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Der Reiter um den Kuß

Als Echter Keseler den Hattsteiner beim Geschützmeister eingeführt hatte, war er nach Hause gegangen. Dort hatte sich mittlerweile Gilbrecht Weiße eingefunden. Echter vernahm aus der erregten Zwiesprache beider Ratsherren, daß der Fehdebrief an die Ganerben auf dem Hattstein endlich beschlossene Sache war. Herr Gilbrecht bestand sogar darauf: die Absage dürfe nach dem Mord an Henchen Hanauwe nunmehr nicht bis nach des Flink von Hasselbach Rückkehr verschoben werden … es sei immerhin fraglich, ob der Hauptmann die Verheißung der Rückkunft in drei Tagen wahrmachen könne … rascher Schlag aber gegen den Hattstein wäre guter Schlag … nach der Freveltat am Stadtboten wäre ein längeres Verzögern des weiland Ratsbeschlusses ein Verzögern für immer, mit dem man die bereits aufgebotenen Verbündeten schwer beleidigen würde … alle diese Bedenken wären ihm schon bei Flinks wunderlichem Späherplan gekommen, doch hätte er sie schweigen geheißen, um kein Verschulden an versäumten Vorsichtsmaßregeln tragen zu müssen. Vier lange Wochen wären vergeudet worden – das sei seine stille Meinung. Folge nun aber die Antwort auf die Bluttat nicht sofort, so bedeute das für die Hattsteiner Zeitgewinn zum Rüsten. Man wäre sich nur nicht schlüssig geworden, wem man den gefährlichen Weg nach der Burg zumuten und wem man die verantwortungsvolle Sendung anvertrauen solle. – So Gilbrecht Weiße.

Klaus Keseler konnte dem hochaufhorchenden Freunde nun berichten, wie der fremde Ritter von Waldburg behauptet: der Botenmord wäre diesmal nicht die Schuld Hatzichos, sondern eine selbst vom Hattsteiner nicht gutgeheißene Tat seines Bruders Philipp, darob sich die Brüder sogar entzweit hätten.

Doch Herr Gilbrecht blieb dabei: nach des Reifenbergers Bericht hätte Henchen Hanauwe einen mit den Hattsteinschen Farben gefiederten Pfeil im Herzen gehabt. Schließlich wäre es einerlei, wer den tückischen Tod gesendet – aus den Burgmauern der Hattsteiner stammte der Bolz – das Blut des Erschlagenen heische Sühne nicht an einem, sondern an allen Hattsteinsche Farbe Tragenden. Morgen müsse der Fehdebrief zugestellt werden – und dies wäre das letzte Wort, das in der Angelegenheit zu sagen sei.

Hiernach war Echter entschlossen vorgetreten. »Wollet mir die Bitte gestatten, Herr Gilbrecht, das Pergament nicht eher abzusenden, als bis ich mit Euch gesprochen!« hatte er sich in die Auseinandersetzung gemischt. Er beteuerte, einen sichern Mann zu dem schweren Amte zu kennen, für dessen unangetastete Rückkehr er sich verbürgen wolle.

Die beiden Alten wollten der seltsamen Bitte zwar wehren, aber Echter fand so beredte Worte und so glückliche Vergleiche, daß er seine Standhaftigkeit schließlich durch die Zusage belohnt sah. Auch mußte Gilbrecht eingestehen, daß Ratlosigkeit ob des Boten geherrscht habe. Der andere Läufer, Jobst Geiling, hätte sich verheißen: er schiede lieber aus dem Dienst, als daß er droben in dem fremden Gebirg an irgendeinem Strauch verrecken wolle! – Kaum war Echter das Zuwarten versprochen, als er sich eilig zu Engelbert Riedesel begab und ihn zum Aufzäumen der Rosse veranlaßte. Er selbst – Herrn Hatzichos Sattel einnehmend – half die Tiere in die Nähe des Geschützmeisterhauses bringen. Zufrieden war er heimgekehrt, nachdem er den feindlichen Freund Hatzicho aus der Stadt wähnen durfte.

