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3. Gedanken über die Entwicklung der primitiven Weltanschauung.

Obwohl die vorliegende Studie manchem Widerspruch begegnen wird, glaubten wir doch, dieselbe den Lesern nicht vorenthalten zu sollen, da sie jedenfalls zum Nachdenken anregt. Die Redaktion muß selbstverständlich die volle Verantwortlichkeit der einzelnen Ausführungen ihren Mitarbeitern überlassen, welcher prinzipielle Standpunkt hier ausdrücklich betont werden soll. Anm. der Redaktion. (Aus dem »Archiv für Religionswissenschaft«. Bd. II. Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1899.)

(1899.)

Zur Selbständigkeit unserer Wissenschaft. – Das Motiv. – Rhythmus und Ursprung des Motives. – Die zwei Welten. – Material und Ziel der Weltanschauungslehre. – Die Formen. – Die Genesis. – Entwicklungsreihen. – Das Fehlen der Bindeglieder. – Inkongruenzen. – Die Gedanken. – Die Entfremdung. – Die Einschaltung und andere Wandlungsprozesse. – Herrschende und dienende Motive. – Uebergangsgebiete. – Drei Weltanschauungsepochen. – Der Zerfall einer Weltanschauung. – Fragmente einer Weltanschauung. – Kreise der hohen und niederen Weltanschauungen. – Charakter der Weltanschauung. – Weltanschauung, Religion, Wissenschaft. – Das Glauben.

 

Es sollen hier lockere, des Zusammenhanges mehr oder weniger entbehrende Ideen folgen, wie sie sich bei der Ausarbeitung eines umfangreichen Stoffes immer einstellen. Die Vorarbeiten zu jenem Werke, das zunächst als »Fragmente einer Weltanschauung« angekündigt, nun aber auf Wunsch des Verlegers als »Weltanschauung der Naturvölker« erschienen ist, haben mich naturgemäß vielfach mit der Religionsphilosophie und der Völkerpsychologie zusammengeführt. Aber ich weiß nicht, ist es nur mein Schicksal oder das des Ethnologen überhaupt, die beiden Wissenschaften waren unhandlich für den Gebrauch. Die Werkzeuge, die sie bieten und verwenden, sind zu sehr für das eigene Arbeitsfeld nüanciert, um ohne weiteres auf einem anderen, auch wenn es mit der gleichen Frucht bestellt werden soll, Verwendung finden zu können. Und abermals reifte in mir die Ueberzeugung heran, die sich schon bei den Studien der Kunstgeschichte und manchen Gebieten der Technik aufgedrängt hatte: die Völkerkunde muß selbständig und unabhängig die Erkenntnisse zeitigen, die auf dem Wege ihrer Entwicklung liegen. Es liegt dieser Anschauung keine Spur von Mißachtung anderer Tätigkeit zugrunde, sondern das Bedürfnis nach Selbständigkeit. Wir Ethnologen hängen noch allen möglichen Wissenschaften am Rockschoße und entbehren deshalb der Einheitlichkeit. Wenn die Ethnologie sich als selbständige Wissenschaft oder freiausgebildeter Zweig der großen, einen Wissenschaft proklamieren muß, so braucht sie einen eigenen Organismus, in dem alle Teile gegenseitig abgewogen sind und sich alles ergänzt. Heute gleicht sie noch gar sehr einem ungeordneten Mosaik. Und so trat ich denn von dem Versuche, mit dem Werkzeuge der Religionsphilosophie und der Völkerpsychologie zu arbeiten, zurück und suchte eigenes Gerät zu schaffen.

Die Ergebnisse dieser Tätigkeit sind im großen und ganzen in dem oben zitierten Werke dargestellt. Man mag dasselbe streng systematisch nennen, aus welchem Grunde alle noch dunklen Stellen, alles noch nicht vollkommen Reife, jene Ideen, die das letzte Resultat der Untersuchungen darstellen, nicht mit aufgenommen wurden. Sie sind kurz zusammengefaßt, stellen nichts Einheitliches dar, sondern vielmehr Fingerweise, in welcher Richtung zu forschen ist und Resultate zu erzielen sind. Da sie frei aus der ethnologischen Arbeit herausgewachsen sind, nähern sie sich hie und da den Ergebnissen der Völkerpsychologie, erheben daher nicht den Anspruch der unbedingten Originalität und auch nicht den unwiderruflicher Genauigkeit. Sie bedeuten auch mehr Anregung als Lehre, was durch die Form, in der sie zusammengestellt sind, angedeutet ist. Es sind im weitesten Sinne die Anfänge einer ethnologischen Weltanschauungslehre.

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Ebensowenig wie man den Wind fassen, abbilden, beschreiben kann, sondern sich damit begnügen muß, aus den bewegten Zweigen der Bäume, dem umherflatternden Staub auf der Straße usw. auf die Richtung des Windes und – wenn man hinter Glasscheiben steht – auf sein Vorhandensein zu schließen, aus diesen Erscheinungen seine Eigenschaften, sein Wesen zu erkennen; ebenso ist für uns wie für ihn selber das Motiv in der Weltanschauung des Wildlings etwas Unfaßbares, Unklares, Schwerverständliches, das mehr als schöpfende oder schöpferische Kraft denn als Schöpfung überhaupt erkennbar, das leichter im Bilde und Bildwerke als in der Sprache darzustellen ist. Und deshalb kann es von uns nur in seinen Wirkungen auf die Formen erkannt werden.

