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Merla und der rote Geckir

Hanns Grysen Horne war dabei, dem Schäfer Geckir die Wunde zu behandeln, als der Hasselbach in die Stube trat. Der Hirt kauerte auf einem dreibeinigen Schemel, der Geschützmeister ging mit prüfenden Augen um seinen Schützling herum.

»Hilft alles nichts – wir müssen das rostige, blutverklebte Schöpflein über der Stirn abscheren«, meinte Hanns schließlich. »Anders komme ich dem Flachhieb nicht bei.« Damit griff er nach einem Gerät, das wie eine große eiserne Krebszange aussah.

Der Hirt guckte das Ding mißtrauisch an. Weil er jedoch etwas Ähnliches bei der Schafschur gesehen und den Gebrauch beim Wolleschneiden an manch einem Hammel selbst geübt hatte, fühlte er sich ziemlich sicher. Er duckte den Kopf und wurde erst unruhig, als der kalte Stahl auf Geschwulst und geplatzte Haut kam. Die Kühle tat jedoch wohl, und so kam nach und nach Behagen in sein Gesicht.

Schnippschnapp … klippklapp! … so biß sich die Schere durch das dichte, rote Kringelhaar. Eine Weile war nichts zu vernehmen wie das gefräßige Zuhappsen der beiden Schneiden. Dann klaffte in dem wirren Haarwald ein arger Stoppelfleck, und der hatte noch dazu seinen Platz auf einem rot unterlaufenen Hügel. Wie ein Windbruch im Weizenfeld, wenn der Acker über einer Bodenwelle liegt, sah das aus.

»Unleidig entstellt bist du jetzt, Bürschlein!« sagte der Hasselbach auflachend. »Ich denke, Hanns, du tust am besten, wenn du wie ein rechter Schnitter das Feld ganz und gar mähest. So fänden die Haare wenigstens Frist, gleichmäßig zu wachsen.«

Der Geschützmeister besah neugierig die Wunde und prüfte sie mit vorsichtigem Betasten.

»Ist gar nicht schlimm«, urteilte er zum Schluß. »So ein Schäferschädel scheint hart zu sein, und seine Haut wie Leder.« Hierauf betrachtete er sein Werk und klappte verlangend mit der stählernen Krebszange. »Ich hätte dem Geckir das Scheren ersparen können. Doch da es nun einmal begonnen ist, möcht' ich's wohl des Gleichmaßes wegen vollenden. – Wäre dir das recht, Jungemann?«

Geckirs Finger maßen verzagt die klaffende Stoppellücke. Er mochte einsehen, daß solche Unvollständigkeit selbst eines Hirten Haarzierat nicht zur Verschönerung gereiche. »Vollendet's!« bat er kurz und lachte Hanns mit blanken blauen Augen und blinkweißen Zähnen an.

Das eiserne Giermaul nahm sein geschwätziges Beißen wieder auf. Die roten Locken knirschten; sie rieselten vom Schäferhaupte und bildeten bald um die Schemelbeine einen güldenen Kranz. Dann war's getan. Der junge Kerl saß da, als hätte er eine enge, glatte, kupferne Haube aufgestülpt.

Gutmütig und zufrieden strich der Geschützmeister über die Stoppelbürste.

»Ein Mönchlein kann die Tonsur nicht ebener haben«, erklärte er dem Hauptmann. »Die Wunde aber hat keine Gefahr. Da kann ich denn Euerm Besuch mit einem kühlen Trunk und genehmer Zwiesprach Ehre antun. Denn was an dem Hieb zu geschehen hat, wird meine Merla gut vollbringen.« Er lud Flink ein, am Tisch beim Fenster Platz zu nehmen. Darauf schritt er zur Tür und rief der Pflegetochter zu, daß eine Kanne voll Apfelwein und zwei Becher zu bringen wären – daß dem Schäfer die Wunde gereinigt und bepflastert werden müsse – und ferner, daß dem sicherlich Hungrigen eine Schüssel mit Milch und Brotbrocken dargeboten werden solle. Artig um Erlaubnis heischend, nahm er seinem vornehmen Gast gegenüber den Stuhl ein.

Flink berichtete nun, was ihn abgehalten hatte, früher zu kommen, und bat den Geschützmeister, Merla das genau zu bestellen.

»Ich will's besorgen«, versprach Hanns und sah dem Hauptmann in tiefem Ernst in die Augen. »Ist mir immerhin lieber, wenn ich es tue, als wenn das dumme Ding Worte von Euch hört, wie sie sonst nur einem adeligen Fräulein geboten werden. Auch gestehe ich ehrlich, daß sie es just nicht bekümmerte, derweil Ihr ausgeblieben.«

Der Hasselbach räusperte sich und guckte nach der Tür, als möchte er deuten, daß er besser Bescheid wisse. Um aber dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, berichtete er von der Ratsversammlung und von Gilbrechts Erfolg, und wie man sich nun endgültig entschlossen hätte, den Hattsteinern vor die Burg zu ziehen.

Darüber ward dem Geschützmeister der Blick heller.

Währenddem trat Merla ein, allerlei auf den Armen tragend. Dem Hauptmann galt ein verlegen gelächelter Gruß. Sie war ein zierlich und mollig Mädchen. Der braunrote Tuchrock umschloß reife Formen und fiel in weichen Falten bis auf die niedlichen Schnallenschuhe herab. Das langschößige Jäckchen aus hellerem Stoff barg hinter dem blendweißen, sorgfältig gefalbelten Brustlatz viel junge Üppigkeit. Merla stellte Kanne und Becher auf den Tisch, trug Milchnapf und Wasserschüssel nebst dem Linnen auf die Ofenbank und kam ans Fenster zurück, um einzuschenken.

»Seit wann ist es denn bei Hanns Grysen Horne Sitte, daß einem zum Willkommen nicht die Hand geboten wird?« scherzte Hasselbach und griff nach Merlas Fingern.

Das liebliche Braungesicht wurde um noch einen Schein dunkler.

»Es ziemt mir nicht, so adligem Besuch die Hand zu bieten«, antwortete sie und duldete den heimlichen, heißen Druck. Doch flogen ihre Augen scheu und ängstlich zum Vater hinüber.

Hanns sah ein wenig düster drein. »Meine Merla ist gut erzogen, obgleich sie nur ein Findelkind ist.« Er sprach das bedeutsam aus, als möchte er auf den Unterschied hinweisen, der zwischen dem Edelmann und der Pflegetochter bestünde. Dann aber glitt ein gütiges Lächeln um seine falkenscharfen, ernsten Augen. Merla um die Hüften nehmend, zog er das Mädchen zu sich herüber.

Wohl oder übel mußte Flink nun die Finger der jungen Schönheit loslassen; aber er tat es erst nach einem abermalig vielsagenden Drücken.

»So zierliche und kostbare Kriegsbeute bringt nicht leicht einer heim«, sagte er, und seine Augen glitten in einer Mischung von Bewundern und Begehren über die runde Merla.