Noch in der Nacht hatte sich auf allen Torwachen das Gerücht verbreitet, daß Hatzicho der Wolf unangefochten frech in Frankfurt geweilt. In aller Frühe lief die Kunde durch die ganze Stadt. Im Lauf der Vormittagsstunden versammelten sich die Unruhigsten vorm Römer, schalten laut auf den Rat, daß unter dessen Augen solche Kühnheit möglich gewesen wäre, und verlangten Strafe für den Hattsteiner, vor dem man sich bei solchem Verhalten nicht einmal in den Gassen Frankfurts sicher fühlen dürfe.

Echter vermied es in nicht überflüssiger Besorgnis zunächst, seinem Vater vor Augen zu kommen. Dem Alten mochte nun die wie ein Lauffeuer die Stadt durcheilende Kunde verraten haben, daß der verfehmte Hattsteiner bei ihm im eignen Haus gewesen war, eingeführt durch den eignen Sohn. Der Grimm darüber würde sich legen – rechnete Echter –, wenn der Vater überdacht hatte, wie er diesem Manne unzweifelhaft das Leben des Einzigen verdankte, und wenn er sich die anregende Zwiesprache mit dem Herrn ins Gedächtnis zurückgerufen. Nach dieser Unterhaltung konnte sich der gerechte Klaus der Überzeugung wohl kaum verschließen, daß er mit einem Manne gesprochen, der fälschlicherweise als Raubgesell und Mordbube verschrien war. Echter selbst hatte die Wirkung von des Hattsteiners fesselnder Persönlichkeit am eigenen Leibe erfahren müssen; nun nahm er an, es könne dem Vater nicht anders ergangen sein. Indes war es besser, man vermied ihm unter die Augen zu kommen, bevor er zur Einsicht gelangt. Hatte sich die aber erst einmal bei dem hartnäckigen Manne festgesetzt, dann konnte ganz Frankfurt wider den Hattstein schreien, ohne daß er von seiner bessern Meinung abweichen würde. So brauchte Echter dann nur noch mit dem scheinbaren Grimm des Alten zu rechnen.

Früh am Morgen war er aufgestanden und gebot dem alten Knechte Gebhard, den Gaul heute jederzeit zu einem Ritt bereitzuhalten. In der geziemenden Stunde schritt er gestiefelt und gespornt nach dem »Grimmvogel« und fragte nach dem Ratsherrn.

Herr Gilbrecht befand sich jedoch im Römer, wo der Rat eine eilig zusammengetrommelte Versammlung abhielt; er beunruhigte sich über das Zusammenrotten der Menschen auf dem Samstagsberg. Es konnten aus solchem Zusammenlauf leicht ernstere Unruhen keimen, denn es gab der Schürer genug in der Stadt, die immer mit dem Rat unzufrieden waren; sie mochten die Erregung der jetzt nur geringen Menge Leute zu nützen trachten, größere Massen durch sie aufzuwiegeln versuchen und den glimmenden Zorn auf den Hattsteiner zu einem lodernden Zorn auf den Rat schüren. Glücklicherweise aber verlief sich die Ansammlung mählich, nachdem man durch einige Leute verbreiten ließ: der Rat sei mit der Abfassung des Fehdebriefs und der Wahl des Boten beschäftigt, auch würde man öffentlich kundgeben, sobald die Absage an die Hattsteiner unterwegs wäre.