Wenn aber ein Wind weht, so schlagen die Baumzweige hin und her, die Staubkörner wirbeln lustig in verschiedener Richtung durcheinander, so daß jedes einzelnen bewegten Gegenstandes Bewegung nur ein Beweis dafür ist, daß eine Kraft hier wirkt; ob aber seine Bewegung der primären Richtung oder einer sekundären Strömung folgt, das kann nicht sogleich und nur nach einem Beobachten des überwiegenden Triebes gesagt werden.

So sind auch in den Anschauungsmotiven nicht etwa Einheiten oder feste Körper gegeben. Die wirkende Kraft kann nur aus den Beziehungen der Ausdrucksformen, aus der Entwicklungsrichtung, der Summe der Erscheinungen herausgefühlt werden.

Das Schöpfungsvermögen des Motives ist nicht an die Zeitlichkeit gebunden, auch nicht etwa an eines Schädels Zeugungs- und Fortpflanzungskraft. Einerseits kommt daher für die ganze Summe der Tatsachen nicht die Erklärung eines Wildlings in Betracht, die sowohl primärer als sekundärer Natur sein kann, sondern vielmehr ein Extrakt aus der Gesamtheit. Andererseits erhalten wir durch diese Erkenntnis die Berechtigung, Entwicklungsreihen darzustellen, Stammbäume der Familien nach deszendentalem Schema.

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Aus mehreren Gründen spreche ich vom Rhythmus und nicht von Wiederholung in der Weltanschauung. Wenn in der Mythologie gleich viel oder mehr Sonnenhelden alle mit fundamental gleichen Eigenschaften, Schicksalen, Bedeutungen, Aufgang, Höhe, Untergang nebeneinander auftreten, so ist das als Rhythmus der Sonnenmythologie zu bezeichnen. Es wird sich bei einer herrschenden Form oder Erscheinungsfolge auch eine nicht als Sonnenheld in die Mythologie eingetretene Figur zum Sonnenhelden umbilden können, die Eigenschaften und Schicksale desselben aufnehmen und sich so dem herrschenden Rhythmus fügen.

Die Primitivsten, die nur die einzelnen Erscheinungen beachten, nicht aber deren Zusammenhang, erkannten nur die Ausnahmen. Die Wiederholung der stets gleichmäßig wirkenden Naturmaschinerie drängte die Aufnahme der Erscheinungen dem Menschen doch zum Schlusse auf. Anderenortes (Bildende Kunst der Afrikaner 1897) ward gezeigt, wie der Mensch ohne seinen Willen die Menschenfigur schuf. Man kann daher den Rhythmus in der Weltanschauung als eine Folge oder das Spiegelbild des Rhythmus in der Natur bezeichnen.

In der Weltanschauung der Primitivsten ist der Rhythmus sehr schwach, wogegen das Naturwahre vorherrscht. Bei den Primitiven erscheinen bestimmte Motive und der Rhythmus überhaupt erst. Bei diesen herrscht das Bestreben, alle Tatsachen, Erscheinungen, Vorgänge usw. unter bestimmte Gesichtspunkte, also in Mythen in den Bereich eines Motivs zu bringen.

Wie die Charakterornamente in der Kunst, so verdanken also auch die entsprechenden Motive in der Weltanschauung dem Rhythmus ihre Entstehung.

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Die Primitivsten lebten in der Welt als Teile derselben und meinten nicht höher zu stehen, mehr zu vermögen oder irgendwie mehr zu sein als Bäume, Tiere, Mond usw. Die Wildlinge schufen in Opposition zur Natur eine Kulturwelt. Diese Menschen, die heutigen Naturvölker, leben nun in der Welt ihrer Schöpfungen.

Zwischen beiden Welten bestehen unzählige feine Beziehungen; denn der Mensch nahm die Stoffe zu der seinen aus der Naturwelt. Sein Streben war, aus der Naturwelt, die ihm überall schwankend, beweglich, gesetzlos, unregelmäßig erscheint – denn er beachtet ja nur die Ausnahmen und die Abnormitäten –, eine zu schaffen, deren Regeln und Rhythmus, Gesetze, Gebote und beständige Eigenschaften er vorschreibt und gibt, kurz eine Welt, in der er nicht diene, sondern herrsche.

Es ist das wichtig und mag daher nochmals anders gefaßt werden:

»Die Primitivsten waren noch eins mit der Natur« heißt: sie fühlten sich als allen anderen gleichwertige Teile eines gleichartigen Ganzen und beugten sich anstandslos dem Willen ihrer Umgebung, solange nicht die Existenz bedroht war. In der Kulturentwicklung trennten sie sich von der Natur; im Kopfe des Wildlings spiegelt sich die Welt als seine, die von ihm umgeformte. Er zwingt das Wetter, er zitiert den Toten, er tötet durch Zauber. Er gehorcht den Gesetzen seiner Schöpfungen, aber nicht direkt, sondern nur indirekt denen der Natur.

Deshalb können wir von zwei Welten reden, in denen die Wildlinge leben. Die eine, die eigene, wissen sie, die andere, die Natur, ahnen, aber leugnen sie.

Auch wir leben in zwei Welten, aber da einerseits das Bestreben herrscht, die unsere der natürlichen gleich zu gestalten, da wir andererseits selbst darin leben, so können wir nicht die Unterschiede unserer und der Naturwelt erkennen wie bei jenen, auf die und deren Anschauung wir gleichwie von Hügeln auf die Täler herabschauen.