»Kriegsbeute? … das ist mein Mädel wahrlich nicht, Herr!« belehrte Hanns bedachtsam und holte zu breiter Erklärung aus, als fühle er sich durch solche Meinung gekränkt. »Ich sagte Euch, daß ich vor dreißig Jahren Soldknecht war, als König Rupprecht von der Pfalz dem Reiche das Herzogtum Mailand wiedergewinnen wollte. Damals hatte ich einen Gefreundeten und Waffengesell – den Widubald von Aschaffenburg. Der gewann auf dem Kriegszuge ein italisch Mädchen lieb und führte sie – trotzdem wir geschlagen heimzogen – im Troß mit. So war's Anno 1401. Zwei oder drei Jährlein mochten im Glück dem Widubald übers Vaterland gewandert sein, als ihm die Italienerin eines Tages verschwunden blieb. Mit dem jungen Ding zugleich fehlte unter den Söldnern ein Veronese, der bei Brescia zu uns übergelaufen und seitdem bei unserm Banner gewesen war. Sieben Jahre waren darüber hingegangen, und ich hatte das Leid um meines Gesellen Mägdlein überwunden; ich war ihr nämlich herzlich zugeneigt gewesen und glaub' wohl, daß ich sie gewinnen hätte können, wäre die Treue zu meinem Kampfgenoß nicht gewesen, mit der ich ihm anhing. Da freite ich Anno 1412 hier in Frankfurt meine jetzt in Gott selige Annemarie, denn just an dem Tag vor zwanzig Jahren, an dem ich Hochzeit feierte, war ich der Stadt Geschützmeister geworden. Da kam in der Dunkelheit ein Mensch ins Haus und begehrte mich zu sprechen. Ich mochte Gevattern und Gäste nicht stören und ging zu dem Manne in den Hausflur hinab. – ›Wenn du Hanns Grysen Horne bist, der in Italia mitfocht, so habe ich dir das abzugeben – möglich, daß ich's bei hellichtem Tag über ein Jährlein wieder heimhole!‹ flüsterte der Mensch. Und ehe ich bejahen oder verneinen konnte, ja, bevor ich's versah, hielt ich ein greinend Kindlein im Arm, und der Mann lief davon. Nicht einmal sein Gesicht hatte ich sehen können. Ja – da standen wir nun in der Ehekammer, meine Annemarie und ich, und hatten schon ein Kindlein, bevor die Hochzeit zu Ende war. Wir sahen mit just nicht nur freudigen Gedanken auf das fremde schmälende Geschöpf, das höchstens ein paar Wochen alt sein konnte. Und mein gutes Weib gestand mir später einmal, daß sie mich in argem Verdacht gehabt hätte. Weil nun aber das Würmlein so braune Haut hatte und so dunkles Kraus auf dem Köpflein, so konnte ich mir nicht anders denken als: dies Wesen müsse von meines Gesellen Widubald fortgelaufener Merla stammen. Sie hatte wohl gemerkt, daß ich sie mit den Augen der Liebe betrachtet hatte – das hab' ich oft erfahren müssen; in ihrer Not mochte sie sich dessen und meiner nun erinnert haben, derweil sie der Weg Gott weiß wie nach Frankfurt geführt. Meine Annemarie und ich haben dem nie nachgeforscht – auch als Jahr um Jahr verging, ohne daß sich unsere Sorg' erfüllte, wir könnten das Kindlein hergeben müssen – so hatte doch der fremde Mensch verheißen. Selig waren wir, ein Mägdlein hegen zu dürfen, überhaupt ein Kleines zu haben … denn – wie Jahr um Jahr vergehen mußte, in der Angst, wir sollten unser lieblich Geschöpflein zurückgeben müssen, so verging Jahr und Jahr … nun, es kam eben kein anderes nach bei all unserm friedfertigen Glück.« Hanns Grysen wischte sich über die Augenbrauen und drängte einen Seufzer zurück. Nach kurzer Stille fuhr er fort: »Meine Annemarie aber war damit einverstanden, daß wir das Mägdlein auf den Namen seiner mutmaßlichen Mutter taufen ließen, und so ward es christlich Merla genannt – nach meines Gesellen verlorener Liebsten. – So wißt Ihr nun, Herr, daß mein tugendhaft Mädchen zwar ein gar arm Ding ist, daß sie mich aber so reich macht, als irgendeiner der ansehnlichen Herren in Frankfurt reich sein mag. Und dem Dieb schlüge ich wohl hart auf die Finger, der ungut nach meinem Reichtum griffe.«

Der Hasselbach faßte diese Warnung für den Augenblick auf und ließ Merla in Frieden. Sie löste sich nun von des Vaters liebkosendem Arm und küßte den Alten auf die Stirn; hierauf trat sie zu Geckir, sich um den Wunden zu bekümmern.

Flink setzte nun dem Geschützmeister seinen Plan zur Hattsteiner Fehde auseinander: wie er sich selbst auf den Weg machen wolle, um die Burg als Späher auszukundschaften, und wie er dann danach erst ausdenken würde, was dem Krieg wider das Raubnest zu Nutzen gereichen könnte. Der Trutz Frankfurts müsse rasch fallen – das erspare der Stadt Sold und Kosten, Leute und Waffen, und brächte ihm, dem Truppenführer, reiche Ehren ein – auch dem Gilbrecht Weiße Dank dafür, daß er zum Heile der Reichsstadt den jungen Adeligen empfahl.

Merla hatte den roten Geckir zum Ofenbänklein geführt. Nun untersuchte sie bemitleidend die Wunde, nur flüsternd, denn der Vater ließ sich in einer Zwiesprach mit jemand nicht gerne stören. Mit sachten Fingern befühlte sie den garstigen Prellschlag. Die weichen Läppchen sorgsam ballend, betupfte sie die Beule, löste das geronnene Blut und wusch vorsichtig die unter den Haarstoppeln häßlich aufgelaufene Haut. Dann strich sie ein heilsames Pflaster und klebte es zum guten Schluß auf des Hirten wunden Kopf.

Das dauerte ziemlich lange; dennoch saß der Geckir geduldig und still da. Nur seine Augen redeten – die aber um so deutlicher. Noch nie war ihm begegnet, daß sich ein Mägdlein seiner annahm. So empfand er das als eine selige Freude. Obgleich das Auswaschen die Wunde schmerzen und tuckern machte, obgleich das Pflaster zog und merklich auf der wehen Haut bizzelte – es war doch seltsam, wie wohlige Gefühle die flinken, sachten Mädchenfinger weckten. Der Geckir neigte den Kopf schief und zwinkerte mit den Augen, just wie der arme erschlagene Hund getan, wenn er ihn hinter den Ohren gekraut hatte. Ach, das gute Hündlein! … die Tränen wollten dem Schäfer in die Augen, aber er bezwang sich – sollte das Mägdlein meinen, er weine vor Schmerzen? – Und dabei den Ruch einatmen zu können, der von der Lieblichen ausging! … Das war wie von einem Engel – wie tausend und tausend Feldblumen im Sommer war das – oder nein: wie lauter rote Rosen – dann wieder wie das süß duftende Erdreich im Frühling – gesund und fein, vornehm und hold – und alles wie in einem seligen Traume. Der rote Geckir schnupperte und schnupperte … er konnte sich über den seltsamen Duft nicht klar werden … vielleicht war's, wie wenn im Maien der Wind vom blauen Taunus her kam, an dessen Fuße es wie verspäteter Schnee schimmerte – dann trug der Odem der Höhe den Hauch der blühenden Obstbäume ins Land: Apfelblütenruch – der kernhaftere der Pflaumen und Zwetschen – Lindenduft – Schlehenblühen – Weißdornblust? … Der Schäfer dachte nicht länger nach. Nur das eine stand ihm fest: dies war der schönste Tag seines ganzen armen Lebens, so traurig auch der Morgen begonnen hatte! Dann mußte er den Atem ruhen lassen, weil er dem sanften, ruhigen Atmen des Mädchens lauschen wollte. Und so spürte er den gleichmäßigen Hauch bald über den Lidern, bald am Ohr, bald auf den Lippen und dann wieder auf der kahl geschorenen Kopfhaut. Ihre weiche, weiche Hand! … Jetzt ruhte sie auf seiner Stirn, nun im Nacken, darauf an seiner Wange. Das machte das Herz pochen, und der Wundschmerz war wie verflogen …