Der Vormittag verging rasch, in der Stadt herrschte Ordnung und Ruhe, doch vor dem Römer hatte man eine starke Wache von Glevenern aufziehen lassen. Diese Maßnahme fand zwar Mißbilligung bei den Bürgern, aber man verhielt sich jetzt noch still und vertraute auf die Ratsversprechungen. Indessen faßte der Rat noch einmal alle Entschlüsse zusammen, die für den Zug wider den Hattstein getroffen worden waren. Man entbot die Führer der verbündeten Wehrmacht in den Römer; erst als man deren Versicherungen der Bereitschaft vernommen, begann die Beratung über den Text des Absagebriefes, sowie über den Tag, an dem er versendet werden sollte. Allem diesem langweiligen Formenkram und Formeltreiben machte in der zweiten Nachmittagsstunde das Erscheinen des Schäfers Geckir ein plötzliches und gewaltsames Ende. Hanns Grysen Horne führte dem Rat den Hirten vor, und Geckir berichtete nun von der Gefangennahme Flinks, des Eschborner Vogtes und des Sülzbacher Amtmanns. Getreulich schilderte er, was ihm vom Boß von Offenbach aufgetragen worden war und was ihm der Hattsteiner an den Rat zu bestellen geboten, wie er denn auch auf allerlei Gefrage immer nur die rechte Antwort gab: »Die Männer sind in schwerer Gefahr, ihr Herren!«

Mit einem Schlage war die ganze aufgeblasene und umständliche Bedachtsamkeit der Gepflogenheiten im Römer fortgewischt, die Herrn Gilbrecht das Herz vor Grimm zittern gemacht. Nun gab es plötzlich der Schreier genug im Ratssaale, die auf der sofortigen Absendung des Fehdebriefes bestanden. Schnell warf Gilbrecht Weiße ein, daß er auch schon einen sichern und mutigen Boten wisse, und in der Bedrängnis vertraute man ihm die Regelung dieser Angelegenheit. Ebenso rasch, und von der überstürzten Eile der andern mitgerissen, entschloß man sich, an Stelle des gefangenen Flink dem Gerlach von Londorf die Hauptführung der Wehrmacht und Herrn Gilbrecht die Vertretung des Rates bei den Truppen zu übergeben. In Minuten sozusagen war nun plötzlich entschieden, das vorher Wochen gedauert und das heute noch Stunden hätte dauern können. Man jagte Läufer durch die Stadt, um der Kunde zu weiter Verbreitung zu verhelfen.

Endlich, endlich zufrieden kehrte Gilbrecht Weiße heim. Gleichdrauf wurde ihm Echter Keseler gemeldet, den der Ratsherr mit Rücksicht auf die gestern getroffene Verabredung sofort empfing. Er war nicht wenig erstaunt, Echter sich als den Mann entdecken zu hören, der den Fehdebrief nach dem Hattstein schaffen wollte.

»Den Grund, warum just ich den Ritt wagen will, darf ich Euch erst dann vertrauen, wenn dieser Ritt die von mir erhofften Folgen zeitigte«, beteuerte Echter. »Möglich, daß er von mir nicht um des Abenteuers oder um der Stadt Botenlosigkeit willen geplant ist, sondern daß er mir eines Weibes Herz endlich aufdecken soll. Und glaubt mir, Herr Gilbrecht – nicht nur mein Vater, auch Ihr werdet meine Absicht loben … vorausgesetzt, daß mich meine Hoffnungen nicht enttäuschen.«

Es lag ein so glückliches Lächeln der Hoffnung über Echters gutem Gesicht, daß der Ratsherr nur wenig Einwendungen fand. Vor allem meinte er den Wunsch abschlagen zu müssen, weil er dem alten Freunde gegenüber unmöglich die schwere Verantwortung für das Leben des einzigen Sohnes übernehmen könne.

