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Aus der »Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft«, Bd. XIV, 1899.]
(1898.)
Moralbegriffe und Moralverständnis. – Der Seligkeitsglaube; entscheidend: Lebensstellung, Sitte, Todesart, Begräbnis, Totenopfer und Totenfest, Lebenswandel; Mehrere Glauben nebeneinander. – Von Gut und Böse. – Anwendung des Seligkeitsglaubens.
Wir wollen die Kolonien nicht nur ihrer Naturreichtümer wegen, wir wollen auch Arbeitskräfte aus den sie bewohnenden Menschenmassen gewinnen, wollen, – und es ist nicht zu vergessen! – müssen auch diese Menschen erziehen zu kräftigen Mitarbeitern am Kulturwerke, das wohl unserem Wohlergehen zunächst gewidmet ist, das aber nach den Anschauungen unseres veredelten Zeitalters nicht durchgeführt werden kann ohne Erfüllung der Verpflichtungen gegen an Kulturhöhe niedriger stehende Völker. Dem guten Willen entspringt es auf der einen Seite, wenn wir Missionare hinaussenden, die den Naturvölkern unsere Religion bringen sollen, und dem Zwange folgen wir, wenn wir von den Bewohnern unserer Kolonien eine nach unseren Rechts- und Moralanschauungen abgestimmte Lebensweise verlangen. Und das rasende Tempo unserer Kulturausdehnung verlangt es, daß diese niedrigen Menschengeister rasch emporschnellen aus dem Bereiche einer primitiven Anschauungsweise zu unserem gesitteten Zustande. Es ist eine Riesenforderung, die wir an sie stellen. Vielfach und allerorts drängt sich die Frage auf: Werden sie das können? Aber mit gleichem Rechte können wir auch fragen: Ja, können wir denn dies Erziehungswerk leisten, und wie stellen wir es am besten an?
Täuschen wir uns nicht über die Schwierigkeiten hinweg, die diesem Werke entgegenstehen und unter denen die Schwierigkeit eines gegenseitigen Verständnisses nicht die geringste ist. Es handelt sich nicht nur um ein sprachliches einfaches Uebersetzen, wie so häufig angenommen wird, denn gerade die einfachsten Begriffe sind nicht identisch und übersetzbar. Man hat also in der Verdolmetschung die einfachen Bezeichnungen – und ich denke dabei noch gar nicht an so komplizierte Begriffe wie etwa »Gott« – in der Weise durchzuführen, daß man definiert, klarlegt, eingehend demonstriert. Aber das kann der Europäer erst, wenn er sich über die Begriffsart der vor ihm stehenden Eingeborenen im reinen ist, wenn er also den Unterschied zwischen den verwandten Begriffen unserer und jener Auffassung kennt. Und hier liegt der Haken. Wie sollen wir hinter ihre Begriffe und Anschauungen kommen? Ach, wir wissen so wenig davon, und es ist so arg schwer, das Klarersehen! Man hat es versucht, linguistisch zu analysieren, und wehe! was für schlimme Sachen sind da herangezüchtet! Immer und immer wieder gehen wir von unserer Anschauung aus und haben ihre Begriffe mit unseren Begriffselementen zu erläutern versucht.
Das praktische Interesse mag zuvörderst erörtert werden, wir wollen aber das wissenschaftliche deshalb nicht vergessen, das heute reger denn je der Frage gewidmet ist, wie die embryonalen Anfänge unserer hochentwickelten Kultur und somit auch die wichtigen Moralbegriffe aussehen.
Im Laufe jener Jahre, in denen ich die »Weltanschauung der Naturvölker« (Weimar 1898) studiert habe, ist mir die Differenz zwischen den hohen und den niederen Anschauungen und Begriffen wohl deutlicher geworden als vielen anderen, und nur mit Hilfe meiner mythologischen Uebersetzungsweise ist mir überhaupt einige Klarheit geworden. Und während ich das Wesen der verschiedenen Gottesarten untersuchte, ward mir auch mancherlei über das Wesen der verschiedenen Moralanschauungen verständlich, das ich später weiter verfolgte und heute darlegen möchte. Es ist der einfache Begriff von Gut und Böse, dessen Formen ich an der Hand mythologischer Vorstellungen erörtern möchte. Wenn ich mich dabei darauf beschränke, aus den Seligkeitsvorstellungen die Schlüsse zu ziehen, so mag man das mit Recht als einigermaßen einseitig bezeichnen; ich hoffe damit aber wenigstens einiges wichtige Material zur Entwicklungsgeschichte der Moral beizutragen, wobei von folgenden Gesichtspunkten ausgegangen wird.
Die primitive Anschauung projiziert alle Verhältnisse dieses Lebens ins Jenseits, wobei genau die gleichen Gesetze für die Art des Seelenzustandes wie für die des Erdenlebens gelten. Demnach müssen die Moralbegriffe nicht nur die gleichen sein, sondern es ist auch anzunehmen, daß dort, wo die Gebundenheit durch die Materie aufhört und somit die Körperlosen schärfer an Einsicht und Erkenntnis sind, die Strafe für alle Vergehungen alsbald eintrete. Es sind nämlich zwei Quellen zu berücksichtigen, aus denen für den Menschen, die Menschheit oder den sozialen Organismus stets die Bestrebung fließt und genährt wird, im Jenseits eine verschärfte Macht und Urteilskraft aufzusuchen. Einerseits ist es das ängstliche Bedürfnis, in den unbekannten Zuständen und Kräften der körperlosen Welt auch eine regelnde und gesetzmäßig funktionierende zu finden – also Angst vor Ungewißheit und dem Unwissen und Gespensterfurcht –, dann ist es die Macht des Ganga, Priesters oder wie man diese Leute, die den Verkehr zwischen Gott, den Verstorbenen und den Menschen regeln und aufrecht erhalten, nennen will, die sich auf die Angst der Gemeinde vor den richtenden Mächten des Jenseits stützt, weshalb von den Religionslehrern und Ganga diese Furcht durch weiteren Ausbau des Verpflichtungssystems stets in Flor erhalten wird.
Da nun zum Ausbau der richtenden Mächte und entscheidenden Gesetze des Jenseits das Material aus dem Anschauungsschatz des Diesseits gewählt wird, so treten in den Seligkeitsbestimmungen der Naturvölker die gleichen Begriffe und Verhältnisse hervor, die das bürgerliche Leben kennzeichnen. Demnach also vermag man aus den Seligkeitsbestimmungen auf den Moralbegriff zu schließen.
Ehe ich dem Stoff selber näher trete, möchte ich nun zeigen, wie schwierig es für den Forscher ist, sich der eigenen Anschauung zu entblößen. Wir finden nämlich in der Literatur – zumal des sehr ungenauen und subjektiven Mittelalters – eine Unmasse von Angaben über die »Teufel« der Naturvölker, in deren »Hölle« die Seelen der »Bösen« kommen. Ich will mich nicht mit der Wiedergabe dieser Mitteilungen aufhalten, da sie von vornherein als mißverstandene Auffassung zurückgewiesen werden müssen, deren Kontrolle erst möglich ist, wenn die klaren Züge der wirklichen Seligkeitsvorstellung erkannt sind. Wohl aber möchte ich jenen bedachten Männern das Wort geben, die nach einem europäischen Moralbegriffe bei den Naturvölkern gesucht und ihn nicht gefunden haben. Was diese sagen, ist von vornherein ein wichtiger Beitrag zu der uns beschäftigenden Frage.