Und nun wand sie ihm gar ein langes, schmales Tüchlein um den Kopf. Das war so sauber und weiß, wie er noch kein Tüchlein gesehen hatte. Das war wahrlich nicht nur Zwilch, denn es schmiegte sich labsam und zart auf die Wunde wie ein blutstillendes Spinnenweb. Nun knüpfte sie einen Knoten! … Dem Geckir war, als bände sie ihn damit fürs Leben an sich fest. Ein zufrieden geflüstertes Wort – jetzt sah sie ihm geradeswegs in die Augen. Tief drang dem Schäfer der Blick und weckte ihm das Naß hinter den Lidern.

Sie bemerkte die Tränen. »Tat dir's weh?« frug sie leise und sah ihn mitleidig an.

Geckir vermochte nur heftig mit dem kupferblanken, weiß umrandeten Kopf zu schütteln. Seine heiß durchströmte Seele verwehrte ihm Worte. Aber die Farbe seines von Luft und Sonne gebräunten Gesichtes lief mit der über dem Verband leuchtenden Röte der Stoppeln in eins.

Auf den Zehen schreitend, trug Merla ihm nun die Schüssel mit Brockenmilch herbei und bedeutete ihn, daß er auf dem Ofenbänklein zur Seite rücken solle. Sie setzte ihm den Napf auf die Knie und gab ihm den Holzlöffel in die Hand. Dann nahm sie den Platz neben ihm ein. Die Bank war kurz, der Platz gering – dicht aneinander geschmiegt mußten die beiden jungen Menschenkinder sitzen.

»Sag' mir, wie alt du bist?« bat Merla flüsternd, nur um etwas zu sprechen. Sie wußte, der Vater hatte es nicht gerne, wenn man bei einem von ihm geführten Gespräch lauschte oder untätig in der Stube blieb.

»Zwanzig!« gab Geckir Auskunft und genoß in Andacht die Speise. Sie mundete aus ihren Händen wie Himmelsbrot; denn wenn er einen Bissen nicht gleich auf den Löffel bringen konnte, fuhr sie mit spitzem Fingerlein zu und half das milchgeweichte Brot aus der Flüssigkeit heben.

»Zwanzig? So bist du nur um zwölf Monde älter als ich«, stellte Merla fest und betrachtete von der Seite das junge Gesicht des Gefährten. Schön war das Büblein gerade nicht – nicht so schön wie der Flink von Hasselbach – aber seine Augen blickten frei und gut über runde Wangen. Bei den Ohren sproßte etwas und flimmerte lichtend bis fast zum Hals hinab: der junge Bart. Mit neugieriger Hand rührte sie daran – flaumig und weich war er. Und da sie nun einmal den Weg verfolgte, wanderten ihr Blick und Hand tiefer. Wo die sonnengedunkelte Haut aufhörte und das zwilchene Hemd begann, lugte ein heller Streifen. Das machte sie neugierig: sie zog den Ausschnitt weiter herunter. Da kam die Haut seltsam rosig und lichtscheinig zum Vorschein, und – sie fühlte es mit prüfenden Fingern – war zart, wie eines blonden Mädchens Haut sein mochte. Merla streifte flugs ihren kurzen Ärmel höher und betrachtete das Enthüllte. Da war denn ein großer Unterschied. »Zeig' mir deinen Arm!« verlangte sie und tippte an Geckirs grobzwilchenen Ärmel.

»Da hab' ich keine Schmerzen«, versicherte er treuherzig und stellte die geleerte Milchschüssel auf den Ofenrand.

Das Mädchen kicherte. »Narr du – ich will doch sehen, ob du am Arm auch so weißhäutig bist.« Und weil er verwundert dreinsah, krempte sie ihm selbst den Ärmel bis fast zur Schulter auf.

Nun begriff er und zeigte ihr bereitwillig den kräftigen Arm, ließ auch den Muskel spielen und zittern und straffte ihn zu einer weißen, drallen Kugel.

Ja wahrhaftig – bis zum Ellenbogen war der Arm derb und dunkel; aber darüber begann er rund und fein und fast so scheinig wie die Haut am Hals. Merla hielt prüfend ihre Haut daneben – das sah aus wie –

Sie suchte nach einem Vergleich zwischen licht und dunkel. Er entglitt ihr aber, denn es ereignete sich, daß der Geckir heftig zusammenzuckte, als sich Haut und Haut berührten. Das Blut schoß dem Hirten ins Antlitz. Er saß stumm mit heißen Augen da.

Erschrocken wich sie zurück. »Hast du noch wo Schmerzen?« frug sie barmherzig und hielt die Hände an die eigenen, ihr so sonderlich blitzschnell heiß gewordenen Wangen. »Sag's nur – ich will dir schon helfen.«

Der rote Geckir sah sie bedenksam an – als zweifle er innerlich, daß da so leicht zu helfen wäre. »Ja, hier stach's eben«, antwortete er ein wenig schwer atmend und legte die Hand auf die linke Brustseite …

Keines wußte, daß es gegen dies Stechen nicht Pflaster und Heilsalben, nicht Hilf' und Heilung, kein sanftes Tüchlein und keinen Verband gibt.

»Das muß man dem Vater sagen, der weiß gewißlich Hilfe«, tröstete Merla. Sie hatte ihre Hand auf die seine am Herzen ruhende getan. »Hui, wie dir's in der Brust arbeitet. Vielleicht kommt das von dem Unheil, das du heute früh erlebt?«

»Denk' ich mir auch«, stimmte Geckir bei. Aber so ganz im geheimen dachte er, daß dies Stechen nicht wehe getan, sondern jetzt sogar ein seltsam süßes hinterlassen hatte. Er sah das Mädchen aus den Augenwinkeln heimlich an.

Sie spürte seine Augen, wendete den Kopf und sah ihm in das weit offene Blau. »Hast du noch Hunger?« erkundigte sie sich, als sie dem verlangenden Blick begegnete.