»Daß derlei Befürchtungen ganz außer der Ursache sind, werdet Ihr an dem ersehen, das ich gestehen will!« hob Echter von neuem mit dem Einreden an. Er berichtete nun von seiner Begegnung mit dem Hattsteiner, und wie der von Klaus Keseler gestern abend so sehr gerühmte Ritter von Waldburg kein anderer als Herr Hatzicho gewesen sei. »Kein Mensch kann sich dem verschließen, daß der Hattsteiner nicht nur adlig von Blut und Geschlecht, sondern auch adlig in seinem Herzen ist.« Nun verteidigte er den Mann, der, um eines Menschen Glück zu gründen, so Kühnes wie den Aufenthalt in der ihn ächtenden Stadt gewagt habe. Ja, er sprach so begeistert von Herrn Hatzicho, daß dem Ratsherrn Mund und Augen vor Staunen unbeweglich offenstanden. »Befragt nur meinen Vater, wie vielmehr euch beiden der Ritter im Sinnen und Trachten nach dem Wohl der Bürger nahesteht, wie all sein unredlich Tun – und daß es das leider ist, sei unbestritten! –, sein Plündern und Rauben im Grunde nichts mit der Schnapphahnschaft eines Teiles der burggesessenen Herren zu tun hat – wie es vielmehr die edle Gesinnung eines, wenn auch falsche Wege einschlagenden, doch rechte Ziele verfolgenden Mannes in sich birgt. Und ich meine, den Menschen müsse man zu achten suchen, der seine Überzeugung zu vertreten wagt … ob er das nun gerecht oder ungerecht vollbringe.«

»Dann müßt's einem wahrlich verleidet sein, den Absagebrief zu schicken!« sagte Herr Gilbrecht endlich mit freundlichem Spott.

»Das darf vielleicht nicht umgangen werden«, urteilte Echter im vollen Vertrauen darauf, daß auch diesmal der Hattsteiner nicht zu Schaden käme. »Am Ende ist's besser, die Stadt mißt ihre Kräfte an denen des Ritters. Und wenn es nur zu diesmal nicht umzustoßenden Vergleichen führte. Billige Ansprüche wird der Hattsteiner nicht überhören, denn ich erachte ihn für ein gerechtes Menschenkind. Nur kommt ihm nicht wie einem Hunde, dem man den Knochen hinhält, um ihn beim Fell packen zu können!« fand Echter ein schönes Beispiel. »Dann mag endlich Friede werden an den Landstraßen und Ruhe vor den Toren. – Aber, ist der eine Grund mein eigen Glück, der mich gen den Hattstein treibt, so ist der andere der Umstand, daß Ihr gestern abend von einem plötzlichen Überfalle spracht, dieweil ihr keinen Boten hättet. Bürdet der Stadt nicht solche Unehr auf, daß sie handelt als wäre sie just nicht besser wie die Raubritter selbst.«

Herr Gilbrecht bestritt nun zwar den Ernst dieser Äußerung, aber die Mahnung Echters führte ihm auch wieder die schwere Frage vor, wer denn nun den Fehdebrief in den Taunus bringen sollte.

»Es wäre traurig um den Rat bestellt, wenn er nicht einmal die Macht hätte, einen Boten für den gefahrvollen Weg zu küren«, sagte er. »Aber da wir durch Eure Bereitwilligkeit und durch die Sicherheit, die Ihr vom Hattsteiner verbürgt glaubt, unnütze Scherereien und Sorgen sparen – vor allem, da Ihr beteuert, es hinge Euer Glück und das eines uns Vätern werten andern Menschenkindes an der Fahrt, so sei Euch denn hiermit der Brief vertraut.« Er übergab Echter das im Rat niedergeschriebene Pergament und bat, es einmal vorzulesen.

Echter nahm den Brief und trat zum besseren Sehen ans Fenster; mit starker Stimme trug er den Inhalt vor:

»Denen im Schlosse Hattstein tun wir kund und zu wissen, daß der Landvogt des Landfriedens am Rheine, Herre zu Erpach, und die so über den Landfrieden gesetzt sind nunmehr beschlossen haben, daß ein einmütiglicher Zug gegen eure Burg als nötig erkannt ist, und sind wir vom Reiche und von denen über den Landfrieden gesetzten ernannt, dabei zu dienen, was wir um des Landfriedens willen müssen und auch wollen. Und welcherlei Schaden ihr auch von uns und unsern Leuten nun erleidet darob, wir wollen uns um unsrer Ehre willen verwahret haben dagegen mit diesem offenen Briefe, und so werden wir nun um des Landfriedens Fried in Unfried gegen euch sein. Urkund dieses Briefes versiegelt mit unserem beigedrückten Insiegel und gegeben im Augustmond anno domini 1432 am Tage nach Petri Kettenfeier von uns dem Rat der Stadt Franckfurt an dem Maine.« –

