Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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XXX
Der erste Luftballon zu Nürnberg

(1787)

Aussehen einer Stadt um 1790. Die Häuser. Arme. – Krankenpflege. Pocken. Vergnügungen. Kaffeegärten. Theater. Anreden. Reisen. Postwagen. Sinn für Natur. Dialekt. Neuigkeiten. Wichtigkeit des Klatsches. Die Erfindung des Luftballons und die Aufregung darüber. – Das Urteil Goethes. – Bericht über die Auffahrt des Franzosen Blanchard zu Nürnberg i. J. 1787 nach einer Flugschrift

Wer in den ersten Jahren nach dem Tode Friedrichs des Großen die Straßen einer mäßigen Stadt betrat, die er im Jahre 1750 durchschritten hatte, der mußte die größere Kraft ihrer Bewohner überall erkennen. Noch stehen die alten Mauern und Tore, aber es wird darüber verhandelt, die Eingänge, welche für Menschen und Lastwagen zu eng sind, von dem alten Ziegeljoch zu befreien, mit leichtem Gitterwerk zu schließen, an anderen Stellen der Mauer neue Pforten zu öffnen. Der Wall um den Stadtgraben ist mit breitgegipfelten Bäumen bepflanzt, und in dem dichten Schatten der Linden und Kastanien halten jetzt die Städter ihren diätetischen Spaziergang, atmet das Kindervolk frische Sommerluft. Auch die kleinen Gärten an der Stadtmauer sind verschönert, neue fremde Blüten glänzen zwischen den alten und umgeben das künstliche Fragment einer Säule oder einen kleinen Genius von Holz, der mit weißer Ölfarbe überzogen ist; hier und da erhebt sich ein Sommerhaus entweder als antiker Tempel oder auch als Hütte von bemooster Rinde zur Erinnerung an die unschuldsvollen Urzustände des Menschengeschlechts, in denen die Gefühle so unendlich reiner und der Zwang der Kleider und der Konvenienz so viel geringer waren.

Aber das Triebwerk der Stadt hat sich über die alten Mauern ausgedehnt; wo eine Landstraße zur Stadt führt, strecken die Vorstädte ihre Häuserreihen wieder weit in die Ebene hinaus. Viele neue Häuser mit roten Ziegeldächern erfreuen dort unter tragenden Obstbäumen das Auge. Auch in der Stadt hat sich die Zahl der Häuser vermehrt; mit breiter Front, Giebel an Giebel gelehnt, stehen sie da, große Fenster, helle Treppen, weite Räume umschließend. Noch sind die Zieraten ihrer Front von Gips und Kalk nüchtern angeklebt, helle Kalkfarben in allen Schattierungen sind fast das einzige Charakteristische und geben den Straßen ein buntes Aussehen. Die Erbauer sind meist Kaufleute und Fabrikanten, welche heraufgekommen sind, jetzt fast überall die vermögenden Leute der Stadt.

Die Wunden, die der Siebenjährige Krieg dem Wohlstand der Bürger geschlagen, sind geheilt. Nicht umsonst hat die Polizei seit mehr als fünfzig Jahren ermahnt und befohlen, der Stadthaushalt ist geordnet, die Anfänge der Armenpflege sind organisiert, Unterstützungskassen, Armenärzte, unentgeltliche Arznei. In den größeren Städten geschah schon viel für Unterstützung der Hilflosen, in Dresden war 1790 der jährliche Umsatz der Armenkasse 50 000 Taler, auch in Berlin, wo schon Friedrich Wilhelm I. für die Armen manches getan hatte, suchte die Regierung mit warmem Herzen zu helfen, es wurde gerühmt, daß dort mehr geschehe als irgendwo anders. Aber der warmen Humanität, welche die Gebildeten nach allen Richtungen dem Volk entgegentrugen, fehlte noch sehr die Einsicht, man kam noch nicht über das Almosengeben heraus, es wurde wenig Jahre später als besondere patriotische Tat begrüßt, daß der Finanzminister von Struensee den Berliner Armen jährlich einen bedeutenden Teil seines Gehaltes auszahlen ließ. Aber zugleich wurde laut über zunehmende Sittenlosigkeit geklagt und daß die Zahl der Armen in großem Verhältnis steige. Man bemerkte mit Schrecken, daß Berlin unter Friedrich II. die einzige Hauptstadt der Welt gewesen sei, in welcher jährlich mehr Menschen geboren wurden als starben, und daß sich das jetzt zu ändern drohe. In Berlin, Dresden, Leipzig sah man keinen Bettler mehr, in preußischen Städten, mit Ausnahme Schlesiens und Westpreußens, überhaupt wenig; aber selbst in den kleineren Orten Kursachsens waren sie noch eine Plage der Reisenden, sie lagen an Gasthöfen und Posthäusern und lauerten auf die ankommenden Fremden.

Ein großer herzerfreuender Fortschritt war aber durch die Anstrengung der Regierung für bessere Krankenpflege gemacht worden, die völkerverwüstende Pest und andere Seuchen waren – so durfte man annehmen – von den Grenzen Deutschlands ausgesperrt. Noch 1709–1711 hatte in Polen die Pest furchtbar gehaust, ja noch um 1770 war dort ein Sterben gewesen, das ganze Dörfer geleert hatte, unsere Heimat war nur wenig geschädigt worden. Aber eine Krankheit wütete noch bei Reichen und Armen, die Pocken. Noch war sie ein Leiden Europas, das Scheusal, welches die blühende Jugend am widerwärtigsten heimsuchte, ihr den Tod, Verstümmelung, Verunstaltung brachte. Jedem wurde entscheidend für das ganze Leben, wie er durch die Pocken gekommen war. Viel herzbrechendes Unglück ist geschwunden, die Schönheit unserer Frauen ist häufiger und sicherer geworden, die Zahl der Siechen und Hilflosen ist beträchtlich verringert, seit durch Jenner und seine Freunde 1799 zu London die erste öffentliche Impfanstalt angelegt wurde.