Von den Hottentotten sagte der alte Peter Kolb: »So sehr ich mich bemüht habe, unter diesen Völkern einen zu finden, der glaubte, die frommen Leute kämen nach ihrem Tode in ein glückliches Land und die Bösen an einen Ort der Strafe und Qual, so habe ich doch keinen gefunden.« – Den Begriff eines vorgeschriebenen Gesetzes für das Guttun vermißt New bei den Wanika. Die Tahitier glauben nach Cook nicht, daß die auf der Erde begangenen Untaten nach dem Tode auf die Dauer bestraft werden, da die Gottheit die Seelen der Guten wie der Bösen unterschiedslos verschlingt. Kubary konnte eine Ahnung von der Wiedervergeltung nach dem Tode weder bei den Palauinsulanern noch sonst bei einem Südseevolk finden, und nach Thomson fehlt die Strafe nach dem Tode den Neuseeländern. Ellis stellt fest, daß den Polynesiern zufolge nur der das Mißbehagen der Götter erweckte, der die Zeremonien oder Spenden irgendwie vernachlässigte, daß der Zustand im Jenseits vollkommen von dem im Diesseits abhänge, daß er aber niemals eine Spur von dem Glauben eines unterschiedlichen Glückes der Liebenswürdigen, Freigebigen, Friedfertigen und der Grausamen, Geizigen, Streitsüchtigen vorgefunden habe Peter Kolb: »Beschreibung des Vorgebirges der guten Hoffnung und der Hottentotten« 1745 S. 106. Charles New: »Life, Wanderings and Labours in Eastern Africa« 1873 S. 104. James Cook: »Troisième Voyage. Voyage à l'Ocean Pacifique« 1785 Bd. II S. 303. Kubary in Bastians: »Allerlei aus Volks- und Menschenkunde« Bd. I S. 7. Arthur Thomson: »New Zealand; The Story of New Zealand: Past and Present; Savage and Civilized« 1859 Bd. I S. 113. William Ellis: »Polynesian Researches During a Residence of nearly six years in the South sea Islands« 1830 Bd. I S. 517/8..
Beachten wir vor allem, was Steinen von der Moralanschauung der Stämme des inneren Brasilien sagt: »Es gibt ein Schlechtsein oder Gutsein nur in dem groben Sinne, daß man anderen Unangenehmes oder Angenehmes zufügt, aber die göttliche Erkenntnis und das ideale, weder durch Aussicht auf Lohn noch durch Furcht vor Strafe geleitete Wollen fehlt ganz und gar.« Carl von den Steinen: »Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens« S. 351.
Dieser Befund scharfsinniger und objektiv urteilender Menschen lehrt uns, was wir schon nach einem flüchtigen Blick durch eine Entwicklungsgeschichte der Ethik annehmen müssen: Wenn schon unser Begriff von Gut und Böse in einem beständigen Umbilden begriffen ist, dann wird das Jenseits oder Diesseits von Gut und Böse uns Formen des Moralbegriffes zeigen, die mit den unseren nur insofern etwas gemeinsam haben, als sie den Boden darstellen, in dem die Moralanschauung, deren Blüte unser Gut und Böse ist, einst Wurzel schlug.
Betrachten wir nunmehr die Formen des primitiven Seligkeitsglaubens.
1. Gruppe.
(Lebensstellung entscheidend.)
In Aschanti sollen der König, die Cabocirs und die oberen Klassen nach dem Tode bei der oberen Gottheit wohnen in ewig erneutem Genuß des Prunkes und der Ueppigkeit, die sie auf Erden hatten. Mit diesem Gedanken töten sie eine gewisse Anzahl von beiderlei Geschlecht bei der Leichenfeier, die den Verstorbenen begleiten sollen, seinen Rang zu verkündigen und Diener seines Vergnügens zu werden. Die Geister der unteren Klassen sollen dagegen in den Tempeln wohnen in einem Zustande träger Erschlaffung. – Im Kutomen, dem Aufenthaltsort der Toten in Dahome, bleibt der König ein König, der Sklave ein Sklave. Während die Seele der Gemeinen am Stanleypol verkommt, wird der König im Jenseits wie im Diesseits leben, und an der Loangoküste werden nur die Seelen derer vom Königsgeschlecht wiedergeboren, während die der Gemeinen mit dem Körper in die Erde kommen Edward Bovdich: »Mission der Englischafrikanischen Kompagnie von Kap Coast Castle nach Aschanti« 1820 S. 358 (vergl. auch Herm. Soyaux: »Aus Westafrika« 1874 Bd. II S. 125). Richard Burton: »A Mission to Gelele King of Dahome« 1864 Bd. II S. 157. A. Bastian: »Allerlei aus Volks- und Menschenkunde« Bd. II S. XLIX. J. A. Skerchley: »Dahomey as it is. Being a narrative of 8 Months Residence in that Country« S. 461. Liebrechts im: »B. d. I. Soc. B. de Géogr.« 1889 S. 534. A. Bastian: »Ein Besuch in San Salvador« S. 258/9. Dapper: »Umständliche und eigentliche Beschreibung von Afrika« 1670 Bd. I S. 531. A. Bastian: »Die Deutsche Expedition an der Loangoküste« Bd. I S. 196. »Allgemeine Historien der Reisen zu Wasser und zu Lande« 1848 Bd. III S. 682..
In Melanesien geht die Seele eines hervorragenden Mannes in einen Zustand über, in dem sich die Macht, die der Häuptling im Leben besaß, noch vermehrt und erweitert. Die Seelen der gemeinen Fidschier gehen meist zugrunde, da sie von der Gottheit gefressen werden. Die Seelen der Häuptlinge wohnen dagegen in Mbulu, wohin auch die Seelen der Gerätschaften flüchten. Von dort können dann die Ahnen abgeschiedener Vornehmer zur Erde zurückkehren, um die Nachkommen zu Heldentaten zu ermutigen. Nach tonganischem Glauben kommen die Seelen der Vornehmen nach Bolotu, die Seelen des niederen Standes dagegen werden entweder am Grabe von einem Vogel verschlungen, oder auch sie bleiben auf Erden als Seelen von Schlangen und Ameisen, oder sie vergehen endlich, ohne Bewußtsein zu bewahren. Auf Samoa werden die Seelen der Vornehmen und der Völker in zwei verschiedenen Bassins untergebracht. Aehnliche Anschauung herrschte auf Tahiti, wo man die Vornehmen auch als »Gerät« nach Fatama, dem Palaste der Götter, brachte. Auf Neuseeland nahm man an, daß ein Sklave im Diesseits auch ein Sklave im Jenseits bleiben müsse. Nur an die Geister der Häuptlinge richteten die Priester auf den Marianen Gebete. Codrington: »The Melanesians; Studies in their Anthropology and Folk-Lore« 1891 S. 254. A. Bastian: »Inselgruppen in Ozeanien« S. 30, 35, 64. J. Cook: »Troisième Voyage« a. a. O. Bd. III S. 85. Turner: »Nineteen Years in Polynesia; Missionary Life, Travels und Researches« 1861 S. 276. Hawkesworth: »Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer von Comm. Byron, Capt. Wallis, Charteret und Capt. Cook« 1773-1774 Bd. II S. 237. Forster: »Observations faites pendant le second voyage de M. Cook« 1778 S. 454. Tyerman und Bennet: »Journal of Voyages and Travels« 1831 Bd. I S. 531. Thomson: »New Zealand« a. a. O. Bd. I S. 112. Rienzi: »Weltgemälde-Galerie; Ozeanien« Bd. II. S. 11.