Über dem lauten Vorlesen hatte Echter nicht vernommen, wie sich die Tür öffnete und Frene Weiße eintrat. Sie sah wohl ein wenig blaß aus, aber in dieser Blässe hübscher als je. Ihre Augen hingen an dem breitschultrigen, gerüsteten Manne: wie gut ihn der blinkende Harnisch kleidete. Echter faltete das Pergament zusammen und trat in die Mitte des Gemachs. So fand er sich plötzlich Frene gegenüber. Wenn Herr Gilbrecht nun erwartet hatte, die Tochter liefe eilig davon, so sah er sich sehr angenehm enttäuscht. Sie schien wohl ein wenig zornig auf den Verlobten der Lene Hecker in Speyer zu sehen, aber der tiefe Ernst ihrer Züge verriet doch mehr Traurigkeit als Groll.

»Da Ihr Gesellschaft habt, darf ich Euch ungescheut allein lassen, um das Schreiben mit Wachs zu verkleben«, sagte Herr Gilbrecht und empfing das Pergament von Echter. »Hüte Euch denn der alte Gott auf dem Wege zum Hattstein und leite er Euch heilen Blutes zurück!« In ernstem Segnen legte er dem Manne die Hand auf die Schulter, da er dem langen Echter nicht auf den Scheitel reichen konnte. Er wendete sich nun an Frene. »Biete deinem Jugendgesellen frohe Unterhaltung und gütige Worte, Kind. Man kann doch nie wissen – manchmal sah man einen Menschen zum letztenmal – und braucht nachher keinen unguten Abschied zu bereuen.« Dann war er draußen.

»Du willst dich nach dem verrufenen Hattstein wagen?« begann Frene erregt. Zwar versuchte sie Spott in die Frage zu legen – aber er mißlang ihr unter dem Zittern heißer Angst. Und diese Angst gewahrte Echter mit tiefer, gut versteckter Zufriedenheit in des Mädchens besorgten Augen, sah sie aber ehrlich an.

»Jawohl – das wage ich«, antwortete er mit einem wohlgelungenen Seufzer.

»Und denkst du daran, daß das Blut Henchen Hanauwes dort noch raucht?«

»Ich hab's bedacht. Was liegt am Leben! Es ist ja doch nur ein eitel Widerspiel von Schmerz und Freude, Hoffnungen und Enttäuschungen. Wer das erkannte, fürchtet einen Hattsteinschen Armbrustbolzen nicht. Wem das klar ward, den bewahrte das Schicksal zu schlimmerem auf – oft auch zu besserem. – Drob wag' ich's denn!«

Frene wurde gar nicht gewahr, daß zuletzt eigentlich wenig Sinn in dem Gesagten war. Sie hörte nur die wohlgewählten, ernsten und von Echter klüglich berechneten Worte, die sie rührten. Sie suchte die Rührung vergeblich abzuschütteln. »Und fragst du nicht, was Lene Hecker dazu sagen würde?«

»Wer? … ach so, Lene Hecker … ja die! Nun, die sieht kein Büblein mit dem Hemdzipfel in mir wie Frene Weiße. Sie freut sich baß, weil der Echter das hinten offene Höslein längst verwachsen hat. Die ließe mich mit tausend Freuden ziehen und gäbe mir wohl noch einen verliebten Kuß mit auf den Weg. Schad', daß sie nicht hier ist.«

»Das muß ein rechter Putzaff sein!« brach Frene giftig los. »Eine, die ans süße Schmätzen denken mag, wenn der liebste Gesell in so große Gefahr reitet.«

»Ja, die Gefahr ist allerdings sehr groß«, heuchelte Echter. Mit diebischem Vergnügen sah er des Mädchens helle Erregung. Er legte Frene die Hand auf die Schulter. »Aber dennoch: schilt mir Lene Hecker nicht, Frene Weiße. Bedenke – wärest du die Braut, ließest du mich ohne süßen Abschied von dannen?« Er leuchtete sie warm mit seinen guten dunkeln Augen an.