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Wir Ethnologen studieren die Menschheit und den Menschen hinsichtlich der Kultur. Zur Kultur gehört alles, was der Mensch besitzt oder was er geschaffen hat. Wir verfolgen die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Kulturbesitzes zurück bis zum Instinkt. Was hinter diesem liegt, geht uns zunächst nichts an.

Wir prüfen die Kultur weniger als Schöpfung des Menschen denn als selbständigen Organismus und den Menschen als Objekt der Kultur (vgl. Kap. 1 des Werkes: »Ursprung der Kultur« Bd. I, Gebrüder Bornträger 1898).

So fragen wir auch nach dem Aufwachsen der Weltanschauung, nach der Fortpflanzung und der Verzweigung derselben, nach den Gesetzen, die Ursprung, Aufwachsen, Fortpflanzung und Verzweigung, Umformung, Aussterben bedingen, nach den Unterschieden der Weltanschauungsformen, nach ihren Motiven, nach deren Beziehungen untereinander, nach der Schöpfungskraft und den Schöpfungen.

Als Material der Untersuchung liegt vor uns eine Reihe von Mythen und Berichten von Vorstellungen, dann ethnologische Gegenstände. Auch die Mythen repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine Sprache, die wertvoller ist, als die meisten Berichte über Vorstellungen es sind. Letztere können, werden und müssen sogar oft individueller Natur sein, erstere dagegen sind stets Volkseigentum und entsprechen der herrschenden oder einer vergangenen Volksvorstellung.

Wir haben also als Formen vor uns Mythen und plastische Gegenstände, die mit den Berichten von Vorstellungen verglichen den Text der Weltanschauung darstellen, welchen wir Ethnologen in die Sprache der Kultur unserer Zeit zu übersetzen haben.

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Ein Motiv als Zwitterwesen, das selbst Schöpfung und Schöpfer ist, kann nicht aus einer Form, sondern nur aus Formen erkannt werden. Ein Motiv der Weltanschauung ist ein geistiges Lebewesen, das seitens der Wildlinge nicht gefesselt wird. Es läßt sich meist weder ein Zeitpunkt noch ein Ort, weder seiner Entstehung noch seines Unterganges, Endes, feststellen. Es ist fast wie ein launisch Geistlein, das bald hier in dieser, bald dort in jener Gestalt erscheint, fast nie aber in der gleichen, wenn es auch seiner Art Hauptwesenszug ist, eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen zu bevorzugen. Daher also kann man ein Motiv nicht aus der Form, sondern nur aus Formen erkennen, woraus allein schon erhellt, daß es auch keine Scheidewände gibt zwischen dem Wirkungskreis, den Ausdrucksformen mehrerer, sagen wir zweier Motive. Man kann sagen, die Formen befruchten einander, und daher kann man oft an einer Form die Wirkungskraft zweier Motive, das Erbe aus zwei Familien erkennen.

Weiterhin kann man schließen: Es ist ein Fehler, sich dem Glauben hinzugeben, die Primitiven könnten ihre Motive in Worte fassen. Die instinktive, nicht die logische Schöpfungskraft (vgl. »Bildende Kunst«) ließ sie entstehen.

Ja, ich meine sogar, die Sprache sei ein vorzügliches Mittel der Kultur, aber für die Besprechung subtiler, primitiver Geistestätigkeit, wie überhaupt für die »hohen« Wissenschaften, ihrer natürlichen Plumpheit und fesselnden Eigenschaften halber ein schlechtes und oft klägliches Werkzeug. Was müssen wir nicht alles mit »Gott« bezeichnen! Und dann erst Fetisch, Zauber, Idol!

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Im Anfang fluteten die Gase durcheinander. Verdichtungen traten ein. Ein Windhauch konnte sie wieder auseinander treiben. Sie waren nicht umgrenzt. – Heute finden wir die Kristalle als Niederschlag gasiger oder flüssiger Stoffe.

Im Anfange schwebten die Meinungen und Vorstellungen durcheinander wie jene Gase. Sie hatten weder Formen, noch waren sie irgendwie fest, sondern leicht beweglich. – Jenen Kristallen gleichen die Mythen, Darstellungen und Vorstellungen der Naturvölker.

So war denn auch die Sprache nicht der direkte Träger jener embryonalen Schöpfungen in weit hinter uns liegenden Zeiten. Wie das Küchlein aus dem Ei schlüpfend schon auf das Getreidekorn am Boden zueilt, es aus der Menge der Erdkörperchen richtig herausfindet und aufpickt, obgleich ihm noch keinerlei Belehrung hat zuteil werden können, da es in seine Schalenklause verschlossen war, – so muß es auch dort ein Vererben instinktiver Anschauung und Betrachtungsweise geben, wo noch nicht Sprache und nicht Gedanken geschaffen und erlernt sind.

Das nun muß um so mehr interessieren, als dadurch schon das Vorhandensein einer Stufenfolge der Entwicklung zwischen den Menschen des Instinktes und denen des Denkens angedeutet ist.

Da nun jene Menschen nicht die Gabe oder Kenntnis wörtlicher Ausdrucksweise besitzen, so kann es für sie nur eine Art der Aeußerung, Verständigung usw. geben: die Darstellung im Bilde. Denn Bilder der Umgebung sind es, aus denen die Weltanschauung emporwächst: der Sterbende oder Tote, der formwechselnde Mond, der rotglühende Sonnenball am Horizonte und die weiße Sonnenscheibe in der Mittagshöhe usw.