Überall beginnen in dieser Zeit die Klagen über Mangel an Sparsamkeit und unmäßige Vergnügungslust der arbeitenden Klassen, Klagen, welche gewiß in vielen Fällen berechtigt waren, die aber unvermeidlich immer wieder tönen, wo der größere Wohlstand viele einzelne auch in den untern Schichten des Volkes die Bedürfnisse vermehrt. Nur mit Vorsicht darf man daraus auf eine Abnahme der Volkskraft schließen, häufiger ist die erwachende Begehrlichkeit der kleinen Leute das erste unholde Zeichen eines Fortschrittes, den sie selbst machen. Im ganzen scheint es damit nicht so arg gewesen zu sein. Das Tabakrauchen freilich war allgemein, es nahm unaufhörlich zu, obgleich Friedrich II. seinen Preußen die Pakete durch seinen Stempel verteuert hatte, der weiße Porzellankopf begann den Meerschaum zu verdrängen. In Norddeutschland war das Weißbier ein neumodisches Getränk des Bürgers, ehrbare Meister tadelten kopfschüttelnd, daß ihr Bier schlechter und daß der Verbrauch des Weins auch unter Bürgern übermäßig zunehme. In Sachsen war schon damals das massenhafte Kaffeetrinken auffallend, auch wie dünn und verfälscht der Trank sei, und doch sei er die einzige warme Kost der Armen. Allgemein ist die Klage der Reisenden, welche aus Süddeutschland kommen, daß die gewöhnliche Küche in Preußen, Sachsen, Thüringen schmal und dürftig sei.

Auch die öffentlichen Vergnügungen waren weder besonders zahlreich noch teuer. Immer noch waren Hinrichtungen eine große Angelegenheit, noch wurden die Bilder schwerer Verbrecher in Kupfer gestochen und mit ihrem Lebenslauf, den erbaulichen Betrachtungen der Seelsorger und warnenden Gedichten eifrig gekauft. Ein Seehund, Elefant, das erste Rhinozeros, ein Neger oder Albino, Kamtschadale und Indianer, und was jetzt in unseren Meßbuden nur geringe Beachtung findet, wurde mit Erfolg einzeln auf öffentlichem Platz aufgestellt, ebenfalls durch Bilderbogen und kleine Flugschriften empfohlen. Und allerlei brotlose Künste, ein Mann, der mit abgerichteten Kanarienvögeln umherzog, ein anderer, der nur durch Handbewegungen ein Schattenspiel an der Wand herzubringen wußte, dazwischen Bauchredner, Feuerfresser und andere fahrende Leute gaben den besten Gesellschaften der Stadt für längere Zeit Unterhaltung.

Die alten festlichen Aufzüge und Schaustellungen der Städter selbst waren überall verkümmert, ihnen war die Zeit der seidenen Strümpfe, des Reifrocks und Puders sehr ungünstig. Die Schaugefechte der Fechterbanden hatten aufgehört, die Schützenfeste waren seit dem großen deutschen Krieg eingeschrumpft; nur einzelne Handwerke: die Fleischer, Fischer, Faßbinder unternahmen zuweilen einen öffentlichen Aufzug in hergebrachtem Kostüm mit altem Zeremoniell und Handwerkszeichen, in seltenen Fällen mit einem alten Tanz. Obenan aber unter den städtischen Belustigungen stand das Theater. Es war die Leidenschaft des Bürgers, die Wandertruppen wurden besser und zahlreicher, größer wurde auch die Zahl der stehenden Bühnen; noch war das Parterre der Hauptraum, in welchem Offiziere oder Studenten und junge Beamte, nicht selten als feindliche Parteien, den Ton angaben. Die Schauderdramen mit Dolch, Gift, Kettengerassel entzückten den Anspruchslosen, die rührenden Familienstücke mit ihren bösen Ministern und rasenden Liebhabern füllten den Gebildeten mit Gefühlen, der schlechte Geschmack der Stücke und dabei das gute Spiel der Darsteller setzten den Fremden in Erstaunen. Der Einzug einer »Truppe« in die Stadtmauern war ein Ereignis von größter Wichtigkeit; aus den Berichten vieler tüchtiger Männer sehen wir, wie wichtig die Eindrücke solcher Vorstellungen für ihr Leben geworden sind. Es wird uns schwer, den Enthusiasmus zu begreifen, mit welchem die gebildete Jugend der Darstellung folgte, und die Heftigkeit der Affekte, welche in ihnen aufgeregt wurden. Die Stücke Ifflands: »Verbrechen aus Ehrgeiz«, »Der Spieler«, lockten nicht nur Tränen und Schluchzen hervor, auch Schwüre und heiße Gelübde. Als einst in Lauchstädt nach dem Ende des »Spielers« der Vorhang fiel, stürzte einer der wildesten Studenten aus Halle auf einen andern Hallenser zu, den er kaum kannte, und bat unter strömenden Tränen seinen Schwur anzunehmen, daß er nie wieder eine Karte anrühren wolle. Und nach dem Bericht dessen, der Schwur und Handschlag empfing, hielt der Erregte auch Wort. Dergleichen war nichts Außerordentliches. Arme Studenten sparten sich's wochenlang ab, um einmal von Halle aus das Theater in Lauchstädt zu besuchen; sie liefen dann in der Nacht zurück, die Kollegien des nächsten Morgens nicht zu versäumen. Aber wie lebendig die Teilnahme der Deutschen am Drama war, es wurde dennoch einer Gesellschaft auch in größerer Stadt nicht leicht, sich auf stehender Bühne zu erhalten. In Berlin wurde gerade damals das französische Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt in eine deutsche Bühne unter dem stolzen Titel Nationaltheater verwandelt, aber dies einzige Schauspiel der Hauptstadt war wenig besucht, obgleich Fleck und die beiden Unzelmann darauf spielten. Desto mehr gefüllt war freilich die italienische Oper. Aber sie wurde auf königliche Kosten gegeben, jede Behörde hatte eigene Loge, noch saß der König mit seinem Hofstaat nach alter Sitte im Parterre hinter dem Orchester, und durch den Winter waren nur sechs Vorstellungen, eine neue und eine alte Oper, jede dreimal. Da drängte sich freilich das Publikum herzu, die Pracht dieser Hoffeste zu sehen und im »Darius« den großen Zug mit Elefanten und Löwen anzustaunen. Auch aus Dresden wird zu derselben Zeit gemeldet, daß dort die Kindertheater in den Familien weit mehr in Aufnahme seien, als das große Theater. – Und in jenem Berlin, das schon damals für besonders frivol und genußsüchtig galt, war in demselben Winter auf der großen Redoute, von welcher im Lande soviel die Rede war, eine einzige Charaktermaske, sonst nur mißvergnügte Dominos, das Ganze dem fremden Beobachter sehr langweilig. – Das alles sieht nicht nach übermäßiger Verschwendung aus.