Schön ist der Glaube, den uns Gottfried aus Virginia kennen lehrt: Die Vornehmen und Priester kommen nach dem Tode »uber die Berge an ein ort bey dem Undergang der Sonnen / da werden ihnen ihre Haeupter mit öl / Peronen und Feddern gezieret / sie haben auch allda Kräntze / Beyhel / Ertz und Taback / und da bringen sie mit allen ihren Vorfahren in alle Ewigkeit ihr Leben mit nichts anders zu / als mit tantzen / singen / springen und Jubiliren. Was aber das gemeine Volck anlangt / halten sie davor / es vergehe und werde durch den Todt gar zu nichts.« Gottfried: »Historia Antipodium oder Newe Welt« 1631 S. 185.
So einfach diese Form des Seligkeitsglaubens drein schaut, so kann sie sich doch nur in einem entwickelteren Staatsorganismus herausgebildet haben, in welchem der Unterschied der Stände eine erbliche Gestalt angenommen hat. Immerhin schließt sich die Art der Vorstellung direkt an das primitive Anschauungswesen insofern an, als wir hier die direkte Uebertragung der Verhältnisse des Diesseits in das Jenseits gewahr werden.
2. Gruppe.
(Sitte entscheidend.)
Riedel gibt an, auf Babar, einer der kleinen Sunda-Inseln, hänge die Ausweitung der Ohrlöcher mit der Vorstellung zusammen, wonach der Zutritt in das Totenland nur denen gestattet wird, die diese Verschönerung des Ohrläppchens in gehörigem Maße vorzuzeigen vermögen. Einige Stämme der Neuholländer (Bewohner des Festlandes Australien) behaupten, daß diejenigen, die nicht die Nasenscheidewand durchbohrt hätten und durch die Oeffnung einen Knochen, ein Schilfrohr oder etwas Aehnliches trügen, im Jenseits gestraft würden. Bei den Motu, einem Stamme des englischen Neuguinea, gibt es keine Strafe nach dem Tode. Nur die Seelen solcher, deren Nase nicht durchbohrt ist, kommen an einen bösen Ort, wo es wenig Nahrung und keine Betelnuß gibt. Nach dem Glauben derer von Maevo (Neu-Hebriden) dürfen alle, deren Ohren nicht durchbohrt sind, kein Wasser trinken, die nicht tätowiert sind, nicht gute Speisen genießen. Nach dem Tode beginnt für die Seelen der Bewohner Floridas eine Wanderschaft, in deren Verlauf sie am Ufer der Seeleninsel einen gewissen Tindalo (Geist) antreffen. Dieser prüft, ob die Nase durchbohrt ist, in welchem Falle sie leicht in das Reich der Glücklichen gelangen, wogegen im Nichtfalle eine Zeit der Pein und Mühsal anhebt. Schlimm geht es auf Mota (Banks-Inseln) denen, deren Ohren nicht von Paged durchbohrt gefunden werden, und auf den Gilbert-Inseln gelangen nur die Tätowierten in das Land der Seligen. Im Seelen-Lande der Fidschier werden alle, deren Ohren nicht durchbohrt wurden, von allen verhöhnt. Frauen, die nicht tätowiert wurden, werden von den Seelen der eigenen Geschlechter niedergeschlagen und zum Brote der Götter. Und nicht besser geht es den Männern, die keinen Feind zu Boden streckten. Jacobsen: »Reise in die Inselwelt des Bandameeres« 1896 S. 160 nach Riedel. Brough Smyth: »The Aborigines of Victoria« 1875 Bd. I S. 274. James Chalmers: »Pioneering in New Guinea« 1887 S. 168. Codrington a. a. O. S. 280, 256, 265. Otto Finsch: »Ethnologische Erfahrungen und Belegstücke aus der Südsee« S. 316. Thomas Williams: »Fiji and the Fijans« 1858 Bd. I S. 247.
Selig sind die, deren Ohren durchbohrt sind; selig sind die, deren Nasen durchbohrt sind; selig sind die Tätowierten! Eine recht liebliche Anschauung, die nicht genug gewürdigt werden kann. Ich habe mir lange Zeit den Kopf zerbrochen im Grübeln nach einer Erklärung für diese eigenartigen Seligpreisungen. Anfangs mag man dazu neigen, irgend ein besonderes mythologisches Motiv für diese Anschauung verantwortlich zu machen. Aber welches? Das dürfte kaum die richtige Erklärung sein.
Vielmehr möchte ich dafür eintreten, das Stammesabzeichen in seiner ganzen Gewalt für die Anschauung verantwortlich zu machen. Es ist ja selbstverständlich, daß in das Seelenland eines primitiven Volkes nur die Mitglieder des eigenen Stammes gelangen, daß demnach diejenigen, die nicht die Stammes»marke« tragen, also nicht die Tätowierung, die Nasen- oder Ohren-Durchbohrung, die die Volkszugehörigkeit belegen, besitzen, – ich sage, daß diese ungenügend Gekennzeichneten nicht in das Seelenland der Stammesmitglieder aufgenommen werden.
Demnach sorgt der soziale Organismus nur für die Seligkeit der eigenen Angehörigen – eine Anschauung, die wir später unter verwickelteren Verhältnissen wiederfinden werden. Aber hart und grausam richtet die Anschauung auch über diejenigen, die sich nicht der Sitte beugen. Das ist die Allgewalt der Sitte!
3. Gruppe.
(Todesart entscheidend.)
Bei den Aschanti liegt Asaman, das Land der abgeschiedenen Seelen, unter der Erde. Ein langer über ein Gebirge sich hinziehender Weg führt in die Totenstadt. Nun ist für denjenigen, der diese Straße pilgert und der einen gewöhnlichen Tod starb, der Himmel schwarz und dunkel. Wer aber durch einen Unfall oder in der Schlacht starb und jetzt dahin abzieht, von dessen Körper fällt der weiße Ton, mit dem sein Körper eingerieben ist, auf den Weg; das färbt den Himmel weiß (Milchstraße!), und er wandelt im Hellen. Cristalier bei Bastian: »Allerlei aus Volks- und Menschenkunde« Bd. II S. XLIX.