Und so haben wir das merkwürdige Schauspiel vor uns, daß, obwohl sie recht wohl schon zu denken vermögen, die Naturvölker als Reste und Höhepunkte instinktiver Geistestätigkeit die Mythen, und das sind Bilder, schaffen. So kommt es, daß die Mythen von den Schöpfern und Trägern derselben – wenn sie nicht im Stadium überwiegender Gedankentätigkeit, einem höheren Stadium, das wir in den Griechen und Römern verkörpert sehen, sich befinden – nicht erklärt werden, daß sie nicht mit Kommentaren, nicht mit Gedankenstruktur versehen sind, sondern, weil vom Instinkte geboren, auch ohne logische Definition erhalten und fortgetragen werden.

Und dazu noch eine Anmerkung. Die Gelehrten werden oft und meist als besonders scharfe Denker gepriesen. Aber ich selber muß auf dieses ehrende Prädikat, insofern es eigene Schaffenstätigkeit und nicht die Verarbeitung der Leistungen anderer anbelangt, insofern verzichten, als es vielmehr ein feiner Tastsinn ist, der die Arbeit leitet; das, was wir Divinationsgabe nennen, ist es. Und diese ist zurück zu verfolgen bis zu jenen Naturvölkern, deren instinktive Schöpfungskraft ich eben besprach. Weiter unten mehr davon

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Das Motiv, aufgefaßt als eine verschiedene Formen hervorbringende oder in verschiedenen Formen sich äußernde Kraft, könnte nicht Reihen bilden, wenn nicht die Formen selber Fortpflanzungskraft besäßen. Sie befruchten sich, mischen sich, beeinflussen sich, und zwar die direkt von der instinktiven Schöpfungskraft hervorgebrachten und die von den Formen abgeleiteten Formen unter einander. Wohlgemerkt! solange das Motiv lebt, d. h. schafft und gebiert oder sicher verkörpert, wie man das nun will, solange stehen alle Formen unter der Kontrolle des Motives und sind daher in einen gewissen Rahmen gebannt, der nur durchbrochen wird, wenn Mischungen mit Formen verwandter Motive vor sich gehen.

Da nun einerseits instinktive Schöpfungskraft und Fortpflanzungskraft des Motives dasselbe, nur verschieden ausgedrückt ist, da neue Formen nur in der Berührung zweier verschiedener Formen gezeugt werden, so entrollt sich das Ganze als ein großartiger Stammbaum, und wir vermögen einzelne Teile desselben herauszunehmen, das sind Entwicklungsreihen.

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»... auf eine Eigenart der ethnologischen Verbreitung hinzuweisen, die man kennen muß, um vieles sonst unbegreiflich Scheinende zu verstehen. Es ist das sporadische, rasenhafte Auftreten ethnologischer Eigentümlichkeiten; – die einzelnen Sitten und Gebräuche, Waffen und Gerätschaften finden sich oft über ein weites Gebiet verbreitet; aber sie sind nicht überall anzutreffen, wie etwa die Rasenschicht einer Prärie, sondern nur an einzelnen Punkten, hier halb verkümmert, dort im Uebermaß entwickelt, so wie oft einzelne Baumgruppen über eine Wiesenlandschaft zerstreut sind. Dennoch wird der Ethnologe so wenig wie im letzteren Fall der Botaniker an einem ursprünglichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Gruppen zweifeln, wenn nur im übrigen die Aehnlichkeiten überzeugend sind und die Möglichkeit einer früheren Verbindung der getrennten Gebiete nicht allzu undenkbar erscheint« – sagt Schurtz.

Und wie die geographische Verbreitung Lücken aufzuweisen hat, so ist es auch mit den Bindegliedern einer Entwicklungsreihe. Und für die Weltanschauung ist noch daran zu erinnern, daß unsere Kenntnis (der Mythen usw.) eine sehr fragmentarische ist. Es existiert nachweisbar eine große Menge von Anschauungen, die wir mühsam rekonstruieren müssen.

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Wenn wir eine Anschauung beschreiben und verfolgen, so ist das gleichbedeutend dem Skizzieren eines Ornamentes der Naturvölker mittels des Zirkels oder des Lineales. Es stellt im großen und ganzen Vorlage und Wiedergabe die gleiche Figur dar. Aber jene Linien sind nicht gerade und ohne Genauigkeit gezeichnet. Auch mögen die Farben hüben und drüben schwarz und weiß sein. Aber wir zeichnen den Schmutz, der den Gegenstand bedeckt, nicht mit; wir ergänzen verlöschte Teile, korrigieren Zeichenfehler usw.

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Das Bedeutsame der Gedanken liegt, für die Weltanschauungslehre wenigstens, darin, daß es zwischen den denkbaren Extremen eine unendlich feine Stufenleiter oder Steigerung der Klarheit gibt. Der Wilde, der im Baume den Geist eines Ahnen verkörpert meint, kann das nicht in Worte fassen; vielmehr leugnet er den Glauben an das Fortbestehen der Seele, wenn er danach gefragt wird. – Auch im Kopfe des Gelehrten macht der Gedanke eine eminente Entwicklung durch zwischen dem Momente des »durch den Kopfschießens« und dem Vermögen, denselben auf das Papier zu bringen. Doch ist wohl zu bemerken, daß sich dies nur auf eine bestimmte Art der Geistestätigkeit, sagen wir »auf die Entdeckungen« bezieht, die der Denktätigkeit der Primitiven entspricht oder eine höhere Stufe derselben ist, neben der es ja noch manche andere Art gibt, z. B. die logische Ueberlegung der Mathematik usw.