Auch das gewöhnliche gesellschaftliche Vergnügen war genügsam, es war der Besuch öffentlicher Kaffeegärten. Bei anspruchsloser Musik und einigen bunten Lampen drängten sich dort Adel, Offiziere, Beamte und Kaufmannschaft. In Leipzig und Wien hatte sich diese Art der Unterhaltung etwa seit 1700 zuerst ausgebildet; oft wurde die große Ergötzlichkeit des schattigen Kaffeetrinkens in Versen und Prosa gefeiert und von Frivolen gerühmt, wie bequem solches Zusammenströmen zur Einleitung zarter Verhältnisse sei. Und der Kaffeegarten blieb charakteristisch für die deutsche Geselligkeit durch fast hundertfünfzig Jahre.

Zwar saßen die Familien nach Tischen geschieden, aber man ließ sich sehen und konnte beobachten; auch die liebe Kinderwelt wurde zu sittsamer Haltung angestrengt, sparsame Hausfrauen brachten wohl auch in Tüten Kaffee und Kuchen von Hause mit. – In dem Hause des gebildeten Bürgers war die Gastlichkeit zwar bequemer, die Bewirtung reichlicher geworden, aber in dem Familienleben hatte sich noch vieles von der strengen Zucht der Ahnen erhalten. Die Gewalt des Gatten und Vaters trat kräftig hervor, Hausherr und Hausfrau forderten behende Unterwürfigkeit, Befehlende und Gehorchende waren schärfer geschieden. Nur die Gatten hatten gelernt, einander das herzliche Du zu geben, die Kinder der Honoratioren, oft auch der Handwerker nannten die Eltern Sie; die Dienstboten wurden nur von ihrer Herrschaft geduzt, von Fremden erhielten sie die dritte Person des Singularis. Ebenso gab das »Er« ein Meister dem Gesellen, der Gutsherr dem Schulzen, der Gymnasiallehrer dem Schüler der oberen Klassen. Der Schüler aber redete seinen Herrn Direktor an vielen Orten mit »Ew. Hochedeln« an. –

Häufiger als vor vierzig Jahren verließ der Deutsche Haus und Stadt, ein bescheidenes Stück seines Vaterlandes zu durchreisen. Noch waren die Verkehrsmittel schlechter, als bei dem Aufschwung des Handels und der vermehrten Reiselust erträglich war. Es gab erst wenige und kurze Kunststraßen; als die beste Chaussee Deutschlands wurde die Straße von Frankfurt nach Mainz gerühmt, mit Baumalleen, Steinreihen und getrennten Seitenpfaden für Fußgänger; die großen alten Völkerwege vom Rhein nach dem Osten waren breite Lehmpfade. Wer irgend Ansprüche machte, reiste mit Lohnkutsche oder Extrapost, denn die Wagen der ordinären Post waren auf den Hauptstraßen zwar bedeckt, aber ohne Federn, mehr für Lasten als Personen berechnet, sie hatten keine Seitentüren, man mußte unter der Decke oder über die Deichsel hineinkriechen. Im Hintergrund des Wagens wurden die Pakete bis an die Decke mit Stricken befestigt. Pakete lagen auch unter den Sitzbänken, Heringstönnchen, geräucherter Lachs und Wild kollerten unermüdlich auf die Bänke der Passagiere, welche eine fortdauernde Beschäftigung darin fanden, die anspruchsvollen Begleiter zurückzudrängen; da man die Füße wegen des Gepäcks nicht ausstrecken konnte, hingen verzweifelte Passagiere wohl gar die Beine zur Seite des Wagens heraus. Unerträglich war immer noch der lange Aufenthalt auf den Stationen, unter zwei Stunden wurde der Wagen nicht abgefertigt, von Kleve nach Berlin fuhr man elf Tage und elf Nächte in tödlicher Langeweile, zerstoßen und verlahmt. Besser gelang die Reise auf den großen Strömen. Zwar die Donau stromab fuhr noch das altertümliche Bretterschiff, ohne Mast und Segel, von Pferden gezogen; aber auf dem Rhein erfreute den sinnigen Freund der Natur schon die regelmäßige Fahrt der Rheinschiffe. Ihre vortreffliche Einrichtung wird gerühmt, sie hatten Mast und Segel und gebrauchten die Pferde nur zur Aushilfe; sie hatten auch ein ebenes Verdeck mit Geländer, so daß man förmlich darauf spazieren konnte, und Kajüten mit Fenstern und einigen Möbeln. Auf ihnen fand sich bereits eine wechselnde, oft anmutige Reisegesellschaft zusammen. Und die solche Schiffe benutzten waren nicht die Geschäftsreisenden allein. Denn einer der merkwürdigsten Fortschritte war von den Deutschen seit 1750 gemacht worden. Das Naturgefühl hatte eine sehr große Ausbildung erhalten. Den architektonischen Gärten der Italiener und Franzosen war der englische Landschaftsgarten, den alten Robinsonaden die Schilderung liebender Kinder oder Wilden in dem Zauber einer fremdartigen Landschaft gefolgt. Später als den gebildeten Engländer ergriff den Deutschen die Wanderlust in die blaue Ferne. Aber sie war seit kurzem lebendig geworden. Schon wird es Mode, auf der Alm die aufgehende Sonne, das Wogen des Nebels in den Schluchten zu bewundern, und das idyllische Leben bei Butter und Honig, Bergaussicht, Waldeslust, Wiesenblumen, Ruinen wird mit höherem Bewußtsein den »Gemeinplätzen des Vergnügens«: Spiel, Oper, Komödie, Ball gegenübergestellt. Schon hat die Sprache sehr reichen Ausdruck in Schilderung der Naturschönheiten, der Bergformen, Wasserfälle usw., schon ziehen müßige Reisende nicht nur durch die Alpen, auch auf die Apenninen und den Ätna, aber Tirol ist noch kaum entdeckt.