Der rote Geckir verneinte stumm, gedankenvoll das Haupt schüttelnd. Der Hunger, den er spürte, war ihm ein Rätsel; der kam nicht von dorther, wo ein redlicher Schäferhunger herkommt, machte sich weit höher bemerkbar, tat wie ein Hunger und war doch gar keiner, er machte traurig und das Herz schwer. Der Geckir stützte die Ellenbogen auf die Knie, neigte den Kopf und legte die umwickelten Schläfen schwer in die Hände.

Es war gut, daß ein tiefes Dämmern in der Stube lag. Das tauchte den Ofenwinkel mehr und mehr in Schatten … sonst hätte Merla abermals fragen müssen, ob der Schäfer irgendwo verschwiegene Schmerzen hätte. Es hing ihm feucht in den goldroten Härlein der Lider, lief bald darauf sacht die Wangen entlang und tropfte auf das blutbefleckte Zwilch des Hemdes. Helle Tropfen! … und die kommen dem Menschen manchmal vor stillem Glück …

»Der Plan ist gut, aber auch gewagt!« hallte des Geschützmeisters Stimme in das versonnene Schweigen zwischen Merla und Geckir, nachdem der Hasselbach lange Zeit halblaut erklärt und eifrig befürwortet hatte. »Indes, ich weiß, wie der Hattsteiner Hatzicho ist. Erkennt er Euch und findet er den Hauptmann Frankfurts in seinen Mauern, dann wäre das Verlies noch das sanfteste, das Euch drohte. Und auch das nur, weil er ein schweres Lösegeld von der Stadt erhoffen möchte. Anders meine ich: der Hattsteiner wird just keine Scheu vorm Blutvergießen haben.«

»Ich fürchte den Wolf von Hattstein nicht«, versicherte Flink. »Anstellig genug wäre ich, zu verbergen, wer ich bin. So denke ich: ich spiel' mich auf als einen, dem es in der Reichsstadt Dienste übel erging und der aus Rachgier nun zum Feinde Frankfurts überlief. Das kann kaum einen Verdacht rege machen. Ja, ich kann den Hatzicho sogar auf den Leim locken, indem ich voller Haß von Frankfurts Waffenmacht so geringschätzig spreche, daß er die Vorsicht vergißt. Glaub's, lieber Hanns – an des Mainzer Erzbischofs Hofe lernte man das Leugnen und Verleugnen zum Vorteil seines Herrn und seiner selbst. Ich war vordem dem Pfaffenkittel näher als dem Reiterkleid, und wenn ich mich nicht rechtzeitig besonnen hätte, so könnte ich heute am Frankfurter Dom eine fette Pfründe genießen – wie ich nun einmal in Frankfurts Sold das Haupt der Waffenknechte ward. Und ich war nicht ganz ohne Lust bei der Geistlichkeit. Fänd' ich heute am Kriegshandwerk nicht mehr Gefallen, so würde ich nicht ungern Internunzius werden – oder auch ein seelsorgend Mönchlein, falls es nicht höher reichen wollte. Ich tauge zu spitzfindigem Kram und habe einen offenen Kopf.«

Der Geschützmeister sah mit Hochachtung zu dem gelehrten Hasselbach hinüber, der den geistlichen Weihen schon so nah gewesen. Er traute dem gewandten, feinen Menschen allerlei Klugheit zu – ob aber auch die eines Kriegskundschafters? … Doch er ließ den Zweifel nicht laut werden, denn er mochte den ihm wohlwollenden Mann durch solche Zweifel nicht verletzen, der noch dazu bei Gilbrecht Weiße in so hohen Gunsten stand.

»Je nun«, begann Hanns. »Es wäre wahrlich ein außergewöhnlich Stücklein, und man zöge diesmal – falls alles glückt! – reich unterrichtet wider den Hattstein. Nicht so auf Geratewohl und Zufall, wie es Anno 1393 und vor drei Jahren war. Und es gälte auszuwetzen, daß vor jenen traurigen vierzig Jahren der Erzbischof von Mainz und die Reichsstadt Frankfurt nach achttägiger Berennung mit Verlust und blutigen Köpfen abstehen mußten. Das war wohl auch zumeist der Grund – denke ich mir –, daß der Rat allerweile so mit einem Zug wider den Hatzicho zögerte. Denn der Wolf von Hattstein hat ein grimm' Gebiß. – Aber sagt, Herr, getraut Ihr Euch denn allein in die Taunusburg – ohne allen Beistand für die Not?«

»Allein werde ich nicht sein, denn das ist bei mir!« Flink klopfte sich auf den Harnisch. »Ich bin gewappnet – nicht mit Erz, denn so dürfte ich nicht auf den Hattstein kommen, aber mit Herzhaftigkeit. Und mein Beistand ist hier!« Er pochte mit dem Knöchel auf seine Stirn. »Die Klugheit geleitet mich. Mag mir der Ritter Hatzicho in der Herzhaftigkeit nicht nachstehen – in der Klugheit, denk' ich mir, bin ich dem Lümmel von einem adligen Taunusbauern über. Doch traue ich allezeit deinem Rate, Hanns. Wüßtest du jemand, der an der Fahrt teilnehmen könnte und mir nutzhaft wäre, so will ich mir's bedenken.«

Hanns Grysen Horne nickte bedächtig und überlegte kurz. »Ich wüßte wohl einen«, sagte er schließlich langsam. »Er ist ein handfester Mensch und ein verschlagen kluger Stückknecht. Der könnte wohl behalten, wie und an was für Stellen am besten wir dem Hattsteiner seine paar Geschütze mundtot machen; denn Ihr seid in dieser Waffe weniger erfahren.«

»Und was wäre das für ein Mann?« forschte Flink eifrig, da ihm des Geschützmeisters Rat einleuchtete.

»Es ist der Gürg Putzmirslicht«, gab Hanns Bescheid. »Der scheppe Gürg – wie ihn meine Leute nennen.«

»Das ist der Mensch mit dem Hinkebein?« fiel ihm der Hauptmann ins Wort. »Ich sah ihn wohl an der ›brummenden Kathrine‹. Und den hältst du für geeignet?«

»Nun, auf alle Fälle ist er der Dümmste nicht und hat Kräfte wie ein Ochs – falls es ans Verteidigen ginge«, stellte Hanns fest. »Ich gebe zu, daß ich dem Manne nicht sehr gewogen bin, obwohl er lange Jahre in der Stadt Sold steht … weiß nicht, warum ich ihn für einen stillen Heimtücker halte … der Grund liegt wohl darin, daß er einmal auffällig hinter – nun, lassen wir's … es gehört wenig zur Sache. Vorläufig will mir kein besserer einfallen, und so mag für ihn sprechen, was ihn mir Euch nützlich erscheinen läßt. Sagt mir Bescheid, wie Ihr Euch entschließt – ob allein, ob zu zweien nach dem Hattstein –, so werde ich's geprüft haben und weiß vielleicht einen andern.«

Die Dunkelheit zog auf. Es hing grau vor den Rundscheiben des Fensters. Die Ratsglocke erinnerte zum erstenmal, daß nach einer halben Stunde niemand mehr die Gassen passieren durfte, wollte er nicht zur Buße die Nacht auf der Wache zubringen, falls man ihn griff. Flink von Hasselbach erhob sich. Sein Blick streifte die stumm neben dem stummen Geckir sitzende Merla.