Für uns Ethnologen ist die ungleiche Entwicklungshöhe in der Klarheit der Gedanken sehr wichtig. Die Wilden, nicht gewöhnt an das direkte Aussprechen, stets bis zu den Juden des alten Testaments und noch weiter in Beispielen redend, sind der abstrakten Ausdrucksweise nicht fähig, erschrecken und leugnen, wie schon bemerkt, oft ihre Urheberschaft, wenn man ihnen die eigene Anschauung in Worten vorlegt. – Die Beweglichkeit läßt eben die Fesselung in Gedanken noch nicht zu.

Es gibt manchen Beweis für den Durchschnitt des ersten ernsthaften Denkens in Dingen der Weltanschauung. Einer mag hier angeführt werden. Wir bemerken in primitiven Weltanschauungen eine merkwürdige Vielheit von Orten, in denen die Seele eines Verstorbenen haust, so im Vogel, der sie ins Jenseits trägt und von dort wieder zurückführt, im Baume, der auf dem Grabe gewachsen ist, in dem totemistischen Tiere, in dem alle Angehörigen einer Familie vermutet werden, in dem Schädel, der dem Grabe entnommen ist, dann in einem bestimmten Orte im Jenseits, an den der Tote durch das Totenfest befördert ist, in der Ahnenfigur usw. Jeder dieser Orte entspricht einem Motive. Nun gibt es einen Moment, der sehr spät erst eintritt, in dem die Ueberlegung, daß solche Vielfältigkeit der Seelenwohnstätten mit der Einheit der Seele nicht übereinstimmen könne, zu bemerken ist, welche dahin führt, daß die Seele teilbar sei und ein Teil im Vogel, einer im Baume, einer im Totem, einer im Schädel usw. weile.

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Es kommt nicht selten vor, daß eine Sitte, eine Mythe, ein Kultgegenstand usw. selbständig wird. Das heißt, das Bewußtsein seiner Entstehung und Zugehörigkeit – meist ist es mehr ein instinktives Gefühl als ein Bewußtsein – erstirbt, und wenn so der Lebensnerv erstorben, hört die Bewegungsfähigkeit auf, die Zeugungs- und Fortpflanzungskraft. Nun schwebt die Form, die nur noch Form und tote Masse ist, frei, gleichviel ob Mythe, ob Sitte, ob Gegenstand. Entweder sie wird in eine andere Gruppe von Erscheinungen eingereiht oder bleibt ein selbständiges Wesen, das infolge des konservativen Sinnes, der Scheu, etwas aufzugeben, von der Kultur weitergeschleppt wird – man mag es einem Meteorstein vergleichen, der regellos durch den Weltraum irrt, bis er in einen wohlorganisierten Machtkreis gerät, in dem er sich auflösend oder zerschellend aufgeht.

Den Prozeß des Absterbens jenes, die Form mit dem schöpferischen Motive verbindenden, instinktiven oder logischen Bewußtseins nenne ich Entfremdung.

Die interessanteste Folge der Entfremdung ist die folgende: Die instinktive Lebens- und Schöpfungskraft verleiht der Form das Leben. Sie stirbt ab. Das Volk fragt nach der Bedeutung derselben und gibt ihm nun einen logisch erdachten Sinn. So wird sie aus dem Kreise der beweglichen instinktiven Formen in den der festen und beständigen, der logisch erläuterten versetzt. Und hierher gehört ein großer Teil jener Erscheinungen sicherlich, die Schurtz in der Abhandlung: Die Speiseverbote erläutert hat. (Das Gesetz vom Wandel der Beweggründe!)

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Wenn in der Entwicklung eines Motives gewisse Formen demselben entfremdet werden, so werden diese oftmals in einen anderen Anschauungskreis eingeschaltet. Wohl alle Sonnengötter Afrikas, auch einige Ozeaniens, haben den Prozeß der Entfremdung durchgemacht. Zumal die Mythologie der Maori auf Neuseeland strotzt von Beispielen der Entfremdung und Einschaltung.

In den letzteren nämlich nehmen die Ahnen, die Stammväter in den Wandersagen, die Handlungen, Eigenschaften, Schicksale der Sonnengötter auf. Die Einschaltung ist erfolgt, weil ideelle Verwandtschaft (über die Formen der Verwandtschaft vgl. »Der westafrikanische Kulturkreis« T. IV bei Petermann oder »Masken und Geheimbünde« Kap. Va) auf Grund des Manismus die Sonnenmythen (deren Hauptpunkt ist: die Seele folgt der Sonne) und die Ahnensagen verbindet. Vor allem bemerkenswert ist aber, wie Maui, der der Sonne folgende Vogelgott, zum Sonnengott wird, wie in einzelnen Mythen Tangaroa an die Stelle Mauis getreten ist usw.

Der besonderen Beachtung kann diese Erscheinung auch den Linguisten empfohlen werden (vgl. Miniatur, Pollir usw.), aber auch den Forschern der Ornamentik der Naturvölker.

Andere Wandlungsprozesse gehen z. B. auf Grund der Verpflanzung einer Kultur in andere Regionen vor sich. Die nordwestamerikanische Weltanschauung hat treffliche Beispiele für die materiellen Wandlungsprozesse gezeitigt, da hier Völker eines äquatorialen Klimas ihre Motive einem Volke der gemäßigten Zone überliefert haben. Es ist nur ein Beispiel geboten.

