicht zu den Ketten griff und sie wieder um des Eschborners Handgelenke schließen wollte, wies ihn Herr Hatzicho mit harter Stimme zurück.
»Ich hörte, daß du dreist zu meinen unfreiwilligen Gästen gewesen«, sagte er mit zürnenden Augen. »Du übertratest ein Gebot von mir und empfingst augenblicks verdiente Strafe: den blaffenden feigen Köter stößt man mit dem Fuße fort. Danke es meiner Schwester Eberte, die deines Kindleins Pate ist – um deswillen mag ich dich nicht schwerer büßen, als daß ich den Fußtritt nicht nur billige, sondern gutheiße. – Ihr mögt frei über den Burghof gehen, Herr Vogt«, wendete er sich an den Eschborner. »Den Weg zum Hartenfelshaus werdet Ihr allein finden … es tut mir leid, daß ich Euch bitten muß, mit dem Gefangenenraum vorlieb zu nehmen.«
»Wollte Gott, dies Vorliebnehmen diente dazu, manch einem Frankfurter das Leben zu erhalten, und denen im Hattstein das Blutvergießen – auch am eigenen Leibe – zu ersparen!« dankte der Vogt, verneigte sich mit Anstand und trat in den sonnigen Morgen hinaus. Er kostete die paar Schritte in der Freiheit aus und ging gemächlich des kurzen Weges, mit weiten Lungen den satten Sommerhauch, mit erhobenen Augen den köstlichen Schein der Helle genießend, bevor die schwere Pforte hinter der Dunkelheit des Gefängnisses knirschend ins Schloß fiel.
Als man den Flink von Hasselbach hereinführte, raschelte auf der Galerie der Saaltreppe ein Frauengewand, und es erscholl ein leiser Ruf. Herr Hatzicho hob erstaunt den Blick … Eberte stand mit weißen Wangen hinter der Brüstung. Langsam kam sie die Stiege herab, stolz trat sie neben den Tisch.
»Bin ich nur geduldet hier oder bin ich die Herrin des Hattsteins, wie du und Dietrich ihm Herren seid?« Des Mädchens Stimme war klar und ohne den Klang der Erregung. Ruhig sah Eberte ihre Brüder an.
»Was soll diese Frage!« fuhr Herr Hatzicho auf.
Der gutmütige Dietrich kratzte sich mit bedenklichem Gesicht den dünnblonden Schädel. Ja ja, sie hatte schon recht! … der Hatzicho schaltete hier, als gäbe es nur seine Macht auf dem Hattstein. Gern hätte Dietrich das auch gesagt … aber der Mund war ihm zu trocken. Und so tat der Durstige den gewohnten Griff nach dem Krug, wie immer ohne hinzusehen. Die Hand tastete ins Leere, und so mußte er sich besinnen, daß es hier mehr galt denn einen Morgentrunk.
Bruder und Schwester, so ähnlich in den Zügen, blitzten einander mit den gleichen Augen an. Hatzicho preßte den schönen Mund zusammen, Eberte kräuselte die Lippen.
»Was diese Frage soll?« erwiderte sie, dann tönte ihre Stimme noch heller. »Ich hatte diesen Flink Kurzweg zu meinem Dienst erkoren und halte mir darum den Entscheid über ihn frei.«
»Das ist Torheit, Eberte!« widersprach der Hattsteiner. »Dieser Mann heißt Flink von Hasselbach und ist der Reichsstadt Frankfurt Hauptmann; er kam als Späher in die Burg und wollte den Hattstein verraten. Er hat sein Leben verwirkt.«
Ein leichter Schrei. »Hatzicho!« Sie legte ihre kleine Hand auf das Erz seines Harnischs. »Dieser Mann und sein Leben gehört mir, der Hattsteinerin und seiner Herrin … er hat sich mir als Knecht gelobt.«
»So ist er doppelt des Todes schuldig, denn er brach dies Gelöbnis durch Treubruch und Flucht.«
»Er entfloh nicht – er – ich – ich schickte ihn von dannen.«
»Die Hattsteinerin kann lügen? Das war mir fremd.«
Unter diesem Vorwurf Hatzichos goß es sich purpurn auf ihre marmorweiße Stirn, und wie Rosen flog es ihren Wangen an. »Ich bestehe darauf ihn allein zu richten!« blieb Eberte standhaft bei ihrem Begehren.