Noch wurde der Gebildete einer Landschaft leicht an seinem Dialekt erkannt, auch im mittleren Deutschland; denn die Sprache der Familien, alle innigsten Laute menschlicher Empfindung waren fast überall mit provinziellen Besonderheiten erfüllt. Und neumodisch und affektiert wurde genannt, wer seine Zunge nach den Buchstaben der Schriftsprache gewöhnte. Ja im Norden wie im Süden galt es für patriotisch und tapfer, die heimische Sprechweise gegen das Eindringen fremder Klänge zu wahren; es kam vor, daß junge Damen aus den besten Häusern einen Bund schlossen, um den Dialekt ihrer Stadt gegen die dreisten Eingriffe fremder Männer, welche zugezogen waren, zu verteidigen. Nur den Kursachsen wurde nachgerühmt, daß sie bis in die untersten Schichten ein reines, verständliches Schriftdeutsch sprächen; ein Lob, das bei der dreihundertjährigen Herrschaft des meißnischen Dialekts in der Schriftsprache allerdings einige Berechtigung hatte, aber für uns auch deshalb merkwürdig ist, weil es ahnen läßt, wie die andern sprachen. Doch wurde schon damals in den größeren Städten bemerkt, daß der Dialekt schnell abnehme, und daß ein starkes Eindringen der Fremden die Ursache sei. Lebhaft und tief wurde das Geschlecht jener Tage durch die Neuigkeiten des Tages angeregt. In den achtziger Jahren zogen in eine größere Stadt des Innern Deutschlands allerdings jeden Tag Neuigkeiten aus der Fremde; denn das Posthorn blies bereits täglich durch die Straßen, aber nicht jeden Tag durch dasselbe Tor. Indes erhielt man doch seine Post heute von München, morgen von Dresden, den nächsten Tag vielleicht von Hamburg. Auch hatte fast jede größere Stadt ihre Zeitung, aber auch diese kleinen Blätter wurden in der Regel nur dreimal wöchentlich ausgegeben, und die Anzeigenblätter, welche seit etwa sechzig Jahren eingerichtet waren, an vielen Orten nur wöchentlich einmal. Und diese regelmäßigen Boten aus der Welt deckten im ganzen das Bedürfnis ausreichend. Zwar wurde viel über die schlechten Straßen und die langsamen Posten des Reiches geklagt, aber Warenverkehr und Geschäfte, Kredit und Kundschaft waren darauf eingerichtet; die Abonnenten der meisten Blätter scheinen nicht so zahlreich gewesen zu sein, daß diese einen wesentlichen Ertrag gewährten; die Zahl der Männer, welche politische Nachrichten aus andern Gegenden Deutschlands und aus fremden Ländern mit dauerndem Interesse lasen, war verhältnismäßig gering. Und Wohlhabende suchten immer noch aus der Hauptstadt geschriebene Zeitungen zu erhalten, deren Abfassung bis gegen das Ende dieses Jahrhunderts ein Industriezweig war, der jetzt etwa in den lithographierten Korrespondenzen, den Zirkularen einiger großen Handelshäuser und hier und da in Diplomatenbriefen fortdauert oder neu eingerichtet wird.

Dagegen war nach andern Richtungen der unverwüstliche Trieb der Seele, neue Nahrung einzunehmen, lebhafter angeregt als jetzt. Die Neuigkeiten der Stadt selbst und des Privatlebens darin beschäftigten große und kleine Leute immer noch so ernsthaft, ja leidenschaftlich, daß es uns gar nicht leicht wird, diese tätige Aufnahme zu begreifen. Der Klatsch war unaufhörlich, erbittert und bösartig. Jedermann wurde durch solch Persönliches affiziert; was man mit angenehmem Schauder vom lieben Nächsten hörte, trug man eifrig weiter. Und es war Freundespflicht, dergleichen den Angegriffenen selbst mitzuteilen. Wie schwer immer noch üble Nachrede überwunden wurde, erkennen wir aus zahlreichen biographischen Aufzeichnungen jener Zeit. Außer den mündlichen Angriffen wurden auch geschriebene, oft in Versen, herumgetragen, zuweilen gedruckt; sie waren natürlich anonym, aber da die ganze Stadt den Verfasser suchte, gelang es ihm doch selten, unbekannt zu bleiben. Mehr als einmal wurde die Obrigkeit gegen dergleichen Pamphlete zu Hilfe gerufen, und strenge Edikte des Rates waren nicht ungewöhnlich, in denen die Verfasser und Verbreiter von »Libellen« kräftig bedräut wurden. Denn ein gestrenger Rat und hohe Obrigkeit waren selbst darin äußerst empfindlich, auch die höchsten Autoritäten hatten viel von geheimer Schriftstellern zu leiden. Diese nimmt in der Literatur des vorigen Jahrhunderts – namentlich in Preußen – breiten Raum ein, und während die Klatschschriften auf größere Regenten als Bücher, häufig in Romanform, ausgegeben werden, halten sich die Angriffe auf kleinere Gebieter in dem bescheideneren Format der Flugschriften. Mehr als einmal gaben solche anonyme Anfälle Veranlassung zu ernsthaften Händeln innerhalb einer Stadtgemeinde, ja kaiserliche Kommissäre wurden abgesandt, um die Verbreiter der »unwahrhaftigen, injuriösen, ehrabschneiderischen« Pasquille zu ermitteln und zu strafen.

Aber auch wo ein öffentliches Urteil über einen Mitbürger oder eine Autorität unbefangene Würdigung erstrebt, ist sichtbar, wie schwer dem Schreiber die innere Freiheit und Unparteilichkeit wird, die konventionelle Höflichkeit und die Vorsicht des Verfassers wird nicht selten unangenehm vermindert durch eine hypochondrische, kleinliche, vielleicht boshafte Auffassung des lieben Nächsten. Denn man war zwar immer noch furchtsam und rücksichtsvoll auch im Verkehr, ängstlich bedacht, jedem seinen gebührenden Anteil von Artigkeit zu erteilen, aber man war ebenso reizbar, höchst empfindlich und besaß in der Regel nicht den sicheren Maßstab für den Wert eines Mannes, welchen feste Selbstachtung verleiht.

Neben dem neuen Bildungsstoff, der die Gelehrten des vorigen Jahrhunderts beschäftigte, blieb die Naturwissenschaft immer noch populär. Sie hatte seit hundert Jahren in großartiger Tätigkeit auf die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf gegen den Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht, neue Entdeckungen auch in weitere Kreise zu tragen. Sammlungen von Naturgegenständen wurden häufig angelegt. Die Alchimie hatte ihre Gläubigen verloren, und die Adepten von Profession waren im Aussterben; aber in den Retorten und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres Kreises chemische Prozesse dargestellt, das kartesianische Teufelchen, der Heronsbrunnen, die Laterna magica und andere physikalische Schaustücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden wieder bewundert und erklärt.

Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit Menschengedenken das Publikum so aufgeregt, als die Erfindung des Luftballons. Im Jahre 1782 hatte Cavallo die ersten Papierballons steigen lassen, im Jahre 1783 erhoben sich die ersten Montgolfieren und Charlieren in die Luft. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und Grenzzeichen zahlloser Souveränitäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Erstaunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidenschaftlichen Anteil an dem neuen Fund des Menschengeschlechts. In die Seelen Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung von hundert beengenden Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des menschlichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals aber wurde der unternehmende Mann, welcher sich mit Erfolg dem Wagnis der neuen Entdeckung aussetzte, wie ein Held und Reformator angestaunt. Und der größte Dichter der Deutschen legte noch in späteren Jahren Zeugnis ab von der stillen Bewegung jener Jahre. Er sagt: »Wer die Entdeckung der Luftballone mit erlebt hat, wird ein Zeugnis geben, welche Weltbewegung daraus entstand, welcher Anteil die Luftschiffer begleitete, welche Sehnsucht in so viel tausend Gemütern hervordrang, an solchen längst vorausgesetzten, vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen, gefahrvollen Wanderungen teilzunehmen; wie frisch und umständlich jeder einzelne glückliche Versuch die Zeitungen füllte, zu Tagesheften und Kupfern Anlaß gab; welchen zarten Anteil man an den unglücklichen Opfern solcher Versuche genommen. Dies ist unmöglich selbst in der Erinnerung wiederherzustellen, so wenig als wie lebhaft man sich für einen vor dreißig Jahren ausgebrochenen höchst bedeutenden Krieg interessierte.« So sprach Goethe noch lange Jahre nachherZuerst 1836 im I. Band (S. 475) der Quartausgabe gedruckt. – Am Ende des Jahres 1783 schreibt Goethe an Lavater: »Ergötzen dich nicht auch die Luftfahrer? Ich mag den Menschen gar zu gerne so etwas gönnen, beiden, den Erfindern und den Zuschauern«; und am 27. August 1784 schickt Goethe aus Braunschweig an Frau von Stein Pariser Zeitungen, worin die Luftreise von Blanchard beschrieben war. in lebhafter Erinnerung an die großen Eindrücke, welche die neue Erfindung ihm selbst in seiner kräftigen Jugendzeit gemacht.

Es ist deshalb nicht nur unterhaltend, auch lehrreich zu sehen, wie eine solche Luftfahrt aus dem engen Horizont einer deutschen Reichsstadt von den Zeitgenossen aufgefaßt wurde. Über die Auffahrt des glücklichen Abenteurers Blanchard zu Nürnberg im Jahre 1787 ist uns eine hübsche Flugschrift erhaltenAusführliche Beschreibung der achtundzwanzigsten Luftreise, welche Herr Blanchard den 12. November 1787 zu Nürnberg unternahm und glücklich vollzog. Mit vier Kupfertafeln begleitet. Verfaßt und verlegt von Johann Mayer, Schriftstecher und Kupferdrucker in Regensburg 1787. Auf dem Titel befindet sich Blanchards Silhouette von Lorbeer und Rosen umgeben, mit der Unterschrift: Le plus célèbre Aéronaute. Die vier Kupfertafeln stellen dar: die Auffahrt selbst mit der staunenden Volksmenge, die triumphierende Rückfahrt des Ballons auf einem Wagen, die Maschinen zur Führung und den Fallschirm, endlich sogar den Grundriß des Platzes, von welchem die Luftfahrt ausging.. Aus ihr wird hier die Hauptsache mit den Worten des aufmerksamen Beobachters mitgeteilt.

Herr Blanchard reiste nach seiner zu Straßburg vollzogenen sechsundzwanzigsten Luftreise durch Nürnberg nach Leipzig, um seine siebenundzwanzigste Luftauffahrt alldort zu unternehmen. Viele vornehme Einwohner Nürnbergs schlugen ihm vor, nach seiner Auffahrt zu Leipzig zurückzukommen, um die achtundzwanzigste Luftreise in Nürnberg zu vollziehen; er versprach's, und während seinem Aufenthalt zu Leipzig wurde eine Subscription eröffnet. Es wurde der Preis der Plätze à vier, zwei und einen Laubthaler angesetzt und endlich der 5. November zur Auffahrt bestimmt. Herr Blanchard kam den 15. October von Leipzig in Nürnberg an, auch traf sein mit allen Füll- und Luftfahrt-Gerätschaften beladener und für dieselben besonders zugerichteter Wagen ein, welcher auf der Stadtheuwaage gewogen und 43 Centner schwer befunden wurde.

Von alle den boshaften Erdichtungen und schändlichen Verläumdungen, welche wider Herrn Blanchard ausgestreut wurden, will ich nichts sagen. Ohne mich weder an das übertriebene Lob, noch den niedern Tadel zu kehren, womit Herr Blanchard auf allen Seiten umringt war, nahm ich, von einigen meiner Freunde aufgemuntert, mir vor, eine ausführliche Geschichte und getreue Zeichnungen von allen Begebenheiten der achtundzwanzigsten Aerostatischen Reise herauszugeben. Auf dem Neuen-Bau wurde eine Hütte von Brettern errichtet, worin während drei Wochen, nämlich bis zum 11. November, der mit atmosphärischer Luft aufgeblasene Ballon und alle andern zur Luftschifferey gehörigen Instrumente für 12 und 24 Kreuzer zu sehen waren.

Auch wurde auf dem sogenannten Judenbühl außerhalb der Schanzen zwischen dem Lauffer und Vestner Thore ein zur Auffahrt bequemer Plaz ausersehen, auf demselben eine etwa 36 Fuß hohe und auf jeder Seite ins Viereck 40 Fuß breite Hütte ohne Dach, oder ein Verschlag errichtet, und um dieselbe ein ziemlicher Raum für die Subscribenten einzufangen angeordnet. Zu Anfang des November wurden die Pläze für die Subscribenten erweitert, die Preise erniedrigt, und die Auffahrt selbst auf den 12. November festgesetzt. Nun bezahlte man auf dem ersten Plaz zwei, auf dem zweiten einen Laubthaler, auf dem dritten einen Gulden und auf dem vierten vierundzwanzig Kreuzer.