»Damit wäre denn beredet, was ich mit dir bereden wollte, Hanns. Laß mir dein Mädchen auf der Stiege leuchten – es wird Zeit, daß ich heimkomme.«

»Zünde zwei Lichte an, Kind!« befahl Hanns Grysen der bereitwillig aufspringenden Merla. »Mit dem einen bringe den Herr Hauptmann zur Haustür.« Ein ernst ermahnender, bedeutsamer Blick traf sie, und sie senkte die Augen … sie wußte schon, was ihr auf der engen Treppe bevorstand … das kam keinmal anders, wenn der Hasselbach im Haus gewesen war. »Mit dem andern Lichte will ich unserm neuen Hausgenossen Geckir die Kammer unterm Dach weisen«, fuhr der Geschützmeister fort.

Und Merla dachte, der Vater hätte das zu ihrer Freude umgekehrt anordnen können. Mit einem lieblichen Lächeln reichte sie dem Hirten die Hand zur Gute Nacht und ging hinaus.

Flink griff nach seinem Becher und stieß zum letztenmal an des Geschützmeisters Schöpplein. Der tat ihm Bescheid. Beide tranken den Rest. Dann stand Merla mit zwei brennenden Lichten in der offenen Tür. Sie übergab dem Vater das eine und geleitete vorleuchtend den Hasselbach die Stiege hinab.

Hanns Grysen Hornes bedeutsamer Blick hatte nicht gefruchtet. Als drunten Flink wie zum Scherz das Licht ausgeblasen, duldete Merla schweigsam, daß er sie fest in die Arme nahm und, sie fest an sich pressend, lange und heiß den Mund auf ihre Lippen legte. Sie nahm das so hin – ohne Zittern, ohne Wehren – es war stets dasselbe und wohl bei adliger Herren Abschied des Brauches.

Der Geschützmeister hatte das Lachen vernommen und den Hausflur dunkel werden sehen, als er mit dem Schäfer nach dem Dach hinaufstieg. Einen Augenblick verhielt er den Schritt, als möchte er lieber umkehren. Dann aber schüttelte er beruhigt das Haupt … er meinte seine Merla recht erzogen zu haben und wähnte sie zu kennen. Predigte er ihr doch täglich den Unterschied zwischen vornehmen Herren und bürgerlich Achtbaren, seit er zu beobachten begonnen, daß der Hauptmann artiger gegen das Mädchen war, als sonst Sitte bei Männern seines Ansehens. Freilich, daß das harmlose Ding es so auffaßte, als dürfe sie sich gegen pressende Küsse und verliebte Dreistigkeiten eines Adeligen nicht wehren, das wußte Hanns nicht. Und so tapste er beruhigt mit dem Lichte voran und hieß den Geckir folgen …

Als er eine Weile später wieder in die Stube unten trat, brannte dort die Kerze, und Merla räumte bei dem fahlen Scheinen die Schüssel mit dem blutigen Wasser und die ungebrauchten Tupfläppchen zusammen. Er musterte sie. Ihr Gesicht war seelenruhig, ihre Haare ordentlich … der Geschützmeister war zufrieden. Als das Mädchen aber die gebrauchten und blutgeröteten Tupfläppchen ins Wasser tat, fiel ihr über dem Weiß und Rot von Stoff und Blut etwas ein. Und das war des roten Geckir weiße Haut, und wie er beim Vergleichen den plötzlichen Schmerz gespürt.

»Sag', Vater, wenn's hier plötzlich sticht – von was kommt dann das Leiden?« erkundigte sie sich und legte die Hand auf das dralle Weiß des Brusttuches.

Hanns schöpfte Verdacht. Das Lachen – das ausgelöschte Licht – die merkwürdige Stille im Hausflur bevor die Tür ins Schloß fiel … »Fühltest du dergleichen heute abend?« wollte er barsch wissen und legte die Stirn in drohende Falten.

»Ich nicht«, antwortete sie einfach. »Aber als ich meinen bloßen Arm mit dem des Schäfers aneinander brachte – weißt du, um den Unterschied zwischen Hell und Dunkel der Haut zu prüfen –, da zuckte der Geckir zusammen und sagte, es hätte ihn im Herzen gestochen. Und als ich ihm dahin fühlte, ging's wie ein Hämmern hinter seinem zwilchenen Hemd. Ich meine, das muß wohl mit dem Schlag aufs Haupt zusammenhängen. Ob dagegen Hilfe nötig wird?«

Der Geschützmeister lachte wieder über sein ganzes altes Gesicht. Nun war er beruhigt. Wer über das Zucken, Bruststechen und Herzpochen eines Schäfers nicht heimlich dachte und so unschuldig danach frug, dem konnte auch das Wortgeziere und Augenwinken eines Hauptmanns nichts anhaben. So viel Harmlosigkeit bei so sehr pulsendem Blut! Mit zufriedenen und glücklichen Augen musterte er seine Pflegetochter: ja, ja, er sah von Tag zu Tag mehr, wie sie zum jungen Weibe geworden war – zum holden, begehrenswerten Weibe. Drum war auch die Sorge nicht zum Überfluß. Aber eben um des pulsenden Blutes willen, ging der Hasselbach auf einige Zeit nach dem Hattstein und wurde dann von seinen Fehdeplänen in Anspruch genommen, so konnte das nicht schaden … er kam zu oft ins Haus. Und klar: nur um der Merla dunkle Augen.

»Nein, Mädel!« tröstete Hanns behaglich. »Gefährlich ist dies Stechen vorläufig nicht. Aber – prüfe nicht mehr, wie weiß des roten Geckir Haut und wie braun die deine ist. Und klagt er dir öfter über das Herzweh, so sag' mir's. Ich glaub', daß ich von Schmerzen allerlei genug verstehe, um ihn auch davon schnell zu heilen.«

»Gelt, gelt? … Oh, ich wußt' es doch, du kannst's!« brach sie freudestrahlend aus. »Das will ich dem Geckir gleich morgen vermelden.«

»Untersteh' dich und sprich ihm davon!« dämpfte er ihr rasch und hart das Freuen. Und da er ihren erschrockenen Blick auffing, meinte er sanfter: »Man muß den Menschen nicht von ihrer Pein reden … es gibt Schmerzen, die in Vergessenheit geraten, wenn man nie wieder an sie rührt.«

Dann sagte er ihr Gute Nacht und stapfte schwer in seine Schlafkammer.

Droben lag der Geckir auf dem Strohsack und guckte durch die Luke in den reich besternten Himmel. Ach ja, so selig leuchtete es auch in seiner Brust – ihm war, als müsse, müsse es etwas darinnen geben, das ihn emportrug zu den stillen Lichtern. Und dann kam das Engwerden, das ihm das Herz einzwängte wie in unnennbarer Sehnsucht. Das griff ihm ins Blut, zog ihn vom Lager auf, trieb den leise Schleichenden an die Tür und gab ihm den Riegel in die Hand. Erschrocken fuhr er beim Knarren der holzenen Habe zurück und floh aufs Stroh. Dort tat er die Hand auf jene Stelle überm Herzen, wo es rätselhaft gestochen hatte. Darüber schlief er endlich ein.