Ein Motiv lautet: Die Seele folgt der Sonne auf der Sonnenbahn. Wie in der »Weltanschauung der Naturvölker« (Kap. 9) entwickelt ist, repräsentiert ein Strick, der bei den Nordwestamerikanern zum Tuche oder Schale wird, die Sonnenbahn. Die Nordwestamerikaner hüllen nun die Aschenreste in ein Tuch, »damit die Seele im Jenseits nicht friere«, während ursprünglich die Seele an dem Strick zur Belebung der körperlichen Ueberreste herabsteigen soll. – Im Winter ist der Tlinkit der Kälte ausgesetzt. So tritt dieses Frieren als wichtiger Faktor in die Anschauungen über den Seelenzustand ein. Die Beziehung der Sonne (als der Wärme Spendenden) zum Frieren liegt nahe. Die Sonnenbahn als Strick wird zum wärmenden Schal, und so hat das lediglich materielle Wärmebedürfnis einen eigenen Wandlungsprozeß hervorgerufen.

Solch materielle Wandlungsprozesse sind durchaus nicht selten, besonders häufig aber, wenn Anschauungen, die durch die natürliche Eigenart eines Landes bedingt sind, auf einen Boden gepflanzt werden, den andere Eigenschaften beherrschen. In den äquatorialen Gegenden ist die Sonne die grausame Vernichterin, in den nordischen dagegen die liebevolle Wärmespenderin. Und das beeinflußt allein schon die Entwicklung der solaren Weltanschauung sehr tiefgehend.

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Im Anfange, d. h. bei den Primitivisten, in der ersten Epoche der Weltanschauungsgeschichte, ist es noch nicht möglich, bestimmte Entwicklungsreihen herauszulösen. Noch ist das Ganze ein flüssiges Gemenge. Einzelheiten erscheinen und verschwinden. Es herrscht keine Uebereinstimmung. Es gibt eine individuelle, aber keine Volksanschauung. Noch beeinflussen sich nicht feststehende Formen; die Formen selbst pflanzen sich noch nicht fort.

Erst wenn die Formen sich selbst fortpflanzen, wenn die Entfremdung eintritt und diese und jene flatterhaften Gebilde in bestimmte Entwicklungsreihen eingeschaltet werden, ergeben sich bestimmte und klar hervortretende Formen, die Entwicklungsreihen, die leitenden Motive. Diese können nun auch als die herrschenden bezeichnet werden, denn sie treten so gewaltmäßig auf, daß die schöpferischen Kräfte einerseits übermächtig in ihrem Dienste schaffen und daß andererseits viele entfremdete Formen in das Interessengebiet des herrschenden Motives eingeschaltet werden.

Das Gesetz von den herrschenden und dienenden Motiven ist das wichtigste der Weltanschauungsgeschichte, ja das einzige, das uns dieselbe verständlich macht.

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Während also der Anfang ein homogenes Durcheinanderfluten vorstellt, schafft in der kommenden Zeit der Prozeß der Entfremdung und die Entstehung der herrschenden Motive sowie in engerem Zusammenhange stehender Entwicklungsreihen Trennung.

In solcher Uebergangszeit lassen sich gleichsam bestimmte Farben erkennen, aber sie fließen ineinander über. Rechts und links mag man ein klares Blau und ein klares Rot erkennen. Beide verschwimmen aber in der Mitte in einer Skala aller Nüancen zwischen rot, violett, blau.

Die mittlere ist das Uebergangsgebiet. Im Verlaufe der weiteren Entwicklung konzentrieren sich hüben und drüben die roten und blauen Farbstoffe mehr und mehr. Es mögen sich hie und da zwischen der einen Farbe im Bereiche der anderen und an deren Rand noch violette Linien finden. Die Uebergangsstreifen aber werden schmaler und schmaler, und die Farbe wird klarer und klarer.

Das Endstadium derartiger Entwicklung ist ein abgegrenzter Gegensatz von rot und blau, und die letzten Vorgänge stellen die Bestrebungen dar, die im anderen Farbgebiet lagernden Inseln zu sich zu ziehen (vgl. auch Ratzel: »Ueber allgemeine Eigenschaften der geographischen Grenzen«).

Als Beispiel diene jenes eigenartige Bild von der Vorstellung der Seelenverkörperung, welches die Seele im Baume, im Vogel, im Totem usw. gleichzeitig darstellt. Hier mischen sich die Anschauungen noch vollkommen durcheinander. Da aber, wo in der schematischen Darstellung des Klärungsprozesses das Blau dem Rot ohne Uebergang entgegengesetzt ist, da gehört jene Anschauung der Malaien und der alten Aegypter hin, die die Seele fein säuberlich teilt und jedwedem Teile seine Behausungsstelle zuweist.

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Es ergibt sich von dem in den vorigen Abschnitten Dargelegten eine Folge von drei Epochen in der Weltanschauung der Naturvölker.

Die erste Epoche ist die der völligen Unklarheit, die der Primitivsten. Reste derselben treffen wir noch in der Mythologie, d. h. den Erzählungen der Buschmänner. Bei diesen schwimmt noch alles regellos durcheinander. (Die Buschmänner können schon nicht mehr als Primitivste bezeichnet werden, aber ihre Weltanschauung zeigt uns noch das Ausklingen der Wesenszüge der primitivsten Weltanschauung an.)