Es ergingen von Seiten der hohen Obrigkeit zur Sicherheit der Stadt und der Fremden vortreffliche Verordnungen sowie auch von Seiten der Entrepreneurs für die Bequemlichkeit und das Vergnügen des Publikums alle nur ersinnliche Sorgfalt getragen ward. Dennoch gab es boshafte Menschen, welche ausstreuten, daß die Auffahrt später oder wohl gar nicht für sich gehen würde; daß die Lebensmittel in unerhörten Preisen wären; ja was noch mehr ist, daß des Herrn Markgrafen von Anspach-Bayreuth Durchlaucht die Anstalten am Tage der Auffahrt durch's Militär würde ruinieren lassen; alles dies geschah blos, um die Fremden abzuhalten, die Stadt um den davon zu ziehenden Nuzen und Ruhm wegen ihrer löblichen Anstalten zu bringen und Herrn Blanchard und seine Freunde furchtsam und lächerlich zu machen. Die Cabale gelang nicht; und ich kann versichern, daß nicht nur der ohnehin bestimmte Preis der Victualien gar nicht erhöhet, sondern die täglich zur Stadt gebrachten im Überfluß und wohlfeiler als sonst zu haben waren. Zur Sicherheit und zum Vergnügen der Fremden wurden von sehr vielen Einwohnern neue Laternen an die Häuser angemacht, Pechpfannen aufgehängt, der so bekannte Kristkindels-Markt aufgeschlagen und auch bei Nacht erleuchtet; die Wachen wurden verdoppelt, und von der Stadt besoldete Personen auf verschiedene Pläze beordert. Kurz zu sagen: ein hoher Magistrat und löbliche Bürgerschaft rechtfertigten durch vortreffliche Policey-Anstalten zum Vergnügen der Fremden, gute Bewirthung und höfliches Betragen gegen jedermann, die sowohl von In- als Ausländern von denselben gehegte Meinung vollkommen.

Endlich kam der 12. November heran, es war ein festlicher Tag. Schon ein paar Tage vorher wurde beschlossen, keine Rathssession zu halten, welches sich niemand zu erinnern weiß. Die mehrsten Gewölber und Läden wurden nur früh oder gar nicht eröffnet. Bey den drei Kirchen zu St. St. St. Lorenz, Sebald und Egidien wurden starke Wachen postiert, die beständig mit Patrouilliren abwechselten, und drei Thore blieben ganz verschlossen.

Schon um Thorhausschluß begaben sich eine Menge Menschen auf den Ort des Schauspiels, auf welchem in gewisser Entfernung viele Hütten und Zelte errichtet wurden, worin alle Sorten von Getränken und Speisen zu haben waren; in einigen derselben befanden sich auch Musikanten, und alles schien eine große Feyerlichkeit anzukündigen.

Als gegen neun Uhr durch drei Böller das Zeichen zum Füllen des Ballons gegeben wurde, befanden sich schon viele tausend Menschen auf dem Judenbühl, und nun kamen durch den Heroldsberger Schanz-Posten und durch jenen beim Schmausen-Garten ein solcher Strom von Fußgängern, reutenden und fahrenden Personen auf den Plaz zu, daß derselbe bis zum lezten Signal ein unabsehbares Feld von Menschen vorstellte.

Die Reutenden und Kutschen wurden durch reutende Dragoner an weit entfernte, für dieselben bestimmte Pläze angewiesen. Um zehn Uhr geschah das zweite Signal mit zwei Böllern, gegen elf Uhr aber das dritte, zum Zeichen, daß der Ballon gefüllt sey, mit einem Böllerschuß. Ausser diesem, auf dem Plaze sich befindlichen Volke, welches sicher 50–60 000 Seelen betrug, befand sich noch eine Menge von vielen tausenden in und auf der Vestung, Pasteyen, Mauern und den darüberragenden Häusern, Thürmen, Schanzen, Gartenhäusern, ja sogar auf den an den Gartenmauern errichteten Bühnen usw., und dennoch herrschte unter diesem unzählbaren Menschenhaufen eine bewunderswürdige Ordnung und Stille; kein Mensch drängte den andern, denn noch so viel Personen hätten auf diesem herrlichen Plaze Raum genug gehabt.

Die Witterung war erwünscht, die Luft bewegte sich kaum zum Bemerken südwestlich. Der Himmel war gegen Morgen und Mittag fast gar nicht, gegen Abend etwas mehr, gegen Mitternacht aber ziemlich bewölkt.

Herr Blanchard war bey dem Füllen des Ballons so thätig und eilte um nachzusehen mit einer solchen Munterkeit umher, als ob er bey der vergnügtesten Gesellschaft im Tanz begriffen wäre. Man sagt, er wäre Morgens ein Uhr schon auf den Plaz hinaufgegangen, um zu visitiren, herzurichten, die Massen Spiauteros abzuwägen usw., und alles in einen solchen Stand zu setzen, daß er auf's erste Signal zum Füllen in völliger Bereitschaft dazu seyn könnte, welches er auch pünktlich beobachtete, so daß alle zusehenden Subscribenten sogleich für seine gute Sache eingenommen wurden. Er stieg mit aller Gegenwart des Geistes, welche ihn nie zu verlassen scheint, getrost nach höhern Regionen auf.

Man sagt, er habe, wie er vor jeder Auffahrt zu tun pflege, den Tag vorher communicirt.

Bis Herr Blanchard sich zur Abreise fertig machte und seine Gondel bestieg, warteten aller Augen auf das Aufsteigen des schon seit einer halben Stunde etwas über den Verschlag herausstehenden Ballons. Nun bewegte sich die große Maschine um elf Uhr sechsundzwanzig Minuten aufwärts und zugleich geschahen zum Zeichen der Abfahrt vier Böllerschüsse, schnell aufeinander, worein sich Trompeten- und Paukenschall mischte.

Majestätisch und sanftschnell war des Aeronauten Emporschweben über den Verschlag heraus; er winkte, das an seine Gondel befestigte Seil loszulassen, und erlitt dabey nicht die geringste Erschütterung. Mit bangem Entzücken und frohem Staunen über dies herrliche Schauspiel war eine solche feyerliche Stille verbunden, als ob kein lebendiges Geschöpf auf dem großen Plaze sich befunden hätte. So wie bei der schönsten Witterung der Rauch als eine Säule emporsteigt, so gerade stieg auch die von des Tages Helle erleuchtete und durchsichtig scheinende Kugel mit dem nach sich ziehenden Luftschiffer auf. Von der Höhe eines Thurmes warf er Papiere auf die Zuschauer herab.

Als Herr Blanchard im Aufsteigen ein Sandsäckchen ausleerte, um höher zu steigen, bemerkten einige Personen mit mir, daß er öfters die Seile des Netzes auf eine Seite zu anzog, welches uns auf die Gedanken brachte, ob er nicht etwa dadurch dem Ballon eine Richtung geben könnte, dieweil sein Ballon vom Aufsteigen an bis zum Niederlassen den Weg eines umgekehrten Fragezeichens ¿ machte. Vielleicht ist's aber eine bloße Mutmaßung, und seine Wendung dem höhern uns vielleicht entgegengesetzten Luftzuge zuzuschreiben.