Bei den Battak werden nur die Seelen derer, die gewaltsam um das Leben kamen, unsterblich. Alle, die an Krankheiten starben, werden betrachtet als in die Gewalt der Begu (Krankheitsdämone) gefallen und als gänzlich umgekommen. Nun die Land-Dajak! Wenn ein Mensch eines natürlichen Todes stirbt, weilt seine Seele an der Stätte des Begräbnisses oder der Verbrennung. Wenn ein Mensch im Kriege fällt, irrt seine Seele in kriegerischer Stimmung umher. Wenn ein Mensch eines zufälligen Todes stirbt, verbringt seine Seele die Zeit mit Weinen über ihr Schicksal. – Auf den kleinen Sunda-Inseln (Watubela, Tanimbar, Babar usw.) ist das Seelenschicksal derer, die im Kriege fallen, und derer, die eines natürlichen Todes sterben, ein verschiedenes. Böse Geister sind auf der Tanimbar- und Timorlaut-Gruppe solche, die eines unnatürlichen Todes sterben. Hat man auf den Marianen das Unglück, eines unnatürlichen Todes zu sterben, so wird die Seele in Zazarraguan (Hölle) eingesperrt; stirbt man eines natürlichen Todes, so hat man das Glück, in das Paradies zu kommen. Die Bewohner der Neuhebriden und Banks meinen, die, die erschossen, die, die durch Zauber getötet, und die, die erschlagen wurden, lebten je in einem gesonderten Raume. Die Bewohner Neuseelands, die Maori, meinen, der Mensch, der vom Feinde getötet und verzehrt worden sei, werde zum ewigen Feuer verdammt. Auf Mangaja sind die Geister derer, die eines natürlichen Todes sterben, schwach. Sie werden für immer vernichtet. Aber die im Kampfe gefallen sind, sind stark; diese sind unsterblich. Junghuhn: »Die Battaländer auf Sumatra« 1877 Bd. II S. 293 4. Spenser-John: »Life in the Forest of the far east; Travels in Northern Borneo; Second Edition« 1863. Bd. I S. 181, 182, 83, 84. Riedel: »De Sluik- en Kroeshaarige Rassen tusschen Selebes en Papua« 1886 S. 221/2, 307, 282, 339. Rienzi: »Oceanien« Bd. II S. 67, 11. Codrington a. a. O. 276, 288. Gill a. a. O. Bd. I S. 84/5.
Die eines gewaltsamen Todes sterbenden Tlingit kommen in den Himmel; die im Kranken- oder Kindbett sterben, gelangen in ein Land jenseits des Erdenrundes. Boas: »Verhandl. der Berl. Anthrop. Ges.« 1895 S. 231.
Es gleiten hier die verschiedensten Anschauungen durcheinander, die wir versuchen wollen, uns einzeln klar zu machen.
1. Natürlicher Tod, böser Seelenzustand. – Das primitive Volk glaubt nicht an einen natürlichen Tod, weil es von der Selbstverständlichkeit des Todes nichts weiß. (Vergl. meinen Aufsatz in »Afrika« 1897.) Wer also ohne bestimmt erkennbare Ursache wegstirbt, dessen Seele befindet sich in den Händen eines Zaubernden. Daher ist ihr Zustand kein beneidenswerter. Auch bestimmte Unglücksfälle werden auf Zaubermacht zurückgeführt, weshalb die gewaltsam ums Leben Gekommenen auch desselben Loses teilhaftig sind.
2. Natürlicher Tod, glücklicher Seelenzustand. – Auf höherer Kulturstufe (wie auf den Marianen) wird die Selbstverständlichkeit des Todes bewußt und wird gepriesen im Gegensatz zu einem gewaltsamen Ende, das dem Körper wie der Seele Schmerzen und Unglück bringt.
3. Kriegerischer Tod, glücklicher Seelenzustand. – Hier tritt die Mannestugend eines streitbaren Volkes hervor, eines Volkes wie die Germanen, deren sterbende Krieger von den Walküren gen Walhalla getragen wurden, wie der alten Karaiben, deren Seelen nur dann glücklich wurden, so sie tapfer gefochten oder auch im Kampfe gefallen waren, oder der Torresinsulaner, die nur dann mit dem Prädikat gut ausgezeichnet werden, wenn sie sich durch wilde Tugenden wie Tapferkeit oder Blutdürstigkeit auszeichnen. Gottfried a. a. O. S. 134. Hadden: »Legends from Torres Straits« in der »Folk-Lore« Bd. I London 1890 S. 78; vergl. auch Thomson a. a. O. Bd. I S. 113.
4. Kriegerischer Tod, böser Seelenzustand. – Aber auch in diese edlere Anschauung mischt sich die Zauberkraft, und der vom Feinde getötete und verzehrte Maori ist zum ewigen Feuer verdammt, – denn seine irdischen Reste sind in die Gewalt des Feindes gelangt, der auch seinen Schädel daheim aufgehängt hat. So schmachtet seine Seele in der Glut des Sonnenballes, auf dem sie um die Erde pilgert, statt an seinem Lichtglanze sich erfreuen zu können. (Vergl. das Motiv: Die Seele folgt der Sonne. »Weltanschauung der Naturvölker.«)
Also dreierlei! Die Seele schmachtet in der Gewalt dessen, der dem Menschen den Tod bereitete. Die Seele der Tapferen ist glücklich. Die dritte Anschauung (Fall 2) kümmert uns wenig, denn sie hat sich offenbar nur im Gegensatz zur Anschauung, daß die Seele der gewaltsam um das Leben Gekommenen im Unglück schmachte, herausgebildet. Daß die beiden in dieser Gruppe aufgefundenen Seligkeitsanschauungen oder -Motive in allen möglichen Variationen spielen, ist eine Folge der Gegensätze, die hier deutlicher und verwirrender zu Tage treten als bei den anderen Gruppen.
4. Gruppe.
(Begräbnis entscheidend.)
Die Neger der Goldküste halten die Glückseligkeit in jenem Leben für etwas, das am meisten auf äußeren Vorzügen in diesem und einem denselben entsprechenden Begräbnis beruhe. Monrad: »Gemälde der Küste Guinea« S. 4.
Wenn auf Huahine der Vater den Sohn oder einen anderen nahen Verwandten in unheiliger Erde bestattet hatte, erschien der Geist des Verstorbenen dem Ueberlebenden am folgenden Tage und sagte: »You have burried me in common earth, and so long as I lie there, I cannot go to heaven.« (Du hast mich in gewöhnlicher Erde bestattet, und so lange ich hier liege, kann ich nicht gen Himmel gelangen.) Nach madagassischem Glauben sind die Geister der unbegraben Gebliebenen dazu verdammt, mit wilden Katzen, Eulen und Fledermäusen umherzuschweifen oder wohl auch sich in diese Tiere zu verwandeln. Mit Erstaunen bemerkten die Südseereisenden, daß die Polynesier die Seligkeit von dem Begräbnis abhängig machten, und Cook ruft aus: »Es sei uns vergönnt, die Anmerkung zu machen, daß nichts ungereimter sein kann als der Wahn, die Glückseligkeit und Unglückseligkeit eines künftigen Lebens hänge noch gewissermaßen davon ab, wie man nach überstandener Lebenszeit mit dem toten Körper verfahre; so abgeschmackt diese Vorstellung sein mag, so ist doch nichts allgemeiner als eine besondere Sorgfalt für den Leichnam.« Bestattung, sagt Codrington vom melanesischen Glauben, ist Wohltat für den Menschen. Wenn ein Mann getötet, sein Körper aber nicht bestattet ist, irrt der Geist umher. Wenn einem Mann der Kopf abgeschlagen und in die Schädelsammlung eines Häuptlings eingefügt ist, so irrt dessen Seele umher. Tyerman und Bennet a. a. O. Bd. I S. 273. James Sibree: »Madagaskar; Geographie, Naturgeschichte, Ethnographie der Insel« 1881 S. 302/3. Hawkesworth a. a. O. Bd. II S. 142; französische Ausgabe Bd. II S. 394/5. Codrington a. a. O. S. 255.