Merla aber lag wach in ihrer Kammer und grübelte den Ereignissen nach. Seltsam, so oft sie an den Flink von Hasselbach denken wollte, drängte sich der Geckir vor und sah ihr mit den großen blauen Augen ins Gesicht – oder mahnte des Vaters ernster Blick? – oder waren es des Hasselbach stets heimlich zwinkernde Augen? Sie wischte über ihren Mund; dort hatten des Hauptmanns Lippen so lange und fest gelegen. Es war wohl wieder schön gewesen – und doch nicht mehr so schön wie sonst. Aber – tat der Schäfer das gleiche … wie mochte es dann wohl sein? Und bei dem Gedanken verbarg sie ihr erglühendes Gesicht im Arm und verlor die Ruhe. Wie drückend heute die Luft in der Kammer schwülte … fast möchte man aufstehen und fragen gehen, ob denn der arme Wunde dort oben unter den heißen Dachschindeln nicht verdursten müsse – sicher hatte ihm der Vater kein Krüglein mit Wasser gegeben – und Wunden schaffen Fieber, wie der Meister selbst oft gesagt. Was aber dann der Hirt wohl von ihr dächte, suchte sie ihn am Lager heim? Also: einschlafen war das richtigere. Sie drehte sich um und schloß die Lider. Es begann zu wirbeln – bald der Hasselbach, nun der Vater, jetzt der Schäfer mit dem kupfernen Köpflein im weißen Verband. Und dabei fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte, die Haare aus der Stube zu kehren. Aber morgen mit dem frühesten wollte sie aufstehen und das Fortfegen nachholen, damit der Vater nicht über die Unordnung schelten mußte. Ein Löcklein konnte man vielleicht aufheben … es war so sonderliches Haar – gülden, glänzend und geringelt, ganz anders als ihre schwarzen, dicken Strähnen. Doch meinte sie, ihre dunkeln Haare müßten ebensogut zur braunen Haut passen, wie seine roten zu all der lichtscheinigen Weiße an Hals und Arm. Und über dem, daß sie dabei das Herzstechen auf einmal an jener selben Stelle verspürte wie der Schäfer, legte sie die Hand auf den jungen Busen. Dann schlief sie in einen unsäglich schönen Traum hinüber, in dem sie mit dem Geckir auf einer großen Wiese ging … bunte Blumen blühten – blau, wie des Hirten blaue Augen – weiß, wie des Geckir seltsame Haut – rote, die seinem Blute glichen – und güldene, von denen jede eine seiner flimmernden Locken als Blüte trug …

Flink von Hasselbach war derweil nach der Wache gegangen. Unterwegs hatte er bedacht, daß Hanns Grysen Hornes Rat nicht der schlechteste wäre. Unter Feinden einen Menschen an der Seite? – Man konnte doch nicht wissen – hm! … Also wollte er sich den Gürg Putzmirslicht doch einmal daraufhin ansehen. Er betrat die Wachtstube beim Eschenheimer Turm und fragte, ob der scheppe Gürg da wäre. Es traf sich, daß der Stückknecht diese Nacht mit den von den Zünften gestellten Bürgern den Wachedienst zu teilen hatte, den zur Hälfte die Werkleute, zur andern Hälfte die Söldner versahen.

»Ich will dich was fragen – tritt mit mir vor die Tür!« befahl Hasselbach und musterte den Mann.

Der Gürg sah just nicht wie ein Lamm aus, eher wie ein griesgrämiger Bär, mit seinen gewaltigen Schultern, den langen starken Armen und den klobigen Fäusten. Das Kinn sprang ihm weit vor unter der Hakennase. Die Stirn floh stark zurück über den scharf blickenden, dunkeln Augen und kam unter dem kurz geschorenen Braunhaar massig, wie aus grobem Stein gehauen hervor. Und doch flimmerte ein helles und gütiges Scheinen durch seiner Augen Blank, als er einem der Männer ein kunstlos geschnitzeltes Häslein übergab. Er hatte an dem holzenen Spielkram gebastelt, als Flink nach ihm fragte.

»Bring's deinem Büblein und sage ihm, dergleichen Langohren könne man zu Hunderten vor den Taunuswäldern spielen und Männlein machen sehen«, sagte er. Die Stimme bebte ihm ein wenig, weil er sie zwingen mußte, wenn er freundlich reden wollte. »Und grüß' mir den kleinen Schelm – er soll bald wieder auf die Wache kommen – ich schüfe ihm derweil einen Gaul, wenn er verspräche, daß er mir das Küssen nicht wieder so harsch wehrt.« Dann folgte er dem Hauptmann vor die Tür; das Hinken war nicht einmal so arg.

»Woher hast du das ungute Bein?« frug Flink und begann im Turmschatten mit dem Gürg auf und ab zu wandeln. Er dachte durch das Schreiten einem Lauscher vorzubeugen.

»Eine Steinkugel fiel mir vor drei Jahren auf den Fuß«, gab der Stückknecht kurz Auskunft. Nun scholl die tiefe Stimme brummig und unfreundlich; er mißtraute dieser Zwiesprach. Was hatte der vornehme Herr mit ihm, dem Söldner, zu schaffen?

»Berichte, wie das kam!« forderte der Hasselbach, um Zeit zu gewinnen. Er war sich noch nicht klar, wie er dem Manne Bescheid von des Geschützmeisters Gedanken geben könnte.

Ein kehliges, trutziges Lachen kam vom scheppen Gürg. »Was wäre da zu berichten? Ich half den Kugelnwagen abladen. Dem Hanns ging's zu langsam. Träum' nicht! sagt er und versetzt mir einen Stoß in den Rücken. Der Klosser gleitet mir aus den Händen. Plumps, auf den Fuß. Die Zehen waren hin. So bin ich seit drei Jahren nicht mehr Gürg Putzmirslicht aus Schmitten, sondern der scheppe Gürg.«