»Das ist – das ist –!« Sie fand gar keine Antwort zu dieser Gewissensfrage, aber sie wischte unwillkürlich über die Lippen, als wäre sie – gälte es den Kuß – zum Küssen bereit.

»Was: das ist …?« frug er lächelnd. »Das Küssen ist das schönste, das es gibt, wenn man einander lieb hat. Oder hättest du den Hasselbach ungeküßt entlassen, als er vor ein paar Tagen aufbrach? Das traue ich deinem guten Herzen gar nicht zu.«

»Echter!« Sie rief den Namen zitternd hin – zitternd vor Empörung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen … Tränen des Zornes – – und Tränen der Einsamkeit im Herzen. O wie sie Lene Hecker haßte … und neidete. ›Das traue ich deinem guten Herzen nicht zu‹ … Wie treu und wie zärtlich dieses Mannes tiefe Stimme klingen konnte …

»Ich fände nichts dabei, hätt' es im dunkeln Hausflur drunten nur so geschmatzt – sind Dinge der Liebe und können in Züchten gegeben und genommen werden. Wenn's nur dem Flink von Hasselbach gefallen hat.«

Sie hielt sich die Ohren zu und sah ihn wütend an. »Du bist der größte Narr, den ich je gesehen, Echter Keseler!«

»Mag wohl närrischere Leute geben als ich«, blieb er bei seinem ruhigen Hänseln. Die Rechnung stimmte – er merkte es mit seligem Behagen. Törichte Umwege, die die Liebe wählen mußte: um diese Frene Weiße, von Kindesbeinen auf gekannt – von Kindertagen an geliebt, zum Eingeständnis zu bringen, mußte er Gefahren wählen. Gefahren, die alle andern fürchteten, nur er nicht – weil's für ihn auf dem Hattstein gar keine Gefahren gab. Er dankte still dem Geschick, das ihm den Hattsteiner beschert; der stiftete nicht nur Merlas und des Hirten Glück … er stiftete vielleicht auch das von Frene Weiße und Echter Keseler.

Das Mädchen war in höchster Aufregung ans Fenster gegangen und stand dort mit vor Angst um diesen Mann und mit vor innerer Bewegung beeiltem Atem. Diese Unruhe und der Zorn über den Spott und die Anspielungen hatten ihr endlich das Blut in die Wangen getrieben. Vom hellen Sommerscheinen übergleißt, stand Frene bei den Scheiben. Echter dachte, er hätte nie in seinem Leben Schöneres gesehen als diese Frene.

»Dummes, dummes Mädel«, sagte er leis vor sich hin. Es stieg ihm unsagbar warm zum Herzen, aber er beschloß das Spiel nicht früher aufzugeben, als bis er die stechende Hummel dort am Fädchen hatte. »Ja also«, hob er von neuem an. »Wie wär's denn, wenn du Lene Hecker verträtest, da du doch nun einmal was vom Küssen verstehst? Sieh, Frene, es mag sich leichter in Gefahr reiten mit einem warmen Mädchenkuß auf den Lippen. Das könnte ich ja von meiner Schwester Malchen haben – aber der Kuß bliebe doch nur schwisterlich und hätte nichts mit einem pochenden Herzen der Angst zu tun.«

»Und bildest du dir ein, daß mir das Herz um deinetwillen schlüge?« erboste sie sich wieder. Und fand doch nicht den rechten Zorn, weil sie log. »Küsse deine Schwester Malchen und denke, daß sie Lene Hecker ist. Mich gelüstet nicht nach solcher Stellvertretung. Auch weiß ich vom Küssen gar nichts.«

»O wie schade«, seufzte er sehr gewandt.

»Beleidigst du mich nicht mit deiner Kühnheit? Was bietest du mir!« fuhr sie auf.