»Fälle dein Urteil – du fällst es nicht allein, denn es hängt von meinem und von Dietrichs festem Willen ab!« Finster sah der Ritter die Schwester an. Er wehrte sich gegen zwei Deutungen, die sein Innerstes dem Gebaren des Mädchens geben wollte: liebte sie den Hasselbach – –? … haßte sie ihn so sehr, daß sie allein ihn richten wollte – –? Er wartete mit umwölkter Stirn auf ihren Spruch.
»Den Tod nicht – noch nicht!« Sie hob es stark hervor. »Den Turm …! Und alles weitere, wenn der Hattstein standhielt oder besiegt ward.«
Hatzicho warf einen fragenden Blick auf Dietrich. Der griff in der Aufregung wieder nach der leeren Stelle, an der er die Kanne gewöhnt war, und nickte nur. Da befahl der Hattsteiner, daß man den Gefangenen unverhört ins Verließ hinabseile. »Du hast deinen Willen, Eberte«, sagte er. »Haß oder Liebe – was von beiden auch dein Urteil beeinflußt haben mag –, du hättest bedenken sollen, daß es sich in der hellen Sonne leichter sterben läßt, als in dem mir selbst verhaßten Abgrund unter dem Daressenturm langsam verhungernd am Leben zu bleiben.«
Und indes die Knechte Flink in Ketten davonführten, sank Eberte bewußtlos schwer vor des Bruders Füßen zusammen. Die freie Seele zwang sich selbst in die Fessel des größten Leides: enttäuschte Liebe. –
Als der Schloßvogt Henerig nach dem Gericht seine Wohnung im Hartenfelshaus betrat, kam ihm Frau Doreta mit starren, abgründig dunkeln Augen entgegen.
»Was geschieht mit Gürg?« frug sie heiser.
»Kümmert dich der Stückknecht?«
»Was geschieht mit Gürg?« Sie zwang ihre Brust zu lauten Worten.
»Er wird gefangen gehalten wie die anderen.«
»Und was droht ihm?« Ihr Blick hing in brennendem Haß an dem Manne.
»Was dem Verräter droht!« gab er kurz Bescheid und wollte sich abwenden.
Da krallte sie ihm die Fäuste ins Wams. »Stirbt dieser Mann, so stirbst du mit – – oder nein: mein Leben geht den gleichen Weg wie das seine!« gellte sie plötzlich auf und brach in ein wildes Weinen aus.
Eine ganze Weile sah der Schloßvogt schweigend auf sein Weib. »Es war mir in allen den Jahren nicht fremd geblieben, daß dein Leib bei mir, deine Seele aber bei dem Stückknecht weilte. Heute hast du den Verdacht gefestigt. Für diesen Trug an meinem Frieden kenne ich nur Vergeltung. Du kannst ihn morgen hängen sehen, deinen Gesellen.«
Da warf sie sich ihm zu Füßen und umklammerte seine Knie. Er stieß sie von sich – unbarmherzig fiel seine Faust schwer und wuchtig auf ihre Schulter. Und unter diesem Schlag, den je einer nach ihr getan, wuchs die Vogtin; langsam richtete sie sich auf und funkelte den Vogt mit glühenden Augen an.
»Vor zwanzig Jahren fand er die verlassene Merla, die aus den Niederlanden kam und nur ein einziges deutsches Sätzlein wußte. Es hieß: ›Bin ich da recht auch?‹, wenn ich um den Weg nach Frankfurt fragte. Und weil ich es nicht deutlich sagen konnte, nannte er mich danach Doreta. Mein und sein Kindlein trug er davon – weil du, der Reiche, um seine, des Armen, Liebste warbst … und weil wir in unserer Armut auf ein Glück verzichten mußten, er aber meines Wohlergehens Tod nicht sein wollte. Und vier lange Jahre betrogst du mich, denn erst vier Jahre darauf machtest du mich zu deinem Weibe. Da lernte ich, daß du nur ein Arbeitstier ohne Seele gebraucht. Und ich gestand ihm das, und er zog auf mein Flehen stumm davon, weil er den Jammer nicht mit ansehen sollte. Es war zu allem anderen zu spät … für das eine aber ist es noch zeitig genug!« Sie sah ihn in maßloser Verachtung an und ging still aus dem Haus, über die Zugbrücke und in den Wald.