»Schmitten?« Flink wurde aufmerksam. »Ist das nicht im Taunus?«

»Wohl, wohl, Herr! Übern Feldberg hinweg nach Norden.«

»Und nun hast du wohl auf den Geschützmeister einen argen Haß?«

Eine Weile blieb Gürg stumm; dann lachte er laut, nicht eben froh. »Ha – ich hasse ihn nicht. Wer beim Reifenberger Herrn Knüffe, beim Cronberger Maulschellen und beim alten Hattsteiner Kunrad Fußtritte in Kauf nehmen mußte – in den drei Burgen war ich nämlich Stückknecht –, der gewöhnt sich das Hassen ab und macht sich nichts daraus, wenn ihm unter die Nase gefahren wird oder hinter die Ohren … wie es der gestrenge Hanns heute früh beim Bockenheimer Tor getan; obwohl es nicht meine Schuld war, daß der Stangengaul ausbrechen wollte. Und der Stoß in den Rücken? … Nun, es ist einmal nicht Sitte, daß man die Söldner wie Schenkmägde betändelt. Glitt mir damals die Steinkugel aus den Händen – was packte ich sie nicht fester an! – Es weckt mir freilich keine Liebe für den Hanns, daß mir – schreite ich durch die Gassen – die Kinder nachspotten und mit dem Hinken zählen: einunddreißig, zweiunddreißig!« Für eine Weile verstummt, stapfte er neben dem nachdenklichen Hasselbach einher. Als er wieder zu reden begann, klang seine brummige Stimme weicher … fast so wie vorher, als er das Häslein verschenkt. »Aber, seht, Herr, der Geschützmeister hat ein Mägdlein, und dieses Mägdlein sehe ich gern. Nicht so, wie Ihr es auffaßt!« beschwichtigte er lachend, als Flink mit dem Haupte auffuhr. »Stünd' mir wohl übel an, erhöbe ich lahmes Hinkebein zu meines Meisters Pflegekind die Augen. Ich sehe das Kind gern – nun, wie man so ein hübsch schwarzäugig' Mägdlein lieber anguckt als eine Hexe mit Triefaugen. Hab' – da ich jünger war – auch gern in schwarze Augen geguckt. Nicht immer zu meiner und anderer Freude.« Er blieb verstummt und hinkte im Wechseltakt seines lahmen Beines neben Flink her.

»Der Hanns muß dir nicht allzu unlustig gesinnt sein«, hob nun der Hauptmann an, weil er meinte durch Gürgs Bericht den rechten Einschlag gefunden zu haben. »Er hat dich mir empfohlen. Du weißt, was wir alle wissen: es handelt sich darum, dem Hattsteiner vor die Mauern zu ziehen. Ich vertraue dir als einem redlichen Kriegsmanne an, daß ich die Burg vor der Fehde auskundschaften will. Als Helfer dabei schlug dich der Geschützmeister vor. Du siehst, es kann nicht schlimm um seine Meinung über dich stehen. Noch gelegener kommt es, daß du den Hattstein von innen kennst.«

»Ich kenne alle Taunusburgen, denn ich treibe mich seit Bubentagen beim Waffengeding herum. Ich lief dem Pulvergestank und Stückdonner nach, wie andere dem Kalbsfell und den Hörnern. Den Geschützen gilt nun einmal meine Liebe.«

»Und wie lange dientest du dem alten Hattsteiner?«

»Vier von meinen vierzig Jahren. Vor nunmehr sechzehn Jahren trat ich aus des nun längst seligen Herrn Kunrads Dienste in den Sold der Stadt Frankfurt.«

»Gut, sehr gut! – Wie wär's nun, wenn wir beide zum jungen Hattsteiner und seinen Brüdern überliefen, weil uns der Dienst in Frankfurt nicht mehr behagen will?« Flink war dicht an den scheppen Gürg herangetreten und flüsterte ihm den Vorschlag hastig zu.

»Also dazu wollt Ihr mich verleiten? Hätt' ich das geahnt, so konnte ich vorweg erklären, daß diese Unterredung nicht Nutz noch Sinn haben würde!« rief der mißtrauische Stückknecht aus, der nicht anders meinte, als daß man ihn hier auf die Verräterprobe stellen wolle. »Mich bringt kein Gespann der Welt aus Frankfurt, selbst das der ›brummenden Kathrine‹ nicht.«

»Bist du so stützig, daß du nicht begreifst und nicht an das denkst, was ich vorher sagte? Wir beide können der Stadt, der wir verbunden sind, einen großen Dienst erweisen. Da du den Hattstein gut kennst, so muß ich mich nicht erst selbst zurechtfinden, und wir sparen Zeit. Schnell haben wir alles ausgestöbert, machen uns wieder davon … und dir soll's an geeigneter Beförderung nicht fehlen. Oder hättest du keine Lust, eines der kleinen Stücke nach sechzehn Jahren Dienstzeit als Unterbüchsenmeister auf den Hattstein zu richten?«

Dem Gürg Putzmirslicht schien es ob all der Aussichten schwül zu werden. Er nahm die Kappe ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die niedrige Stirn. »Ich selbst soll gegen den Hattstein ein Geschütz richten müssen? … dürfen, Herr, dürfen – wollte ich sagen!« verbesserte er schnell. Er schnaufte tief und erregt, als könne er den Gedanken gar nicht fassen.

»Nun, und ist das Kundschaftern nicht etwa auch ein Abenteuer, das sich um eben dieses Abenteuers willen lohnt?« suchte der Hasselbach den Erregten weiter zu verlocken.

»Herr, es ist ein höchst gefährlich Unterfangen!« warnte Gürg. »Der Hatzicho ist kein frumber Mann und fürchtet auch des Reiches Kaiser und Acht nicht, gerät er uns auf Verrat. In den Hattstein hinein mögen wir leicht gelangen – das Davonkommen aber wird schwierig sein, wenn nicht gar unmöglich. Als der Reichsstadt Entlaufene dürfen wir nicht mit Roß und Wehre in die Burg einziehen. So auch müßten wir uns auf den Heimweg machen. Auf Ja und Nein kann uns also der Hattsteiner aufgreifen lassen. Und ich glaube, dann hätt' es bei mir mit dem Hinken Ruhe bis zum Jüngsten Tag.«

»Schiedest du im Zwist von dem alten Hattsteiner?«

»Wir gingen in ehrlichem Fried' voneinander, nachdem ich ihm wahr und redlich nach Burgenbrauch aufgesagt. Man kannte mich vor sechzehn Jahren als einen, der's nicht lange im selben Sold aushielt. Daß ich in Frankfurt so lange blieb, hat seine Ursach in des …« Er unterbrach sich und stutzte, als hätte er beinahe zuviel sagen wollen; dann fuhr er leiser fort: »Nun ja, es war das lahme Bein, das mir den Weg aus Frankfurt wehrte.«

»Waren die Hattsteiner von deiner geringen Seßhaftigkeit überzeugt, so wird selbst nach der langen Zeit keiner von ihnen etwas dabei finden, daß du zurückkehrst und gar noch einen Unzufriedenen mitbringst.«

Der scheppe Gürg bedachte sich eine lange Weile. »Gut denn – ich will auf alles eingehen!« sagte er endlich zu. »Gelingt's uns auf der Heimfahrt nur gut in die Wälder zu entkommen, so wird es uns nicht fehlen, denn den Taunus kenne ich in allen Winkeln und Wegen. Und Burg Hattstein sähe ich nicht ungern wieder. Dort war eine …« Auch diesmal brach er ab, als ließe er von seinem innern Menschen nicht mehr sehen, denn taugen mochte.

Flink erklärte ihm noch, daß er Bescheid und Urlaub erhalten würde, sobald es an der Zeit wäre. Dann ließ er den scheppen Gürg allein.