»Ich meine doch: o wie schade, daß sich das verlernt«, beteuerte er mit geheuchelter Entschuldigung. »Ich kannte eines Ratsherrn Kind, das konnte lieblich küssen, als es kurze Röcklein trug, wie ich das Höslein mit dem Hemdzipfel hinten. Sind freilich aber lange Jahre her – beide sind gewachsen, der Bub und das Mägdlein. Nur hätte ich gemeint, der Mund verlerne das Sichspitzen nie, und nimmer verlerne der Mensch den Kuß.«

»Was du nur immer mit deinem Küssen willst!« Sie geriet fast in Verzweiflung. »Mußt du dir die Lippen wetzen vor so gefahrvollem Ritt? Dann bleib' doch lieber daheim …«

»Ich will ja nicht küssen um des Rittes willen – vielleicht will ich reiten um des Kusses willen«, spielte er mit Worten. »Und ob mich Lene oder Frene küßt – klingt nicht fast eins wie's andere? Und ritte ich nun um einen Kuß von dir …«

Frene raffte sich auf. Dieser Echter ward ihr unheimlich. Sie sah, wie er sich ihr mit vorsichtigen Schritten näherte, verließ das Fenster und wollte an ihm vorbeischlüpfen. Da faßte er sich Mut und haschte sie schnell. Für kurze Zeit lag sie ihm stumm im Arm – vergehend – versinkend vor unsäglichem Glück. Und sie wartete auf seinen warmen Mund – aber der lächelte nur. Da empörte sich ihre ganze Schämigkeit. Sie riß sich los … eine schallende Ohrfeige … Frene wollte fort. Mit starken Armen hielt er sie umfangen.

»Es war dermalen wohl Sitte, daß man im Zeugenring der Braut auf den Fuß trat, um sie zum Weibe machen zu dürfen …«, hob er an. Da fühlte er einen kräftigen Stoß vor die Brust, taumelte leicht und mußte das Mädchen loslassen. Dann schlug die Tür zu. Des Mannes lautes und glückliches Lachen schallte hinter Frene her.

Gleich drauf kam Herr Gilbrecht in die Stube und brachte das nunmehr versiegelte Pergament. »Nun – die Zwiesprache scheint ja recht unterhaltsam gewesen zu sein?« meinte der Ratsherr ob Echters lauter Heiterkeit.

»Das war sie auch, Herr Gilbrecht!« versicherte Echter mit strahlendem Gesicht. »Aber wir konnten uns zum Schluß über eine Frage nicht einigen, weshalb Frene mir davonlief. Und da es mir das Herz bedrückt, daß sie dem Entscheid aus dem Wege ging, so tut mir den Gefallen und redet Ihr mit ihr weiter. Es dreht sich nämlich darum, daß ich bis zu meiner Rückkunft Frenes Antwort wissen möchte.«

»Wenn's so wichtig ist … ich will sie schon in die Enge treiben.«

»Ja – in die Enge treiben … das ist wohl das richtige.«

»Und wie war die Frage?«

»Bei der Hochzeit trat man früher der Braut auf den Fuß, nicht wahr? Nun blieb mir Frene die Frage schuldig, ob man neuerzeits ein Verlöbnis mit einer Ohrfeige – dem Bräutigam von der Braut gegeben – zu besiegeln pflegt.«

»Da brauchen wir Frene nicht. Ich hörte nie –«

»Nein, nein!« wehrte Echter. »Fragt Eure Tochter nur. Es ist mir redlich um ihre Antwort zu tun. Nachdem können wir dann Eure Meinung hören.«

»Wie Ihr wollt!« entschied Herr Gilbrecht und nahm nun herzlichen Abschied von dem jungen Manne … hinterher erst begann er sich zu verwundern, daß dem Echter Keseler die linke Wange um so vieles röter gewesen war. Und dazu die wunderliche Frage: verlöbnisbesiegelnde Ohrfeigen …? Stracks eilte er nach seines Kindes Kammer. Aber die blieb verschlossen, so sehr er auch an der Klinke rüttelte. Nur ein bitterliches Weinen meinte er zu vernehmen. –