Wir werden noch eine ganze Reihe entsprechender Sitten kennen lernen, wollen hier aber zunächst das Motiv ausfindig zu machen versuchen.
Also wer nicht rechtmäßig in heimischer Erde bestattet ist, kann nicht selig werden. Das Ausschlaggebende ist nach meiner Ansicht darin zu suchen, ob die Bestattung eine Folge einer bestimmten Mythe ist oder, wenn das nicht der Fall ist – in welchem man feststellen muß, wie die Sitte entstanden ist –, in welcher Richtung das Motiv liegen könne. Nun dürfen wir wohl einfach die Bestattung als eine rein praktisch entstandene Sitte betrachten, sich von den üblen Ausdünstungen der ekelhaften Kadaver zu befreien. Oder auch der Wunsch, die Leiber der Stammesverwandten vor dem gierigen Raubgetier zu schützen, mag dazu geführt haben, die Körper mit Steinen oder Erde zu bewerfen.
Sobald einmal die Sitte sich gefestigt hatte, kam die Anschauung dazu, daß die Seele in der Nähe des Leichnams und der Gräber weile und vom Grabe aus die Wanderung in die Seelenwelt antrete.
Nun sehen wir schon gelegentlich der Besprechung der dritten Gruppe (Todesart entscheidend) eine scharfe Berücksichtigung des Falles, daß die Seele des vom Feinde verzehrten Kriegers leide. Hier hören wir, daß der, dessen Schädel in fremden Besitz übergeht, nicht selig wird. Das ist deswegen, weil der Seele der Besitz des zugehörigen Körpers oder Körperteiles entzogen wird. Also muß eine Gruppe von Anschauungen abgelöst werden.
Für den Hauptteil bleibt nunmehr eine sehr einfache Erklärung übrig. Es ist einmal Sitte, daß der Verstorbene begraben wird. Vom Grabe nimmt demgemäß die Wanderschaft ihren Ausgang. Dieser gewöhnliche Weg der Entwicklung wird aber unterbrochen, wenn der Leichnam nicht im Grabe, also da, wo er hingehört, bestattet liegt. Folglich kann die Seele nicht glücklich werden. Noch verschärft wird die Genauigkeit der Bestimmung, indem von den Huahinen sogar Bestattung in heiliger Erde, auf dem Gottesacker, verlangt wird.
Demgemäß ist es die Sitte, die den Ausschlag gibt. Es ist nun einmal Brauch, und wenn er nicht eingehalten wird, sind die Folgen Unseligkeit. Wir haben es einmal wieder mit der Sittenmacht zu tun.
5. Gruppe.
(Totenopfer und Totenfest entscheidend.)
Auch die guten Seelen haben es bei den Anima und Mokko schwer, glücklich zu werden, denn ein böser Geist sucht sie auf dem Wege umzubringen. Nur durch auf den Weg gestreute Geschenke kann er beschwichtigt werden. Da man am Kongo die Rückkehr der Geister sehr fürchtet, verhindert man sie dadurch an der Rückkehr, daß man einige Hühner erwürgt, deren Blut man an die Wände innen und außen spritzt und deren Körper man auf das Dach wirft. Im Reiche Kongo ward die Zeremonie der Mutamba von den Verwandten ausgeübt, um den umherflatternden Seelen Ruhe bei Nzámbi zu verschaffen. Bei Unterlassung fällt die Seele dem in der Unterwelt residierenden Kadiampembe anheim. Gewöhnlich wird ein Schwein geschlachtet, dessen Kopf man in den Fluß wirft, um von demselben fortgeschwemmt zu werden. C. G. A. Oldendorp: »Geschichte der Mission der englischen Brüder« 1777 S. 340. Allg. Hist. A. R. a. a. O. Bd. IV S. 724/5. A. Bastian: »Ein Besuch in San Salvador« S. 101/2.
Die Tanimbar-Insulaner glauben, böse, umherirrende Geister werden solche, die keine Blutsverwandten hatten, welche ihnen die Fahrt nach der Stätte der Toten besingen konnten. Die Seele eines Dajak, der ganz arm ist, also nichts in die Totenstadt schicken kann, dem man also keine Totenfeier widmen kann, irrt als tote Seele auf dem Hügel, der den Sarg enthält, umher. Die Geister der Bewohner Mangajas, die dem am Eingange zur Unterwelt harrenden Geist Tiki keine Gaben (bei der Totenbestattung mitgegeben) darbringen können, müssen für immer draußen im Regen und in der Dunkelheit, zitternd vor Frost und Hunger, stehen bleiben. Vor dem Eingange in Reinga, das Seelenland auf Neuseeland, muß auf einem Brett ein Fluß überschritten werden. Wenn die Seele keine Nahrung für Reinga erhalten hat, kehrt sie hier um und zur Erde zurück. Die beim Beerdigungsfest der Nukahiver den Schweinen des Festmahles abgeschnittenen Köpfe fallen den Göttern zu, »damit sie dem Verstorbenen eine sichere und ruhige Fahrt in die Unterwelt zugestehen mögen«. Damit die Seelen derer auf den Neuhebriden eine rechte Existenz haben, schlachten die Hinterbliebenen Schweine. Riedel: a. a. O. S. 282. Grabowsky im »Internationalen Archiv für Ethnographie« Bd. II 1889 S. 204. Gill: a. a. O. S. 91. Taylor: »Te Ika O Maui or New Zealand and its Inhabitants« 1885. S. 104. Krusenstern: »Reisen um die Welt in den Jahren 1803 bis 1806«, zweite Aufl. Bd. I S. 249. Codrington: a. a. O. S. 282.
Nur dann findet die Seele der Tlinkit mühelos den Weg in das Schattenreich, wenn die Totenfeier von den Hinterbliebenen mit sorgfältiger Beachtung aller althergebrachten Förmlichkeiten begangen wird. Sonst muß die Seele lange umherirren, ehe sie ihr Ziel erreicht. Aurel Krause: »Die Tlinkit-Indianer« 1885 S. 281.
Die Entwicklung der hier vorliegenden Seligkeitsvorstellung ist eine sehr einfache, etwa folgendermaßen zu verstehende:
Anzuknüpfen ist an die schon festgestellte Annahme, daß die Zustände der Seele denselben Gesetzen unterworfen seien wie die der Lebenden. Demgemäß muß sie auch Speise und Trank erhalten, und folglich sehen wir bei allen Naturvölkern das einfache Totenopfer. Schalen mit Nahrung stehen auf den Gräbern der Toten in Afrika, und der Südseeinsulaner versieht auch seine Lieben mit Speisung, die er zwar in materieller Gestalt niederlegt, deren geistiger Teil – denn auch die Speise wie alles Gerät ist beseelt – also den Toten zugute kommt. Aus dieser Anschauung heraus entwickelt sich ein ungeheures Meer von Meinungen und Sitten, deren häufigste es wohl ist, dem Verstorbenen, von dem der Lebende träumt, ein Opfer darzubringen, da anzunehmen sei, daß er hungere oder sich vernachlässigt fühle; das ist eine große Summe von Meinungen und Sitten, die auf diesem Boden sprießen und aus deren Bereich auch die kompliziertesten Totenfeste stammen.
