Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Skizze
Wo die schmutzigen Kohlenschiffe ihre Ladung löschten, der Hafen einen unfreundlichen und unordentlichen Anblick bot, endete eine kleine Gasse. Tagsüber lag sie still und wie ausgestorben, unheimlich, wie wenn eine Seuche sie entvölkert hätte. Alle Fensterladen waren geschlossen, hinter den Haustüren schien das Grauen zu wohnen, auf den Schwellen die Einsamkeit zu hocken.
Je tiefer aber die Nacht sank über der französischen Seestadt, desto höher schien das Leben zu branden in jener Gasse. Große rote Laternen, mit Ungeheuern Zahlen bemalt, leuchteten nieder auf die nächtlichen Sucher nach den Quellen des Lebens. Und es gab deren in der Gasse mehr als genug. Denn hier hauste Frau Venus in gar mancherlei Gestalt. Vom Wind gerüttelte Flammen in den Glaskasten breiteten einen seltsam roten Schleier über das holprige Pflaster, so, als sei die Hochflut der Sinnlichkeit über die Steine dahin geflossen. Trunkene Siegeslieder, geboren aus versoffenen Matrosenkehlen freilich, schlugen zu den jetzt offenen Fensterladen empor. Diese phallischen Sänge mischten sich mit den Anpreisungen der Kupplerinnen, die, vor den Pforten jener Venusberge sitzend, in allen Sprachen dieser Erde hauptsächlich die Seeleute anzulocken suchten. Vor manchen Häusern unterstützten auch die Dirnen selbst jenes Aufgebot sündiger Reklame.
Der überall herrschende rote Schein, das Gewirr von Stimmen, die geilen Rufe der Hetären, das Gegröhl der Matrosen … wie eine Vorhölle der Leidenschaften kam mir die Gasse vor. Ich schritt ohne Verlangen hindurch, nur von Neugier und Forscherleidenschaft dorthin geleitet. Nur einmal blieb ich stehen: es war mir, als hätte ich deutsche Laute vernommen. Ich lauschte.
La belle Héléne!
Voilà la petite Margot!
Francine la sympathique!
Entrez messieurs – je suis la femme sans poils!
Venez donc, mon petit …
»Hier ist 'ne Deutsche – immer 'ran, Kinder!«
Und dort trat ich ein.
Ein blondes Mädel, mit schmalem Gesichtchen und blauen Treuaugen fragte: » A moi – n'est-ce-pas?«
»Ja, gewiß – guten Abend, Fräulein!« sagte ich und umfing ihre schmale Mitte.
»Ach, ein Landsmann«, flüsterte sie und entzog sich scheu der Umarmung. – – –
Die Kerze war tief herabgebrannt, als ich wieder erwachte. Mit dem Gefühle heimlicher Reue sah ich in dem Zimmerchen um mich. An meiner Seite schlief die Kleine. Ihr Mund, verblaßt und mit schmalen, unsinnlichen Lippen, war leicht geöffnet … jener zärtliche Schlummer süßer Erschöpfung, der den Frauen nachdem eigen ist. Ein kindlich runder, weicher weißer Arm legte sich über meine Brust, denn auch sie regte sich müd bei meinem Erwachen. Ihr Kindergesichtchen schob sich vertrauensvoll näher, und blonde Stirnlöckchen liebkosten meine Wange.
Ich dachte über das Verwichene nach …
Hm, nichts von durchtriebener Lust – kein geschäftsmäßiges Hingeben oder Wollustheucheln. Nur zaghaftes Erwidern meiner Küsse und mädchenhaft verschämte Hinnahme bezahlter Dreistigkeiten. Alles war wie beim ersten Male in diesem jungen Weibesdasein. Erst spät war heißes, verlangendes, begehrendes, williges Geflüster zwischen uns. Und endlich ein Aufbrausen in Glücksgefühlen, das sich in bacchantischem Taumel verzehrte, in sehnsüchtigen Seufzern endlich ermattete.
Wohlig müde war auch ich. Aber dies Weib war nicht von gewöhnlicher Herkunft – seine Vergangenheit zu erfahren, die Neugier zu sättigen … das brach den Schlaf von meinen Lidern. So wachte ich, bis der dämmernde Tag durch die geschlossenen Fensterladen drang, grünlich fahles Licht auf alle Gegenstände in dem Stübchen zaubernd.