Daheim aber hatte Echter den ganzen Zorn seines Vaters auszuhalten. Der alte Klaus wetterte, wie nur ein ergrimmter Frankfurter wettern kann, ohne wehe zu tun. Er tanzte dabei auf den dünnen Trippelbeinen, und die flinken Huschaugen rollten ihm vor Zorn. Bald wackelte er mit der Knollennase, bald klemmte er das Kinn bis zu ihrer Spitze hinauf. Bald klaffte er den Mund, bald zappelte er mit den Händen vor dem runden Bäuchlein. Und so rasselte er mit schriller Stimme eine gemachte Wut hin, daß ihn der Sohn genasführt und den Hattsteiner unter falschem Namen ins Haus gebracht hätte. Gut – es wäre ihm die Bekanntschaft wohl wert gewesen – gestand er immerhin –, denn der »Ritter von Waldburg« war ein hörenswerter Mann … aber – und er klaffte den Mund, schloß ihn mit einem vernehmlichen Happs und schnob grimmig durch die Nase –: was sich denn der dumme Junge gedacht hätte? … daß ihn der Hattsteiner mit Haut und Haaren fräße? … oder er den Hattsteiner?

»Eins wie das andere konnte unguter Handel werden«, sagte der standhafte Echter. »Herr Klaus Keseler wäre dem mir lieb gewordenen Menschen ein unverdaulicher Bissen – und im umgekehrten Falle: wo nähme ich einen anderen so lieben, lieben Vater her?«

Das entwaffnete den polternden Alten fürs erste. Dann aber setzte er neu an und begann über den gottlosen Unsinn zu schmälen, daß Echter den Fehdebrief nach dem Hattstein schaffen wolle. Aus allem dem Gezeter klang freilich die wirkliche Sorge um den Sohn. Glücklicherweise überschlug ihm hierbei jedoch einmal die Stimme, und er verschluckte sich. Den Aufenthalt nützte Echter und ergriff das Wort.

»Willst du, daß die Braut mein werden soll?« sagte er mutig.

»Gnade dir Gott, wenn's nicht der Fall wird!« grellte Klaus auf und dachte an Lene Hecker in Speyer.

»So laß mich reiten, denn ich reite um mein Glück.«

»Das verstehe ich nicht. Und das sind auch Narrenpossen. – Du nimmst ein Weib – – oder ich enterbe dich!«

»Dann hat's mit dem Enterben gute Wege«, tröstete Echter lachend. »Nach der Hattsteinfehde wirst du die Braut sehen.«

»So kommt sie endlich?« Klaus begann schon, sich zufrieden zu geben.

»Sie – ist – schon – da!!«

Dann aber war Echter auch draußen. Als er am »Grimmvogel« vorüberritt, winkte hinter den Erkerscheiben ein Tüchlein – zaghaft zwar nur – aber es winkte doch.

Frene Weiße wischte ihre Tränen fort und faßte Mut. Ja, er mußte – mußte wiederkehren. Sie gab den guten Gesellen nicht noch einmal preis. Und ihre Seele lag vor Gott selbst auf den Knien und flehte um seinen Schutz. Es fiel ihr ein, daß doppelt besser hält. Sie warf ein Tuch um und lief nach dem Römer; da war der Heilige Christophorus an die Wand gemalt. Und wer den ansah, blieb für den ganzen Tag vor Unheil bewahrt. Half's nicht für Echter, so half es doch für sie – denn ihr Heil lag ja doch darin, daß ihm kein Unheil zustieße. Mit heißen Augen sah sie zu dem Bilde auf und betete: O, der du Christum durch die Flut getragen! … trag meines Echter Leben durch die Fluten meiner Angst und über alle Tiefen der Gefahr und laß ihn mir ans Ufer meines Herzens gelangen. – Und der gewaltige Christophel im Bilde schien herabzulächeln, milde und versöhnlich, als wolle er sagen: daß eines Weibes Herz doch ein eigen Ding wäre … schlägt sich selbst Wunden und läuft dann zum Nothelfer, er soll sie heilen. –


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