Zu dieser Vorstellung gesellt sich die Mythe von der Wanderschaft, die aus verschiedenen Quellen fließt. Einmal wandert die Seele dahin zurück, woher der Stamm einst kam. Dann wandert die Seele aber auch zur Sonne, in die Tiefe der Erde, gen Himmel oder welchen Ort nun die Seelen zu bewohnen pflegen. Diese Mythen haben komplizierte Gestalt. Mit der Sonne sinkt z. B. die Seele am Horizonte unter. Das Phänomen ist gewaltig und unerklärlich. Die blutige Röte läßt auf Kampf schließen. Also wohnt ein Widersacher am Horizont, den die Seele entweder bekämpft oder dem sie klingenden Lohn für die gute Fahrt bietet.
Somit wirken zwei Motive zusammen: Einmal braucht die Seele drüben just wie hüben Nahrung und allerhand Gerät – wenn sie es sehr gut haben soll, auch Sklaven, die am Grabe geopfert werden, – weshalb ihr geopfert wird. Zum andern aber ist die einmal so weit entwickelte, nun aber in den Motiven nicht mehr verstandene Sitte an sich eine Notwendigkeit, so die Seligkeit erreicht werden soll. Daher wird die Seele des Tlinkit unglücklich, wenn nicht alle Zeremonien der Totenfeier ganz genau nach Schema F ausgeführt werden. Also wieder die Macht der Sitte, der Gewohnheit.
6. Gruppe.
(Lebenswandel entscheidend.)
An der Goldküste erfuhr Boßmann in den 1690er Jahren folgende Vorstellung: »Es gibt einige, so lediglich glauben, daß der Abgelebte alsbald an ein bekanntes Wasser gebracht werde, welches tief im Lande unter dem Namen Bosmanque sich findet – sondern Zweifel müssen sie hierdurch die Seelen verstehen, denn den Leib sehen und behalten sie bei sich – und daß da von einer Gottheit (statt Götzen) gefragt werde, wie er seither in der Welt gelebt; dafern er nun seinem Abgott reichlich und fleißig geopfert, auch kein verbotenes Fleisch zu sich genommen, lasse ihn die Gottheit allgemach mit Gelindigkeit über den Fluß herüber und geleite denselben in ein sehr köstliches Land; wäre es aber, daß der Tote von verbotenem Fleische genossen, auch die den Gottheiten geweihten Tage nicht fleißig in acht genommen, so stürzt er denselben in das Meer, ersäufet denselben und sei seiner also in Ewigkeit vergessen.« Bowdich berichtet vom Aschanti-Glauben: »Wer seine Schwüre einhielt und seine Quixillen beobachtete, wird vom Fährmann anstandslos über den Totenfluß gefahren. Die dies nicht einhielten, die würden in den Strom geworfen und so für immer vernichtet.« Boßmann: »Reise nach Guinea« 1708 S. 189/90. Bowdich: »An Essay on the Superstitions, Customs and Art etc.« London 1821 S. 43.
Nun ist das, was hier vorliegt, aber gar nicht so einfach zu verstehen, wie es aussieht, und wir müssen sehr warnen, diesem Seligkeitsglauben einen allzu hohen ethischen Wert beizulegen. Denn hier kommt es – so wir nach dem eigentlichen Motive fragen – vor allen Dingen darauf an, was denn die Quixille sei und in welcher Beziehung sie zum Tode stehe, eine Frage, die gar nicht so einfach ist.
Die Quixille, Xina (Westafrika), Pamali, Tabu (Ozeanien), von deren Innehaltung die Seligkeit hier und da abhängt, sind Enthaltungsgebote, die in erster Linie, und hier gilt es wohl auf den ursprünglichen Sinn einzugehen, von den Verstorbenen ausgehen. Das Eigentum des Toten darf von den Lebenden erst angenommen, mit Beschlag belegt werden, wenn dieser im Seelenlande weilt oder darauf verzichtet. Bis dahin ist es Tabu, d. h. also die Quixille verbietet den Lebenden seine Nutznießung.
Die Macht der Priester oder Ganga ist es, die diesen Quixillen und Tabugesetzen eine ungeheure Bedeutung verliehen, ihnen ein enormes Wirkungsfeld geschaffen hat. Hier ist es ein segensreicher Zweck, wenn die Priester die Früchte, die sonst allzu schnell verschlemmt und verpraßt würden, tabuieren, um vornehmlich Hungersnöten vorzubeugen. (Vergleiche z. B. Schurtz in den Preußischen Jahrbüchern 1895.) Dort ist es der krasse Egoismus des nach Herrschaft ringenden Priesterstandes, wenn er die Lebendigen mit den Quixillen der Toten überhäuft, namentlich die Mächtigen und Gewaltigen, derart zum Beispiel, daß, wegen der vielen und schweren Verpflichtungen in Boma keiner mehr König werden wollte, derart, daß die übermäßig belasteten Bürger nicht alles erfüllen können und zu häufigen Vergehen gezwungen werden, denen dann stets die Furcht vor der Strafe und endlich ein Gang zum Ganga und reiche Bußgeschenke folgen.
Diese Gebote also (z. B. Beschränkung in der Speise, Tragen bestimmter Amulette, Einhalten von Opfern, Bestimmungen über die Einteilung des Tages, ja Einschränkung im Sprechen usw.) sind ausschlaggebend für die Seligkeit. Da nun, wie gesagt, der ganze Apparat dieser Quixillen und Tabus in den Händen einer meist wenig ehrbaren Priesterschaft liegt, so erscheint dieser Quell der Seligkeitsanschauung doch weniger edel, als man nach dem ersten Einblick meinen möchte.
Mehrere Glauben nebeneinander.
Die Menge dieser Seligkeitsglauben ist eine ganz unheimliche. Dazu ist bemerkenswert, daß sie nicht etwa getrennt auftreten, sondern oftmals in größerer Anzahl nebeneinander. Dafür nun will ich wenigstens ein Beispiel, nämlich das der Völker an der Goldküste, anführen.
1. Bericht Spieth. Nach dem Tode muß die Seele wandern, bis sie endlich an den Ufern eines großen Flusses anlangt. In seinem Wasser bergen sich schreckliche Ungeheuer und seine Ufer sind schaurig kalt. Die angekommene Seele wird dann gegen Entrichtung eines Fährgeldes von einem alten Manne übergesetzt. Vom jenseitigen Ufer führt sie der Weg in die große Totenstadt zu den vorangegangenen Vätern. Mit diesen darf der Ankömmling nach vorangegangener Gerichtssitzung für immer vereint zusammenleben, denn dort gibt es keinen Tod mehr.
2. Bericht Herold. Ein breiter Fluß ist zu überschreiten, bevor man die Welt der Toten betritt, welche am andern Ufer beginnt. Ein kleiner, alter Fährmann setzt mit einem Kahn über den Fluß gegen Entrichtung eines geringen Fährgeldes. Er setzt jedoch nur die über, welche ihr Fährgeld zahlen können und für welche bereits ein Totenfest veranstaltet wurde. Ist letzteres nicht geschehen, so pflegt er das Uebersetzen zu verweigern mit der Bemerkung: »Ich habe noch nicht für Dich schießen hören.« Am andern Ufer sitzen viele Tote, meist mit schönen, weißen Tüchern angetan und gemütlich eine Pfeife rauchend; etwas abseits von diesen sitzen andere, welche nicht rauchen und welche große Wunden haben, aus denen Wasser läuft.