Da wurde auch sie munter mit einem aufzitternden Seufzer; wie tief erschrocken vor meinem fremden Gesicht, starrte sie mir in die Augen. –
Nun, ihre Geschichte war weder lang noch sonderlich dramatisch – und meine Freundin erzählte weniger, als daß sie den Inhalt einer Pappschachtel für sich reden ließ. Sie holte den Kasten unter allerlei Krimskrams hervor und breitete das, was darinnen war, vor mir auf dem Tische aus:
Eine Photographie, die mir ein hübsches, besseres Bürgermädchen in geschmackvoller Sommerkleidung zeigte. Auf der Rückseite las ich den Namen einer thüringischen Stadt. Die lebhaften Augen auf dem Bilde sahen noch rein und unbeschattet, das Kinn noch weich und keusch aus. Der Mund war voller als jetzt und hatte jenen Ausdruck liebevoller Güte, wie gute Kinder ihn zu eigen haben. Eine alte Zeitung, in der eine Anzeige: eine Bonne nach Frankreich gesucht – rot angestrichen war.
Ein beschmutzter Briefbogen, groß und schön beschrieben, mit der Anrede: Inniggeliebte Mutter! – Teure Mutter oder süße Mutter fing jeder Satz an; der letzte war unvollendet und brach mit dem bangen, furchtsamen Wörtchen verzweifelt ab.
Eine Visitenkarte: Vicomte de Vallemonte. Einige rosenfarbene Briefchen – eine zierliche Menükarte aus einem Pariser Hotel. Zum Schluß eine Vorladung vom tribunal des moeurs und ein Zeitungsausschnitt mit der Adresse einer verschwiegenen Hebamme. Auf der Rückseite des amtlichen Schriftstücks mit Bleistift und von der Hand eines Mannes geschriebene Straßennamen: ruelle des vaisseaux 21, rue de la porte 5, ruelle des matelots 18 und tue Dauphin 29. Die letzte Straße war dick unterstrichen.
Ich betrachtete diese Gegenstände und dichtete in meiner Seele jene Geschichte nach, die sie erzählten: besser erzählten, als es das blonde deutsche Mädel hätte tun können, das da vor dem Spiegel stand und eine einfache Haartracht herrichtete. Aus dem Spiegel her sahen mich ihre Augen an. Blaue, treue, verliebte und doch so unsäglich süß schwärmerische Augen, die sie in der Nacht nur selten zu mir aufgeschlagen, und die mir jetzt von Tränen verschleiert erschienen.
Es zog so weich und gerührt durch mein biederes deutsches Herz, stieg mir beklemmend in die Kehle hinauf und machte meine Stimmer heiser und trocken, als ich nun von meinem tiefen Mitgefühl reden wollte. Als müsse ich eine übermenschlich schöne, übermenschlich edle Tat vollbringen, war mir zumute. Ich leerte meine ganze Barschaft auf den Tisch aus – ungefähr zweihundert Franken – und nahm vornehm eiligen Abschied, um dem Dank der Kleinen zu entgehen. Kaum daß ich sie zu küssen wagte. Natürlich versprach ich, recht oft zu kommen.
Aber sie sagte mit einem befreiten Lächeln: »Wiederkommen? Du wirst mich hier nicht mehr antreffen. Mit deinem Gelde, du gütiger Mensch, kann ich mich loskaufen, kann heimkehren. Ach, wenn wir einander dort Wiedersehen könnten … daheim … daheim …«
Ich stand auf der kurzen Steintreppe und lugte in den noch verschlafenen Morgen hinein, die Gasse hinab. Jetzt lag sie friedlich und still in der frühen Sonne, wie jede andere Straße, wo Ehrbarkeit und Bürgertugend hausen. Nach dem Meere wollte ich gehen, nach der Hafenmole, wo brüllende Wogen an den Steinkolossen rütteln, rufend vom ewig Übersinnlichen, das doch einmal zerstören wird, was sich der kluge Mensch errichtet. Dort war gut nachdenken über das Elend und die Tragik menschlicher Geschicke. Vielleicht fiel mir dort ein, was mit dem armen Mädel zu beginnen wäre. Ich habe ein begeisterungsfähiges Gemüt – ich fühlte, daß ich dies zertretene Geschöpf lieben könnte mit aller Kraft der heiligen, innigen Liebe des deutschen Mannes …
So denkend, stand ich vor dem Haus, als droben ein Fenster klirrte. Ich sah empor, um ihr Abschied zu winken. Da tauchte neben dem blonden Scheitel der dunkle Wuschelkopf einer andern auf. Die beiden Frauenzimmer lachten frech, aus dem schmalen Mädchengesichte streckte sich höhnend die Zunge.
» Bête allemande! … tête de brebis … dämlicher Kerl …!«
Zorngerötet flüchtete ich die Rue Dauphin hinab, fluchend auf die verdammte deutsche Sentimentalität. Im Grunde genommen hatten die Dirnen ja recht. Aber es ist doch eben ein Pech, wenn man Güte stets mit Undank gelohnt weiß. –