In der zweiten Epoche treten die Entwicklungsreihen nebeneinander, lösen sich immer klarer aus dem Chaos der ursprünglich instinktiven Vorstellungs- und Anschauungswelt heraus. Das ist etwa die Weltanschauung der afrikanischen Negervölker, wenigstens der breiten Schicht und des Durchschnitts derselben.

In der dritten Epoche tritt nun an Stelle einer ungeordneten Summe von Mythen ein einzelnes Motiv derart despotisch auf, daß es die anderen entweder absorbiert, sie zwingt, sich zu assimilieren, oder sie erstickt. – Dieses Ziel eines einzelnen herrschenden Motivs ist allerdings genau genommen ein unerreichtes Ideal. Dies Ziel bewirkt einen beständigen Kampf zwischen den herrschenden und dienenden Motiven. Es ist nur eine Frage der Stärke und Macht des herrschenden Motivs, ob die dienenden im stillen vegetieren, ihr Haupt erheben oder so lange verschwinden, bis eine Zeit kommt, in der das herrschende, despotische Motiv so altersschwach geworden ist, daß die Triebkraft der Instinkte und Gedanken wieder frei und selbständig auch im Widerspruch zum Hauptmotive schafft.

Im allgemeinen kann man aber sagen, daß schon in der polynesischen und malajischen Kulturepoche eine Zeit der dritten Art gegeben ist; denn an allen Motiven, wo der Zusammenbruch eingetreten ist, läßt es sich noch beweisen, daß sie dem herrschenden solaren Motive gedient haben. Es ist noch keine klar ausgesprochene Zeit dieser Art, aber in ihr können wir die Eigenart einer Weltanschauung der dritten Epoche erkennen.

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Mit der Entwicklung der Klärung des Gedankenlebens geht Hand in Hand die Entwicklung der Leitmotive. Je despotischer sie auftreten, desto kleiner wird die Zahl und die Bedeutung der dienenden und abgeleiteten Motive.

Wenn nun aus irgend einem Grunde eine Weltanschauung zusammenbricht, so ist das gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch, dem Verkümmern, Degenerieren, Auflösen der Leitmotive. Die Vorgänge, die dann folgen oder Hand in Hand damit gehen, sind sehr eigenartig. Die abgeleiteten Motive wachsen; sie, die bis dahin unselbständig waren, werden frei und selbständig; aber es ist die Selbständigkeit der freigewordenen Sklaven. Sie werden nie etwas Großes, Einheitliches darstellen, allein schon deswegen, weil ihrer so viele sind und keine Subordination, keine Organisation unter ihnen ist.

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Die Fragmente einer zusammengebrochenen Weltanschauung sind nicht etwa tote Bruchstücke wie die Trümmer eines zerfallenen Schlosses, sondern:

In alten Waldungen trifft man hier und da uralte Baumriesen. Während unter den jüngeren, kleineren und schwächeren Bäumen üppige Jugend sproßt, lassen diese solche nicht aufkommen. Sie saugen selbst alle Kraft aus dem Boden. Nun stirbt solch alter Recke ab. Da steigt in kurzer Zeit mächtig ein neuer Wald von Sprößlingen aus dem Boden, auf dem toten Leibe des alten Riesen empor; gleichsam ein Wettwachsen beginnt. Aber keiner der jungen schnell wachsenden Heißsporne vermag die anderen zu übereilen. Ihr Wachstum ist bald beendet; denn einer hemmt den andern, und von unten dringt dazu noch immer neues Leben empor, das auch gespeist sein will. Da unten ringt sich aber ganz langsam, viel langsamer als die anderen, ein kleines Pflänzlein hindurch, eines vom Stamme des alten Riesen, auf dessen verwitternden Resten das tolle Treiben herrscht. Und erst, wenn von jenen Hitzigen schon mehrere Generationen erstorben sind, dann erreicht es ihre Höhe. Sie können den einen nicht ersticken, er wächst unbekümmert und nach vielen, vielen Generationen nimmt er die Stelle des alten Riesen ein; das Unterholz nimmt ab; es wird zum dienenden Gesinde, das nur noch ein kümmerliches Dasein fristet und mit stiller Wehmut der Zeit der Anarchie denken mag. Erst wenn der neue Riese wieder zusammenbricht, beginnt ihr Sprossen aufs neue.

Das ist ein Bild aus der Entwicklungsgeschichte der Weltanschauung. – Die Zeit eines herrschenden Motives repräsentiert die jugendkräftige Weltanschauung der Polynesier. Die westafrikanische dagegen ist das beste Kapitel für die Zeit des Zusammenbruchs; an ihr mag man die Fragmente einer Weltanschauung studieren.

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Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe von Prozessen der Umgestaltung im Innern der Weltanschauung.

Einer derselben kann so erklärt werden, daß ein Teil, zumal die abgeleiteten Motive zu Boden sinken, während ein anderer in die Höhe steigt. Der letztere wird durch die hohen zusammenhängenden Mythen gebildet und stellt den Kreis der hohen Anschauungen dar. Der andere birgt die niederen Anschauungen, die zumeist zusammenhangslos erscheinen und unter dem hier sehr weit gefaßten Begriffe: »Zaubermittel und Aberglauben« zusammengefaßt werden können. – »Aberglauben« kann im wissenschaftlichen Sinne nur heißen: vereinzelte, nicht mehr mit den Mutterformen in Zusammenhang und zumeist auch außerhalb des Bereiches der herrschenden Motive stehende Anschauungen.