Bericht Oldendorp. Die Neger stellen sich vor, daß auch die guten Seelen Mühe haben, bei einem gewissen Geiste vorbei bis zu Gott hinzukommen. Daher kommt die Gewohnheit, daß sich die Ueberlebenden mit dem Didi (durch auf den Weg gestreute Geschenke) abfinden. Nach der Aussage anderer machen sie sich durch Hinweis auf die Zeichen, die sie auf dem Leibe haben, von den Ansprüchen der boshaften Gottheit los Missionar Spieth in einer Rede, gehalten am Missionsfest in Bremen Juni 1893. Herold in den »Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten« Bd. V, S. 156/7. Oldendorp a. a. O. S. 340..
Addieren wir das, so hören wir von folgenden entscheidenden Momenten:
1. ob das Totenopfer beigefügt ist (Fährgeld),
2. ob der Verstorbene seine Quixille einhielt (Gerichtssitzung),
3. ob das Totenfest gefeiert ist,
4. wie einer gestorben ist (vergl. die mit den Wunden),
5. ob der Verstorbene tätowiert ist.
Wichtig ist ferner, daß die Gerichtssitzung über den Lebenswandel der Verstorbenen in den Händen der Toten liegt, was an die Entwicklungsgeschichte der Quixille erinnert, wie sie oben skizziert ward.
Damit wollen wir diesen Teil der Untersuchung abschließen. Erkannt haben wir, daß es nicht nur verschiedenartige Gruppen des Seligkeitsglaubens gibt, sondern auch daß die Motive dieser verschiedenen Glaubensarten arg voneinander abweichen. Indem wir das derart gewonnene Material an Motiven den Untersuchungen des zweiten Teiles zugrunde legen, hoffen wir, eine verhältnismäßig sichere Basis für weitere Schlüsse damit zu gewinnen.
Unsere Frage ist also: Läßt sich im Bereiche dieser erörterten Anschauungen ein Motiv finden, das als sittliche Regung, als der Keim eines dem Gut und Böse entsprechenden oder verwandten Begriffes zu bezeichnen ist? Revidieren wir noch einmal! Entscheidend, ob einer selig wird, sind etwa folgende Faktoren:
1. Geschick (oder Geburt!), – je nachdem der Verstorbene einer bestimmten Gesellschaftsklasse angehörte oder einen bestimmten Tod starb oder nicht rechtmäßig bestattet ward.
2. Böswillige, – denn der Zauberer kann sich der Seele des Lebenden bemächtigen und diesen somit töten und die Seele in seiner Macht behalten.
3. Die Hinterbliebenen, – indem sie dem Verstorbenen das Grab rüsten oder das Totenfest begehen, ihm opfern, ihn also nähren und pflegen.
4. Der Verstorbene selbst, – insofern er tapfer war oder nicht, oder er seine Quixille einhielt, also seine einmal vorhandenen Pflichten erfüllte.
Von diesen sind die ersten drei Gruppen völlig bar einer sittlichen Regung insofern, als die Entscheidung außerhalb dessen liegt, auf dessen Seligkeit es ankommt. Hingegen läßt sich in der vierten Gruppe das ethische Moment nicht verkennen; denn seine Handlungsweise ist das Entscheidende. Allerdings ist der Wert ein sehr geringer. Denn kriegerischer und tapferer Sinn schließen nicht die häßlichsten Nebenumstände aus und sind, – im Geiste der Naturvölker aufgefaßt, – auch nur in kriegerischen Zeiten eine Tugend. Was also die Erfüllung der Quixille anbelangt, so steht deren Wert vielleicht noch tiefer, da die absolute Furcht die Quixille nicht nur hervorruft, sondern auch ihre Einhaltung gebietet. Aber immerhin müssen wir im letzteren Falle von einer sittlichen und moralischen Regung sprechen. Doch sehen wir uns einmal nach dem Ursprunge der andern Anschauungen näher um, die weit wichtiger sind.
Dem Menschen selbst fehlt jeder Einfluß auf die Entwicklung seines Geschickes. Das ist der echte Naturmensch, der durch das Erdenleben taumelt, der überall nur die Ausnahmen beobachtet, weil er die Regeln nicht kennt (Mangel an Bewußtsein!), der sich anstandslos vor den Erscheinungen der Natur beugt, der gar nicht daran denkt, daß er sterben muß. Was ihn in dieser Hinsicht auszeichnet, ist die Anerkennung einer Macht, der Sittenmacht. Er beugt sich derselben. Er bohrt ein Loch in die Nase, er tätowiert sich usw., damit er selig wird. Das ist die einzige entscheidende Macht, die geregelt und gesetzmäßig ist, und ich werde zeigen, daß tatsächlich von hier der Strom einer sittlichen Anschauung ausgeht, der für das Volksleben von allergrößter Bedeutung ist. Zu diesem Behufe ziehe ich eine Reihe von Belegen über die Bestattungsgebräuche heran.
1. Bestattung geregelt nach dem Seligkeitsglauben.
a) Stand entscheidend. Von den Kapez und Kumba (am Sierra Leone-Flusse) werden die verstorbenen Könige in den Straßen, die nach ihren Wohnungen gehen, begraben. Sie rechtfertigen diese Gewohnheit damit, daß diejenigen, die durch ihren Rang und Stand so sehr von anderen Personen unterschieden sind, billig auch nach dem Tode von ihnen abgesondert werden müssen. Vornehme Waganda, zumal die Könige, werden mumifiziert, gemeine Leute aber und Sklaven in den Busch geworfen; denn nur vornehme Häuptlinge werden Halbgötter. Auch die Wanjamwesi bestatten nur Häuptlinge, und auf den Salomonen werden die Körper der gemeinen Menschen in die See geworfen, die der Vornehmen aber bestattet, da ihre Macht im Diesseits für die im Jenseits ausschlaggebend ist. Allg. Hist. d. R. Bd. III S. 267. Herm. Stuhlmann: »Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika« 1893. S. 186/7. Oskar Baumann: »Durch Massailand zur Nilquelle« 1894 S. 236. Codrington a. a. O. S. 258.
Da doch nur die Vornehmen im Jenseits glücklich werden, hat es gar keinen Wert, daß man den Gemeinen erst die Möglichkeit bietet hierzu, indem man sie bestattet; das ist der Sinn.
b) Todesart entscheidend. Jemand, der durch einen Unglücksfall umkommt, zum Beispiel ertrinkt, wird nicht erst begraben, sondern in den Wald gebracht und dort niedergelegt. Denn die Seele eines solchen Unglücklichen wandert in einen Baum, Fisch oder ein anderes Tier. Man meint, die Götter hätten solche Menschen von der Seligkeit ausgeschlossen, verbannt; darum mußten sie eines solchen Todes sterben und die Seele in ein Tier usw. fahren. Soweit der Dajak-Glaube und -Brauch, der soweit geht, daß auch im Kampfe Gefallene nicht bestattet werden. In Togo werden Leute, die auf unnatürliche Weise gestorben, z. B. erschlagen, ermordet oder hingerichtet worden sind, auf Gerüsten im freien Felde aufgestellt. Das ist, wie wir sehen werden, in Westafrika gleichbedeutend mit dem Nichtbestatten. Bei den Wambugwe werden nur die an einer Speerwunde, also im Kriege Sterbenden außerhalb der Temba, die anderen in derselben bestattet. Grabowsky a. a. O. S. 181. John a. a. O. Bd. I S. 69. v. François in den »Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten« Bd. I S. 162. Baumann: »Massailand« a. a. O. S. 187.