Auf der Kuppe des Sängelbergs lag die kleine Wiese, auf der der Mohn in blutigroten Feldern stand. Und der Sommer summte friedlich über den Blumen und raunte in den Bäumen; sein friedenvoller Atem machte die Äste jenes einsamen, hohen Tannenbaumes winken, der sich von seinen Brüdern verirrt hatte und verlassen am Waldrand ragte. Das war die Stelle, an der Frau Doreta die erste, holde Botschaft von ihrem Kinde vernommen und dem liebsten Gesellen ihres Mägdleins über die kupfergoldenen Haare streichen durfte – wie zu einem stillen Segen. …
Vor den Augen der schluchzenden Frau verblich der Tagesglanz und ertrank in ihren Tränen. Ihr war die Sonne unter. Ach, sie hatte Jahre und Jahre zu diesem letzten Sinken gebraucht; und morgen sollte sich alles verfinstern unter dem Todesseufzer des einzigen Menschen, den Frau Doretas Herz je wahr und groß geliebt? Ragte dort der Busch nicht wie eine deutende Hand aus der Wiese auf und zeigte er nicht auf den einsamen Tannenbaum? Ja, so einsam und verirrt war auch sie gewesen – von Jugend auf. Krieg, Flammen und ein blutendes Heer, das geschlagen heimwärts floh … der jungen Magd Erbarmen ging mit den wunden Männern … Hanns Grysen Horne … Widubald von Aschaffenburg … der Italiener von Brescia … sie alle waren nur Schatten gewesen, die die kommende Sonne hinzeichnete und beim Schwinden wieder verwischte. Gürg, nur Gürg, der sie zwischen Busch und Dornen aufgelesen, war ihr ein meilenfernes und dennoch weilendes Licht geblieben. Was sagte der einsame Baum hinter ihr, dessen Tannenäste schwarz und schweigsam hingen, als hätte er sich in Trauer gekleidet …?
Bald darauf bog sich einer der Äste schwer nach der Tiefe, und der Baum schüttelte sich wie im Entsetzen über die schauerliche Last, die er dulden mußte. …
Das vorschnelle und unwahre Wort Henerigs, das Wut und Neid ihm aus dem Munde getrieben …! Abermals war eine Seele entflohen – doch diese war's für immer. Nun irrt sie wartend in der tiefen, tiefen Finsternis umher, um mit dem einen Hand in Hand den Weg aus allen Dunkelheiten zu suchen, wenn er morgen käme. O arme Seele – der kommt noch nicht … nun wanderst du ruhelos, die du den Feiertag der Waldeseinsamkeit mit deinem Sterben entheiligt. –
Eine nur fand Zutritt, zu der stillen, stummen Eberte: das war des Johann Weißkirchen Mägdlein. War dieses Kind nicht dabei gewesen, als sie den Flink zum erstenmal sah? Und hatte der Kleinen Federball nicht den Weg gewiesen, auf dem ihr Herz sich zum seinen gefunden? In banger Verzweiflung wälzte die Hattsteinerin ihr Herz nun um und um … und fand doch keinen andern Glauben darin als den an seine Liebe. Vor dem Tode hatte sie ihn bewahrt … ob der Turm mit seiner grauenhaften Tiefe wohl besser war? Ja – ja – ja! klopfte das Herz Antwort. Noch so schauerlich mochte die Nacht im Verlies sein. Daraus gab's einen Weg ins Hell und zur Höhe. Vor dem aber, das der strenge Bruder für den Späher Frankfurts ausgedacht, lag der Riegel der Pforte zur Ewigkeit. Und der blieb nun – gottlob – verschlossen.
Das Kind wischte mit zarten Fingerchen die Tränen von seiner Pate Antlitz. »Nit weinen, gutes Lieblein, nit weinen«, bat es dabei.