An die Balken unterm Wehrgang gelehnt, starrte der Mann nachdenklich zu den von Sternen umglitzerten fünf Spitzen des Eschenheimer Turms empor. Der Nachtwind sumste um den stolz ragenden Wart. Der scheppe Gürg hörte dem Raunen zu und suchte den Klang herauszufinden, der dem Brausen der Blätterzungen in den Taunuswäldern ähnlich wäre. Das hatte der Gedanke, den Hattstein wiederzusehen, in ihm erweckt. Fast wie Heimweh nach den fernen, lange nicht mehr erblickten Forsten überkam es ihn bei diesem Lauschen. Nachdem er vielem nachgedacht, das ihm das Blattgeflüster, Bächegemurmel, Wipfelbranden und Tannenraunen der Höhe einst ins Leben hineingerufen an Leid und Freud', seufzte er eines Weibes Namen und hinkte mit noch ernster gewordenem Gesicht in die Wachtstube. –

Als der Morgen graute, erhob sich Merla von ihrem Lager. Mit erstaunten Augen sah sie sich um. Wo war nun die Sommerwiese mit allen den Blumen blau und weiß und rot und gülden, auf der sie in einem langen, wunderschönen Traum mit dem Schäfer Geckir umhergewandert war? Hatte sie nicht alle Lockenblüten des Hirten gepflückt und ihm ein gleißendes Kränzlein davon um den blutigen Verband gewunden? Das Haarhäuflein in der Tagstube fiel ihr auch diesmal ein … das mußte fort, bevor der Vater erwachte. Ein dünnes Rotröcklein nur warf Merla über, dann huschte sie auf bloßen Füßen über den Flur in den Wohnraum. Dort lag die Helligkeit bereits auf den Dielen und lüsterte durch die Rundscheiben der Fenster. Wie silbern, fing sich das Leuchten auf dem braunblanken Nacken, den runden Schultern und dem weiten Ausschnitt über der Brust des jungen Menschenkindes. Da kauerte Merla vor dem kupferigen Lockenschatz Geckirs und tippte mit zagem Finger auf das Gekräusel – wie ein Kind, das etwas seltsam Schönes entdeckte. Gleich obenauf lag ein dickes Haarkringelchen. Sie nahm es in die hohle Hand und wog es, als könne sie nicht begreifen, daß so blankes Haar nicht schwerer sei denn einer Feder Flaum …

Vor der offenen Tür tapste ein Schritt. Flugs ließ Merla die rote Locke hinter den Vorsatz des Hemdleins auf die Haut gleiten und erhob sich gescheucht. Die Hand hielt sie auf das kitzelnde Ding gepreßt, das mit ihrem erschrocken eiligen Atem da nun auf und nieder glitt.

»Zürnt nicht, lieber Vater …«

Doch sie verstummte in der scheuen Entschuldigung. Nicht der Geschützmeister stand da und staunte sie mit himmelweiten Augen an. Ein anderer ließ den suchenden Blick bald über ihre bloßen Füße, bald über die schimmernden Schultern und glänzenden runden Augen huschen – der rote Geckir. Und als ihm die erstaunten Augen groß und klar nun gar dort hafteten, wo sie die güldene Locke auf der Haut fühlte, zog sie errötend das Linnen höher zum Hals.

»Mich litt's unter dem dumpfigen Dach nicht länger«, erklärte er schüchtern. Dann aber trat er wie ein geblendet Suchender mit vorgereckten Händen in die Stube, schritt wie traumwandelnd auf Merla zu und hatte glührote Wangen …

Und das alte Wunder geschah, das zwei junge Menschenkinder zueinander treibt.

Ein wenig später kannte Merla den Unterschied, wie es ist, wenn man des Flink von Hasselbach Lippen auf dem Munde nur duldet – nur weil man sich gegen einen vornehmen Herrn nicht zu wehren traut – und wie anders es tut, wenn man einen Kuß vergilt, nur weil man den eigenen wiedervergolten wissen will …

In seiner Kammer ächzte Hanns Grysen Horne auf. In diesem Augenblick war ihm gewesen, als hätte ihn etwas an der Schulter gerüttelt, zum Aufstehen ermunternd. Aber er drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter. Seine zufriedene Seele beruhigte ihn: er versäume nichts, wenn er weiterschliefe … er, der doch so viel versäumte!

Denn in dem hellen Tagscheinen, das die aufgehende Sonne über Frankfurts Türme goß und wie ein frohes Glückserwachen auch in des Geschützmeisters Tagstube fließen ließ, lag das abermals vergessene Haarhäuflein allein und verlassen. Und das kupferige Geflimmer glimmte in den Morgenstrahlen, als wäre eine Flamme daraus geflogen und hätte einen heiligen Brand entzündet. Nun lag, was Hanns Grysen abgeschoren, in einer stillen, ruhsamen Glut da. Die Stube war leer und friedlich. Ein Hauch noch klang in diesem Frieden nach – ein Hauch von lieben, heißen Worten – ein Hauch noch von dem Schwingenwehen der größten Seligkeit.

Der rote Geckir aber saß wieder unter dem dumpfigen Giebel auf seinem Strohsack und starrte lächelnd auf den himmelblauen Flecken, den die Dachluke aus dem Morgenhimmel kreiste. Er hatte die Hand wiederum auf der Brust liegen, wo gestern abend das merkwürdige Stechen hindurchgeeilt war. Nun war es da drinnen so voll und so weit, so selig und so wohl … ach, es war doch eine jauchzende Freude zu leben …!

Die schwarze Merla aber kauerte auf den Knien vor ihrem Lager und flocht ein Fädchen um den güldenen Haarkringel; den wollte sie nun nimmer von sich lassen. Aber der Vater durfte es nicht merken. So zog sie denn einen Wollfaden aus dem roten Röcklein und band daran die Locke in den Zackenrand des Hemdleins. Nun konnte das krause Ding sicher zwischen Linnen und Haut verborgen bleiben. Und der Traum von der Wiese war nun doch Wirklichkeit geworden: wie lag das Leben sommerlich und blühend vor einem, wenn man in heimlich heller Liebe das Küssen so recht erlernt hatte, und wenn die Sonne selbst so hell und heimlich eine enge Mädchenkammer mit gleißendem Glast erfüllte, daß alle Wände aussahen, als wären sie von lauterm Golde. Wohl, der Himmel hatte sich nicht verhüllt – er hatte nur noch schöner und feierlicher geleuchtet: ein Unrechttun war's also nicht gewesen …

Ein wenig schmollte sie ja dem Geckir – doch nur ein wenig. Sie griff nach dem Lockenkringel und umschloß ihn sanft mit der gehöhlten Hand. Da kam plötzlich eine verzagte Traurigkeit über ihr Herz. Fluten brachen darinnen auf, als hätte sich alles losgelöst in ihrem Innern. Wie eine große heilige Weihe quoll es zu ihrer Seele – Läuterung und Verurteiltsein zugleich. Da neigte sie die Stirn auf den Rand ihres Lagers und begann ein gequältes und doch so inniges Schluchzen … wie ein arm' Menschenkind vor einem eben erst begriffenen, hohen Wunder in Tränen süßer Seligkeit, in wonniges Leid und schmerzliche Schauer gerät. –


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