Gleich darauf salutierte er mit zwo Fahnen die ihm Nachsehenden und die Stadt; worauf ein allgemeines lauttönendes Vivatrufen und Händeklatschen entstund. Herr Blanchard stieg noch immer gerade in die Höhe, wandte sich etwas südwestwärts gegen die Vestung, als ob er über die Stadt wegfliegen wollte, drehte sich aber immer mehr nach Westen, und endlich westnordwärts nach dem Dorfe Thon zu, so eine halbe Stunde vom Orte der Auffahrt entfernt. Hier war er etwa zwölf Minuten in der Luft und schien nur so groß als eine mittelmäßige Schießscheibe zu seyn; auch hatte er nun die größte Höhe erreicht und stund nach der Nürnberger Postzeitung 800 Klafter oder 4800 Fuß über der Meeresfläche.

Von dieser gewaltigen Höhe ließ der mutige Luftsegler den Fallschirm mit dem Hündchen herab, welcher so langsam herniedersank, daß darüber über fünf Minuten verflossen, bis das aeronautische Thierchen bei Thon an der Erlanger Straße auf ein Samenfeld wohlbehalten zur Erde kam.

Als Herr Blanchard so gerade aufstieg, bewegte sich kein Mensch von der Stelle; sobald er sich aber seitwärts wandte, bewegte sich die ganze Masse von Menschen als ein Ameisenhaufen, erst langsam nach der Seite seiner Richtung zu, und in ein paar Minuten hernach lief alles was lauffen konnte. Es ging zu Pferde und zu Fuß über Hecken und Gräben, über Felder und Wiesen, wie man's ansah. Nichts war den Fußgängern, insonderheit dem Weibsvolk, hinderlicher als Krautfelder und die sich noch befindlichen hohen starken Tobak-Stengel, es gab ein beständiges Gelächter, weil alles im Lauffen über sich sah, und folglich viele drollige Fälle, Stöße und Wendungen sich ereigneten; denn es sah just aus, als ob die Einwohner einer volkreichen Stadt vor einem großen Unglück flöhen, und wer einmal im Strom war, der muste entweder mit fortlauffen oder sich derb zerstoßen lassen.

Während dieser lächerlichen Jagd dem Dorfe Thon zu ereignete sich's, daß ein Haas aufgejagt wurde, und ungeachtet aller seiner Eilfertigkeit und listigen Wendungen, gelang es ihm doch nicht, das Freye zu erreichen, der Jäger waren zu viel, das arme Tier wurde erhascht, und da ein jeder an dieser merkwürdigen Luftfahrtshaasenjagd Antheil haben wollte, in einer Minute in hundert Stücke zerrissen. Der eine hatte ein Ohr, der andere einen halben Lauf, der dritte in seinen blutigen Händen ein paar Haare.

Herr Blanchard flog unterdessen immer nach der nördlichen Gegend zur linken Seite der Erlanger Chaussee weg und schien eine Viertelstunde lang als an die Wolken geheftet, nur mit dem Unterschiede, daß sein Ballon immer kleiner und zulezt so klein als ein Zwirnknäulchen wurde. Doch blieb er beständig sichtbar. Um zwölf Uhr zwölf Minuten bemerkte man, daß er ziemlich schnell herabsank, wie er denn auch ein Viertel auf ein Uhr, an dem Wege beym Boxdorfer Wäldchen nach Braunsbach zu, eine gute Meile von dem Ort der Auffahrt sich glücklich niederließ, und durch zween Studenten zu Pferde und einige herbeygeeilte Boxdorfer Bauern beym Seil ergriffen wurde.

Da der zur Erde niedergesunkene Aeronaute nicht deutsch, und die ihn zuerst ergriffen nicht französisch verstunden, so gab es eine artige Szene: Er rief ihnen immer zu: en bas, en bas, sie sollten niederziehen, um die Gondel zur Erde zu bringen; die Bauern hingegen meinten, sie sollten das Seil auslassen, und waren just auf dem Punkt solches zu tun, als ihnen die anderen dazu kommenden Leute bedeuteten, sie müsten niederziehen und die Gondel mit den Händen ergreifen, sonst flöge das Ding wieder in die Höhe. In der Tat erstaunten sie über die Maßen, daß sie anstatt zu tragen, wie sie glaubten, unter sich drücken müsten. »Da dieser Herr«, sagten sie, »auf unserm Grund und Boden vom Himmel kam, so lassen wir uns auch das Recht nicht nehmen, ihn, wo er hergekommen ist, hinzubringen«, und erhuben Freuden-Geschrey, worein die immer mehr herbeygekommenen Reuter und Fußgänger treulich mit einstimmten. Die Gondel wurde dergestalt umringt und begleitet, daß Herr Blanchard kaum heraussehen konnte.

Herr Blanchard wurde stehend in seiner Gondel mit dem über ihm schwebenden und noch nicht entkräfteten Ballon, welcher jetzt, da etwa der vierte Teil Luft herausgelassen war, die Gestalt einer Birne hatte, nach der Stadt gezogen. Sogleich kamen auch Se. Hochfürstliche Durchlaucht von Anspach-Bayreuth herbeygesprengt, und Herr Blanchard hatte das Glück Höchstdieselbe zu sprechen und sich Ihres vollkommenen Beyfalls und zugesagten Douceurs zu erfreuen. Die Gondel wurde nun niedergezogen, und der Luftsegler von dem sich immer mehr versammelten Volk, das ein beständiges Jubelgeschrey anstimmte, und unter herbeygekommener Musik bis an den Ort des Aufsteigens getragen. Herr Blanchard ließ sich um drei Uhr nach einigen gespielten Tänzen und Märschen bei vierzig Fuß in die Höhe, und sank wieder in den Verschlag, woraus er aufstieg, hinab, welches den noch zu Tausenden versammelten Zuschauern ein ungemein herrliches Schauspiel war.

Als Herr Blanchard bald darauf zur Stadt in sein Logis fuhr (es soll die Chaise einer Frau von N. gewesen sein, denn seine mit vier Pferden bespannte englische Chaise fuhr hinter ihm her), spannte das vom Freuden-Taumel frohlockende Volk die Pferde aus und zog nach englischer Sitte den kühnen Aeronauten im Triumph daher durch die ganze Länge der Stadt bis zum Rothen Roß.