Da legte die arme Seele ihr Gesicht in der Kleinen Schoß und flüsterte: »Weißt du, wo Röslein blühen?«
»Viele, viele an einer Hecke vorm Tor.«
»Und wirst du den Eingang zum Turm finden, in den man den Blonden hinabließ – weißt du, den Mann, der dir das Federspiel aufhob?«
Eilberta bejahte eifrig.
»So hole ein Zweiglein Heckenrosen und wirf es in den finstern Schlund. Niemand wacht dabei, denn es kann keiner draus entfliehen, und so darfst du's ruhig wagen. Und wenn das Zweiglein hinabgleitet, so rufe dabei: Dies sendet dir dein Engel!«
Das Mägdlein wiederholte getreulich Wort für Wort, um von dem Auftrag nichts zu vergessen. Dann machte es sich mit ernsten, wichtigen Augen auf den Weg der Liebe.
So kam es, daß Flink in allen Schrecken seiner Verlassenheit den Hauch der Sommerrosen durch die Finsternis wehen spürte. Eines Engels Stimme hatte dazu verheißen, daß draußen nicht nur Blumen, auch das Leben noch blühen würde. –
Um diese Stunde begann vom hohen Falkenstein herab das Zügenglöcklein zu wimmern; der mitleidweckende Ton sank in das Dorf hinab, wo die Sonntagsbirken zu welken begonnen – sterbende Geschöpfe Gottes, an von erbarmungsloser Menschenhand geschlagenen Wunden verderbend. Da rüstete sich der alte Kaplan mit Stola und Monstranz und stieg den steilen Felsen hinan, umwebt vom silbernen Geklingel der Glöckchen in des einen Meßbuben Hand und umwoben vom Weihrauch aus den schwingenden Händen des andern. Er ging zum sterbenden Philipp. –
In dem Bauernhaus bei der Cronberger Veste lag Berchtold Rüdigers Tochter vor dem Bette Echters, betete inbrünstig und sah auf das totbleiche Männergesicht und den fiebermurmelnden Mund.
»Ich hab's ihm heimgezahlt, Frene«, kam es von den trockenen Lippen. Und eine Weile danach in tiefem Leid: »Damals wollte er dich mir stehlen – und nun stahl er mich dir.« Und wieder ein wenig später: »Das Büblein mit dem Hemdzipfel hat …«
Da starb das fieberische Raunen in einem glückseligen Lächeln, und der Sieche blieb verstummt. Nur ab und zu ein Ächzen, wenn die schreckliche Wunde schmerzte.
Berchtold Rüdiger trat ein. »Was macht er …«
Die Tochter legte warnend den Finger an die Lippen, denn wiederum versuchte der Kranke mit geschlossenen Augen ein Wort. Endlich kam es: »Frank–furt –«
»Da also ist er her«, flüsterte das Mädchen. »Borg dir beim Schwarzkirschen-Werner den Gaul, Vater, und reite in die Stadt. Nimm des Herrn Roß beim Zügel, denn das Tier könnte am Sattelzeug erkannt werden. So wirst du ihn erfragen, wenn du noch dazu sagst: er könne nur vom Hattstein gekommen sein. Wer anders schlüge solche Wunden? Vielleicht ängstet sich ein Herz um ihn, das Frene heißt. Vergiß das nicht zu berichten.« Sie legte die kühle Hand auf Echters schmerzensfeuchte Stirne und wiederholte den Namen. Da lächelte er und seufzte zufrieden. Rüdigers Tochter sagte ganz leise: »Frene kommt.« Und wiederum das selige Lächeln. Sie winkte mit den Augen … und der Bauer ging eilig hinaus. –
*
Mittagszeit war es, als sich am Montag ununterbrochen der Strom von Frankfurts und seiner Verbündeten Waffenmacht durch Cronberg ergoß, daß die Häuser zitterten und ihre Scheiben klirrten. Wagen hinter Wagen … dann ein Trupp Glevenreisiger – der langen Spieße zweischneidige Stahlblätter blitzten allen Sonnenschein wider. Unzählige Reiter – die Rosse trugen schwer an Mannen und Rüstungen. Wieder Fußsöldner in schier nimmer endenwollender Prozession. Wagen – Wagen – Wagen … die Achsen knirschten, kreischten, wimmerten – die rundbehauenen Steine lagen wie Berge von Totenschädeln auf den Fuhrwerken. Mund hinter Mund die Rohre – die gähnenden Schlünde hungernd nach dem Fraß von Pulver und Geschossen. Wagen – schwer von der Last der Fässer mit Bolzen. Männer, die die Armbrusten