Das Ausschlaggebende mag hier zweierlei sein. Entweder herrscht die Meinung, »der so und so Umgekommene wird ja doch nicht selig, warum also ihn erst bestatten« oder der Sinn, »der so und so Umgekommene wird ein ruheloser und bösartiger Geist, also wollen wir ihm das Geistwerden und das Weiterexistieren doch einfach damit abschneiden, daß wir ihn nicht bestatten«. Die letztere Anschauung führt uns zur nächsten Gruppe hinüber.
2. Anwendung des Seligkeitsglaubens.
In Vaisali ließ man auf der Erde oder vergrub man die Leiche, je nachdem man die Wiederkehr des Verstorbenen fürchtet oder nicht. Und etwas Aehnliches hören wir von der südlichen Westküste Afrikas. Wenn ein Geist aus dem Grabe zurückkehrt, um die Menschen zu beunruhigen, so gräbt man ihn aus und verbrennt die Leiche. A. Bastian: »Inselgruppen in Ozeanien« S. 88. »Loangoküste« a. a. O. II. Bd. S. 49.
Wir sehen, der Mensch beginnt von seiner Macht Gebrauch zu machen. Da ihm die Bestattung zufällt, liegt es ja in seiner Hand, den Geist, der ihm lästig wird, zu verderben. Es taucht also hier die Anschauung auf, daß der dem menschlichen Leben schädliche Geist einfach vernichtet werden muß. – Damit gleitet die Waffe in die Hand des Menschen, und alsogleich beginnt er sie zu gebrauchen. Fassen wir die einzelnen Fälle ins Auge.
Nach Wilson spricht sich an der Westküste Afrikas der einzige Begriff einer zukünftigen Vergeltung in der Sitte aus, daß man diejenigen, die unter dem Rotwasser-Gottesgericht gestorben sind oder sich besonders schlechter Handlungen (?) schuldig gemacht haben, an abgesonderten Plätzen begräbt. Bei den Baschilange sah Pogge die Leichen von solchen, denen durch das Capa-ordal nachgewiesen worden war, daß sie irgend ein Vergehen begangen hatten. Die Leichen waren eingewickelt und an eine Stange gehängt, welche zwischen den Aesten zweier Bäume hing. Aehnlich verfährt man mit der Leiche ebenso eines Vergehens überwiesenen Verbrechers bei den Ewenegern. Stirbt der Verdächtige innerhalb sieben Tagen, so hat ihn Manyo getötet, und er wird außerhalb des Ortes von den Ganga auf einem Gestell von vier Pfählen Wind und Wetter ausgesetzt. Das gleiche vernehmen wir aus Madagaskar. Wilson: »Westafrika« 1862 S. 155. Wißmann, Pogge: »Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost« 1889 S. 383. Herold in den »Mitt. a. d. Deutschen Sch.-Geb.« 1892 Bd. V S. 147. Sibree: »Madagaskar« S. 302/3.
So ein Mensch plötzlich stirbt, woraus geschlossen wird, daß irgend jemand ihn behext habe, so eine Krankheit ausbricht, was gleicher Weise gedeutet wird, so einer bestohlen ist, wird in Westafrika eine Volksversammlung berufen, und der Verdächtige oder die Verdächtigen festgestellt. Diesen wird dann ein Trank, das Kapa oder Rotwasser verabfolgt. Erbrechen die Verdächtigen dieses Gebräu, so sind sie unschuldig, behalten sie es im Leibe, so sind sie schuldig. Nun hören wir, daß diejenigen, die derart als Schädiger der Ordnung und der Gesellschaft auftreten, von den Negern auch für das Jenseits bestraft werden, indem sie unbestattet bleiben. Es ist genau das gleiche, wenn Dapper von den Quoja erzählt, daß sie die Zauberer verbrennen oder in den Fluß werfen, oder wenn Bastian aus Westafrika berichtet: »Die Leiche eines insolventen Schuldners wurde früher seinem Gläubiger übergeben und von diesem zwischen zwei Bäumen in einem Käfige aufgehängt. Dort besuchte er sie täglich, erkundigte sich spöttisch nach ihrem Befinden und riet ihr wohlmeinend an, nur baldmöglichst ins Leben zurückzukehren, da, bis seine Schuld bezahlt sei, er sicher keine Ruhe im Grabe finden werde.«
Das heißt also, der menschliche Gesellschaftsorganismus beginnt das Schädliche auszurotten. Und demnach beginnt hier eine Moral zu herrschen, in der das » schädlich gleich schlecht« den Ausgang bildet.
Und gehen wir danach auf die Genealogie dieser Moral, auf ihren Stammbaum ein, so sehen wir folgende drei aufeinander folgende Anschauungen oder Epochen:
1. Epoche. Der Mensch beugt sich unter das Joch des Geschickes.
2. Epoche. Die Sitte herrscht absolut.
3. Epoche. Der Mensch benutzt die Sittenmacht und -gewalt, um gegen Schädlinge im Staats- und Gesellschaftsleben vernichtend vorzugehen.
Aber immerhin: Diese Moral des »schädlich gleich schlecht« ist eine recht kümmerliche, zumal wenn man bedenkt, daß die richtende Macht nur den richtet, den sie erwischt. Wenn wir diese Moral mit der unseren vergleichen, so erkennen wir den gewaltigen Unterschied sogleich. Denn wir tun das Gute des Guten wegen und lassen nicht das Schlechte aus Furcht vor der Strafe.
Worin liegt das Scheidende?
Nun, dort herrscht der Mensch, und er benutzt die Moralmacht.
Bei uns aber herrscht die Moral selbst; denn das Gute des Guten willen tun heißt nichts anderes.
Das erstere ist die natürliche Moral, die sich schon im Tierleben nachweisen läßt, die den Starken und die Macht entscheiden läßt. Unsere aber ist die kulturelle Moral, eine selbständige Moral, die den Wertmesser in sich selbst trägt. Wohl vermögen wir auf primitiven Kulturstufen schon Anfänge zu den Sittlichkeitsanschauungen unserer Kulturstufe zu erkennen – ebensogut, wie wir Rückfälle zur natürlichen Moral bei uns nachweisen können, – aber beiderseits sind es nur leichte Regungen im Gebiete einer anderen Anschauungswelt. – Um aber ja nicht mißverstanden zu werden, was man unter natürlicher und unter kultureller Moral zu verstehen habe, stelle ich den Hauptsatz für die natürliche Moral fest, wie es sich uns hier dargestellt hat:
Nicht der wird unselig, der Böses tat, sondern der, der von den Menschen als schädlich oder böse erklärt worden ist.
Mit dieser kurzen Abhandlung will ich nichts Abgeschlossenes bieten, sondern mehr anregen. Ich glaube nämlich, womit ich auf die Einleitung zurückgreife, daß es für unsere Missionare und Kulturpioniere von allergrößtem Werte sein muß, festzustellen, auf welchem Boden sie ihre geistigen Samenkörner ausstreuen und welche Art Pflanzen überhaupt auf solchem Boden Wurzel fassen und gedeihen können. Erst wenn ich weiß, was jener für eine Auffassung von Gut und Böse hat, kann ich ihm die meinige klar machen.