Herr Blanchard saß vorne und trug die Uniform seiner Gondel, nemlich blau und weiß mit dergleichen Federbusch auf dem Hut. Zwey herrlich gekleidete Frauenzimmer stunden hinter ihm in der Chaise, sie trugen die Livrée seines Ballons, roth und blaßgelb, und hinten auf stund anfangs Herr Blanchard's Bedienter, und salutirte mit den zwo Fahnen gegen alle vornehme Gebäude, worinn eine erstaunliche Anzahl Adelicher und anderer distinguirter Personen dem Zuge zusahen und ein unaufhörliches Vive Blanchard! Vivat etc. und Händeklatschen hören ließen. Aus vielen Häusern ertönten Musiken aller Arten.

Gegen vier Uhr kam endlich Herr Blanchard im Rothen Roß an, aus dessen Erker ihm Trompeten und Pauken entgegenschallten. Die Straße war von Menschen angepropft; Herr Blanchard erschien am Fenster und dankte mit dreimaligem Compliment dem Volke seine Erkenntlichkeit zu, welches das Volk mit lauttönenden Vivatrufen beantwortete.

Man sagt, Herr Blanchard habe, als er auf den Saler kam, von zween Bürgern, welche mit einem Glas Wein sein Vivat tranken, und ihm auch ein Glas zu trinken präsentirten, dasselbe ausgetrunken, und gerührt über den lauten Jubel und Beyfall und die ihm angethanen Ehrenbezeugungen, Thränen der Freude und des Dankes vergossen.

Um fünf Uhr wurden unter Direction des Herrn Schopf im Schauspielhause zwei Lustspiele, und nach diesen ein von Herrn Rolland auf die Feyer der Blanchardischen Luftreise verfertigtes Ballet, betittelt: »Das Fest der Winde« gegeben, wobey das Opernhaus gedrängt voll war. Nach dem Schauspiel gieng's zur Tafel und Mascarade wieder in's Rothe Roß, welche sich früh den 13. endigte.

Auf diese Weise wurde der für Einheimische als Fremde so frohe und merkwürdige Tag beschlossen, ohne daß nur einem Menschen bey dem außerordentlichen Zusammenfluß von Leuten, ein Unglück begegnet wäre.

Soweit der Wortlaut des Berichtes. Die Festfeier aber dauerte über den 12. November hinaus. Noch am Abend des Tages wurde angezeigt, daß Herr Blanchard, gerührt vom Beifall des Publikums, zur Bezeigung seiner Dankbarkeit und mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis morgen ein neues aerostatisches Experiment machen werde, Preis des Platzes 36 Kreuzer. An diesem Tage ließ Herr Blanchard einen kleineren Ballon wieder unter Böller- und Trompetenschall steigen, im Korbe befand sich ein kleiner »Seidenpudel« mit zwei Briefen. Im ersten stand: »Dieser Ballon gehört Herrn Blanchard; man bittet den Finder, denselben nach Nürnberg ins Rothe Roß wieder zu bringen.« Im zweiten Brief: »Dieser Hund gehört der Frau Obristin, Freifrau von Redwitz, abzugeben gegen guten Recompens zu Nürnberg im Rothen Roß.« Der Ballon machte in fünfundvierzig Minuten eine Reise von vierzehn Stunden und sank, wie ein erstaunter Bericht aus Creussen meldete, in der Nähe des Ortes als etwas, das nicht Wolke, nicht Drache, nicht Vogel, erst klein und schwarz, dann groß und rötlich war, schnell aus den Wolken herab. Auch der Boloneser wurde nach einigen Tagen wohlbehalten seiner Herrin zurückgebracht. Herr Blanchard aber ward wieder in seinem Wagen unter Jubel und Vivatrufen vom Volke durch die Stadt zu einem Feuerwerk gezogen, dann in das Schauspielhaus, wo diesmal ein zur Feier der Luftreise verfertigtes, großes allegorisch-musikalisches Konzert aufgeführt wurde. Einige Tage darauf überreichte Blanchard dem hohen Magistrat die Fahnen zum Andenken, der Magistrat gab ihm dagegen ein solennes Souper im Schießgraben und beschenkte ihn mit sechs Medaillen, jede von acht Dukaten Wert.

Die Flugschrift enthält außerdem noch einen interessanten »Auszug über Herrn Blanchards Leben, vornehmste Luftreisen und Charakter«, nicht ohne tadelnde Bemerkungen über die Verkleinerer des Mannes. Denn es war leider auch in diesem Fall dem fremden Luftschiffer nicht vergönnt, ohne Neider und Mißgönner seinen Triumph zu feiern. Schon vor der Auffahrt war in Nürnberg eine andere Flugschrift erschienen, welche unter dem Titel: »Blanchard, Bürger von Calais«, Leben und Tätigkeit des Mannes in einer kritischen Weise besprach, durch welche der eitle Franzose so gekränkt war, daß er beim Aufsteigen eine andere Flugschrift: »Abrégé de mes Aventures terrestres« auf die Zuschauer herabwarf, worin er stolz und erbittert gegen die frühere Broschüre loszog.

Und zuletzt ist Pflicht zu erwähnen, daß auch der hochlöbliche Rat von Nürnberg seinerseits alles Erdenkliche getan hatte, den Verlauf dieses außerordentlichen Festes sicherzustellen. Durch sehr ausführliche, eigens veröffentlichte Fahr- und Gehordnungen, durch Vorsorge für Herbeischaffung der Speisen und Getränke und durch billige Taxen derselben, durch ausgestellte Wachen und Reiter, durch strenges Verbot jedes Baumbesteigens, Verderbens der Felder und jedes unartigen Geschreies, durch scharfe Patrouillen in der Stadt, durch Bestellung eines Chirurgus nebst Gesellen und Verbindezeug für den Fall, daß jemand auf »diese oder jene Art« beschädigt würde, durch die Böllersignale, »damit niemand ohne Not der freien Luft zu lange sich aussetzen dürfe«, endlich durch Ermahnung zur Ordnung und Mäßigung, zumal für den Fall, »wenn die Luftfahrt durch einen Zufall vereitelt werden oder der gefaßten Meinung nicht entsprechen sollte«. Auch den Festplatz hatten Rat und Unternehmer ganz meisterhaft eingerichtet. Denn, wie die Flugschrift meldet: »Der ganze Platz sah einer kleinen Festung ähnlich, welche durch die spanischen Reuter und 60–80 Soldaten hinlänglich bedeckt war, wenn ja wider Vermuten der Pöbel hätte Unruhen anfangen wollen, wie es manchmal bey dergleichen Gelegenheiten zu gehen pflegt. Man muß es aber vom Größten bis zum Geringsten rühmen, daß alles durch Bescheidenheit und Güte im Befehlen und mit Stille und Ordnung im Gehorchen glücklich vorüberging.«


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