geschultert trugen – jede ein Stück von des Todes gefräßiger Seele, jede der Sehnen eine Sehne an des Todes jagdgewohnten Gliedern. Und endlich hinter einem Zug von vierundzwanzig gewaltigen Gäulen, deren Riesenhufe bei jedem Tritt Kauten und Löcher in die zertrampelten Gassen stampften, jeder Schritt eines Felsens Fall, endlich hinter diesen hochrückigen Kolossen, mit den wie unter der Wucht ihres eignen Gewichtes schwer nickenden Köpfen, ein einsamer Koloß: »die brummende Katrine« … das größte Geschütz, das die Welt bis dahin gesehen. Die Räder der Wagen dahinter, als sollten sie die Erde zermalmen helfen … und jeder Wagen dieser endlosen Reihe barg drei runde Felsenberge von zusammen vierundzwanzig Zentnern. Das waren die steingewordenen Donnerrufe der »brummenden Katrine«, die Mauern und Türme wie hohle Nüsse knacken sollte.
Armer Hatzicho – wie stark muß deine Seele sein! … armer Hattstein – wie gewaltig dein Trutz! … denn alles, was da durch Cronberg zog, war der wider euch aufgerufene Jüngste Tag.
Nachdem kamen nur noch vereinzelte Trüpplein Reisiger, dann ein Planwagen, der den Stadtschreiber, den Pfaffen mit dem Venerabile für die Sterbenden – und eine bleiche Frau trug. Dahinter waren ein paar Herren auf Rossen, gerüstet mit finstern Gesichtern. Als Letzter ritt bescheiden der Cronberger Bauer Berchtold Rüdiger auf einem dürren Klepper einher. Es war ihm gelungen, den Vater aufzufinden, dessen Sohn siechwund lag, und das Mädchen zu erfragen, ohne das der Fiebernde nicht sterben zu können schien. Vor Rüdigers Häuschen hielt das Fuhrwerk. Herr Gilbrecht Weiße auf seinem starkknochigen Schwarzen ritt heran und reichte seinem Kinde stumm die Hand hinab. Dann sprengte er davon, um die Spitze des Zuges zu erreichen.
Das schlanke, blonde Mädchen Frene verschwand im Hause und mußte auf der Schwelle die hohe Gestalt nicht beugen, denn der Gram hatte ihr den stolzen Nacken schon geneigt. Sie sank nicht vor Echters Lager auf die Knie – sie weinte und jammerte nicht und rang nicht die Hände beim Anblick dieses wohl dem Tod Verfallenen – nur zwei einsame klare Tropfen perlten über ihr schneeweißes Gesicht. In diesem Stummsein sprach ihre Würde und ihr Schmerz – in diesen Zähren blutete ihr Leid und ihre Liebe. Mutig nahm sie des Schlafenden heiße Hand, den nicht der Lärm des Zuges wider den Hattstein aufzuwecken vermocht. Und als das still sehnende Blut aneinander klang mit dem seinen, Hand in Hand, wendete Echter das wie schon von der Ewigkeit gezeichnete Gesicht. Trotz der geschlossenen Lider kam nach und nach ein Schimmer des Erkennens und des Glückes auf dies verfallende Antlitz. Da neigte sich Frene und legte sanft den Mund auf seine brennenden Lippen … und nun hatte der Reiter den Kuß, um den er geritten war. War es ein Abschiedskuß vor dem seelenbannenden Angesicht des Todes oder war es ein Kuß, der zu neuem Leben erweckte … die Stille in der Stube war heilig, und ein schmaler Sonnenstreif spann sich herein, nach Echters Lager tastend. Mit diesem Sonnenstreif wob die göttliche Gewalt den Lebensfaden wieder an und spann ihn golden bis in des Herrn Hand, auf daß er ihn segne und festhielte, weil ein Leben und ein Menschenglück daran hing. Vorm Hattstein und hinter dessen Mauern fand Freund Hein der Sterbenswilligen genug. –
Als Gilbrecht Weiße durch das Falkensteiner Dorf ritt, begegnete ihm beim Ausgang ein bleich und übernächtig aussehender Priester. Der trug mit müden Schritten und schlafbrennenden Augen das Allerheiligste. Zwei müde Knaben in Meßhemden gingen daneben her – des einen Glöcklein silberten noch – doch der andere schwang das leergebrannte Weihrauchfaß. Der Ratsherr entblößte das Haupt und grüßte. Da blieb der Priester stehen und sprach ihn an.