Recht klar kann man den Unterschied dieser beiden Schichten in der polynesischen Weltanschauung erkennen. Man würde es aber noch besser können, wenn wir über die niederen Anschauungen besser unterrichtet wären. Viel besser ausgebildet tritt aber die Zweiteilung einer hohen und einer niederen Schicht in den entwickelteren Formen der Religionen hervor. Unsere Traumbücher, Wahrsagereien (Bleigießen, Aus-der-Hand-Lesen, Pantoffelwerfen usw.), Amulette usw. sind Marksteine des Kreises der niederen, das Neue Testament dagegen der des Kreises der hohen Anschauungen in der christlichen Religion. Es ist dabei sehr wohl denkbar, daß, wenn überhaupt eine »wissenschaftliche« Weltanschauung möglich und die der Zukunft ist, daß dann die letzten Reste der Religionen sich noch in einem Kreise der niederen Anschauungen erhalten.

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Es gibt nicht zwei Völker mit völlig gleicher Weltanschauung auf der Erde – ganz abgesehen von der Verschiedenartigkeit des Gehaltes an Motiven usw. Es ist auch auf den Charakter zu achten, der durch mehrere Merkmale bedingt ist, z. B. Alter des Volkes, Charakter des Volkes, Erziehung des Volkes.

Man denke an die Wucht eines dem Völkerschoße mit jugendlicher Kraft entspringenden Volkes, das in die Welt hinaus über Asche, Schutt, Leichen, pochend auf die Kraft der Jugend trotz Gott und dem Teufel dahinstürmt – und im Gegensatz dazu an die Bedächtigkeit eines infolge langen Lebens und Regierens weisen und erfahrenen, gleich dem Greise sich dahinschleppenden und den Weg hin zur Gruft mit Bedacht überschauenden Volkes.

Weiterhin kommen die von den Eltern und Voreltern ererbten Eigenschaften in Betracht, wie Herrschsucht, Sklavensinn, Spott, Sanftmut, Verschlossenheit, Leichtfertigkeit, Roheit, Grazie, Größe, Sinnlichkeit.

Und drittens erinnere ich an die Geschichte und die geographische Position eines Volkes als die wichtigsten erziehenden Merkmale. Denn eine Weltanschauung kann ebensowohl vom geknechteten, seufzenden Volke wie vom siegreichen und jubelnden geboren und in die Welt getragen werden.

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In eine Abhandlung wie die vorliegende gehört eine Abgrenzung dessen, was man als Weltanschauung, Wissenschaft und Religion zu bezeichnen habe, wenn auch die Entwicklung nach anderen Gesichtspunkten als den mit den hier leitenden in Verbindung zu bringen ist, weshalb ja auch in dem Werke »Die Weltanschauung usw.« dieser Punkt flüchtig übergangen ist (vgl. dagegen »Ursprung der Kultur« Bd. I Kap. 12 S. 311 ff.).

Wir können in der Gesamtheit der primitiven Weltanschauungen zwei Strömungen der Entwicklung verfolgen. Die eine quillt aus dem ungebundenen, ungeregelten, individuellen Anschauen der Primitivsten heraus, »die noch eins mit der Natur sind«, die noch jedes herrschenden Motives entbehren, die summa summarum in naiver Weise die Natur betrachten als eine einheitliche, an der kein Ding höheren Wert besitzt als ein anderes. Die Erweiterung des Gesichtskreises und des Interesses führt durch den Animalismus, die lunare zur solaren Weltanschauung. Daneben her – man vergesse jedoch nicht, daß beide Strömungen einander beständig beeinflussen – geht die Entwicklung des Manismus, der die Frage zumal berücksichtigt, was aus dem Menschen nach dem Tode werde usw., und der je nach dem derzeitigen Stande der Naturanschauung (animalistische, lunare, solare usw.) modifiziert wird.

Aus der Erweiterung der Naturanschauung fließt zuletzt die Wissenschaft heraus (Astrologie und Astronomie, Mathematik, kosmologische Philosophenschule usw.). Der Manismus jedoch führt hinüber zur Religion, die beständig eine Ergänzung der Wissenschaft ist (daher das Wissen in der Wissenschaft und »der« Glauben in der Religion) und von den Gesetzen ausgeht, nach denen die Daseinsform im Jenseits vor dem Werden und nach dem Vergehen, also nach dem Tode, bedingt wird. In welcher Beziehung zu diesen Gesetzen, sowohl der Wissenschaft als vor allem der Religion, die ethischen Forderungen stehen, zu erörtern, gehört nicht hierher.

Demnach können wir von Religion in allen jenen Kultur- und Weltanschauungsformen nicht sprechen, in denen die Trennung von Wissenschaft und Religion noch nicht vor sich gegangen ist.

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Wenn schon der Satz: »Dieses Naturvolk hat keine Religion« für uns nicht existiert, so muß doch in jedem ruhig Ueberlegenden, auch der Wissenschaft ferner Stehenden der Satz: »Dieses Naturvolk glaubt an nichts« Bedenken erregen.

Das heißt entweder, das Volk habe noch keine Anschauung, keine Vorstellung, oder es hat eine gehabt, negiert aber dieselbe. Es kann also nur bedeuten, daß das Volk abergläubisch sei, und wo Aberglaube ist (siehe oben), da muß auch Glauben sein. Jedoch kann von »Glauben« überhaupt nicht die Rede sein.


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