»Bist auf dem Wege nach Hattstein, Herr?« frug er und sah düster den waffenstarrenden Zug entlang.
»Ihm gilt die Fehde, ehrwürdiger Vater.«
»So werdet ihr eine Schwester und zwei Brüder in der Trauer stören mit Kampfruf und Toben Blut wider Blut. Ich komme von des Herrn Philipp von Hattstein letztem Bette – er verschied, als heute die Sonne aufging.«
»Ein Hattsteiner?«
»Die Knechte sagen, daß er vorgestern abend einen Frankfurter mit dem Schwerte anging und den Tod davontrug.«
»Das war meines Freundes Sohn«, sprach Herr Gilbrecht dumpf.
»Er tötete einen Menschen!« rief der Priester. »Gott rechne ihm das nicht an, wenn er dermaleinst vor seinem Throne steht.«
»Ob's ihm der Herr droben anrechnet, wird er bald wissen, denn er liegt in Cronberg auf den Tod«, zürnte der Ratsherr grimmig von seinem Rappen herunter. »Der Schwertkampf ist getan – vor des Allerbarmers Antlitz mögen nun die Seelen kämpfen, wer unrecht tat – der Hattsteiner Philipp oder der Echter Keseler. – Doch ich danke dir, ehrwürdiger Vater; du kamst zur Zeit mit deiner Kunde. Ich ritt in gottlos blutiger Wut dahin – nun will ich mit ernstem Herzen reiten, denn ich bin auf dem Zuge für das Recht meiner Stadt und ziehe nicht dem Mörder von meines Mädchens Glück entgegen, wie ich meinte. Segne den Tod des Herrn auf dem Falkenstein, Gottesmann – denn wenn er als der Blutvergießer Echter Keselers in unsere Hände gefallen wäre, so wär's ein Tod in Schande geworden.« Er grüßte ehrerbietig und brachte den schwarzen Gaul ins Schreiten.
Der Priester verhüllte die Monstranz, als der erste gewappnete Trupp nahte … er wollte die auf Mord ziehenden Menschen nicht durch den Anblick des Leibes Jesum Christ auch noch weihen. Als er die Unabsehbarkeit des Zuges erkannte, trat er lieber in ein Haus. Davor hing eine in den Werktag vergessene, an die Wand gelehnte Birke traurig die verdorrten Blätter. Als die schwer gerüsteten Reiter vorbeikamen, an deren Spitze der Hauptmann Gerlach von Londorf finster wie das verkörperte Strafgericht ritt, trat der Priester im Alltagskleid auf die Gassenstufen.
»Ruft den Hattsteinern barmherzig über die Mauer, daß ihr Bruder Philipp diesen Morgen starb, nachdem er bitterlich bereute!« sprach er den Londorf an, der nur stumm zusagend das Haupt neigte.
Die seidenen Banner Frankfurts und seiner Verbündeten blähten sich leis raschelnd über dem Zuge. Endlich nahte der Schluß des Heerwurms. Die »brummende Katrine« polterte vorüber … da scharrte die gestorbene Birke mit raschelnden Ästen an der Hauswand entlang und schlug zitternd zu Boden. Das war, als schritte unsichtbar der Tod hinter dem Troß her, mit erbarmenlosen Händen umstürzend in den Staub, was auf Erden welk und verdorben dem Leben nicht mehr nützen konnte. –