Gustav Freytag
Bilder aus der deutschen Vergangenheit
Gustav Freytag

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XII
Die fahrenden Leute

Ihre Herkunft aus dem römischen und germanischen Heidentum. Ihre Tätigkeit im Mittelalter. – Vollark und der Teufel. Allmähliche Versöhnung mit den Seßhaften. Die Fechter, Sänger, Mimen. Eindringen in die geistlichen Spiele. Fahrende Schüler. – Zigeuner und ihre Sprache. – Rotwelsch und die Bettler

Allen Vereinen und Bruderschaften der alten Zeit, welche der Seele Heil oder irdische Vorrechte suchten, und allen gesetzten Menschen, deren Leben umfriedet war durch die Grenzzeichen und das Recht einer Heimat, stand gegenüber eine große Gesellschaft von Rechtlosen und Heimatlosen, welche alles entbehrten, was damals Sicherheit und Ehre gab, die doch überall zu finden waren und bei jeder gemeinsamen Tätigkeit der anderen mitspielten, mißachtet und vielbegehrt, als Kinder des Teufels der strengen Kirche verhaßt, als Bewahrer heiterer Kunstfertigkeit Geistlichen und Laien sehr willkommen, die Lustigmacher und Freudebringer des Volkes: die große Genossenschaft der fahrenden Leute.

Diese Kinder der Landstraße haben eine lange Geschichte, welche mehr Beachtung verdient, als ihr bis jetzt zuteil geworden, denn sie waren durch mehr als ein Jahrtausend die volkstümlichen Bewahrer alter Poesie, der Musik und aller darstellenden Künste.

Auch ihre Geschichte lehrt, wie innig und ununterbrochen der Zusammenhang des deutschen Lebens mit dem römischen Altertum ist. So hatte sich mit zahllosem anderem das verachtete Geschlecht der Gladiatoren, Histrionen, Thymeliker durch die Stürme der Völkerwanderung erhalten und von Rom aus unter die Barbarenstämme verbreitet. Sie führten den blutigen Vandalenhaufen die unzüchtigen römischen Pantomimen auf; sie standen vor den Hütten des fränkischen Häuptlings und pfiffen und spielten fremdartige Weisen, welche vielleicht einst mit den Orgien asiatischer Götter nach Rom gekommen waren; sie mischten sich unter die gotische Gemeinde, welche aus der neugebauten Kirche auf den Kirchhof strömte, und öffneten dort ihren Kasten, um einen Affen mit roter Jacke als fremdes Ungeheuer zu zeigen oder die grotesken Figuren altlateinischer Drahtpuppen, den Maccus, Bucco, Pappus und wie sonst die antiken Väter unserer Hanswürste heißen, der Dorfjugend aufzuführen, welche vor dem fremden Wunder die großen blauen Augen weit aufriß. Unterdes erboten sich wohl andere Glieder der Gauklerbande, den Kriegern der Gemeinde gegen Bezahlung ein Kampfspiel mit scharfen Waffen auszuführen, mit den Kunstgriffen und Gefahren des römischen Zirkus; dann schloß sich der Ring der trotzigen Männer und verfolgte mit leidenschaftlicher Spannung die Wechselfälle des Kampfes um »Lohn«, den die Zuschauer um so mehr bewunderten, je blutiger er wurde, während sie die Elenden, die so für Geld kämpften, mit nicht größerer Achtung betrachteten als zwei Wölfe oder hungrige Hunde. Aber für die vornehmen Zuschauer gab es noch andere lockende Künste. Auch fahrende Frauen zogen mit den Männern durch die deutschen Stämme, gewandt, frech, womöglich in glänzendem Aufzug. Wenn sie das griechische Tamburin oder die asiatische Klapper in den üppigen Windungen eines bacchischen Tanzes schwangen, so waren sie den deutschen Edlen und geistlichen Herren zwar in der Regel unwiderstehlich, ernsten Leuten aber äußerst anstößig. Schon im Jahre 554 schritt ein Frankenkönig gegen den Unfug der fremden fahrenden Weiber ein, und der würdige Hinkmar warnt seine Priester väterlich vor diesen Frauen, deren fremdklingende Bezeichnung von treuherzigen Mönchen durch ein sehr bekanntes, aber derbes Wort erklärt wird.

An solche fremde Gaukler schloß sich schnell ein zahlreicher deutscher Nachwuchs. Die deutschen Stämme hatten seit uralter Zeit wandernde Sänger gehabt, Träger der Neuigkeiten, Verbreiter von epischen Gesängen und Liedern. Auch diese waren von Hof zu Hof gezogen, hoch willkommen in den großen Blockhäusern der Vornehmen, geehrte Gäste, vertraute Boten, welche oft von ihren Gastfreunden holderen Lohn zu erhalten wußten als goldene Armringe oder neue Gewänder. Sie hatten einst am Herdufer zur Harfe von den abenteuerlichen Fahrten des Donnergottes nach der Riesenwelt und von dem tragischen Untergang der Nibelungen, dann von Attilas Schlachten und den Wundern der südlichen Länder gesungen. Dem neuen Christentum aber wurde der reiche Schatz der alten einheimischen Gesänge unheimlich. Karl der Große sammelte noch mit großem Sinn die Heldenlieder der deutschen Stämme, sein pfäffischer Sohn Ludwig haßte und verachtete sie. Allerdings waren diese Gesänge so voll Heidentum, daß die Kirche Ursache hatte, in Synodalbeschlüssen gegen sie zu eifern. Mit ihnen kam das Sängergeschlecht, welches sie trug und verbreitete, in die Ungnade der Kirche. Die Lieder hörten deshalb nicht auf, aber ihre Sänger wurden niedriger, sie fielen endlich, wenigstens zum Teil, der Klasse jener fahrenden Leute zu, und das Volk gewöhnte sich, das schönste Erbe seiner Vergangenheit von den Lippen verachteter Spielleute zu hören. [...]

So germanisierte sich schnell das fahrende Geschlecht und glitt während des ganzen Mittelalters zwischen den abgegrenzten Kreisen des Volkes umher, vor dem Gesetz heimatlos und rechtlos. Die Kirche fuhr fort, das »fahrende und gehende Volk« durch wiederholte Dekrete zu beargwöhnen, ja das Recht an den Sakramenten des Christentums teilzunehmen wurde ihm beschränkt. Die alten Rechtsbücher erlaubten, »Klopffechter um Geld« zu erschlagen ohne Buße wie herrenlose Hunde oder, was beinahe schlimmer war, sie gewährten dem beschädigten fahrenden Mann nur eine höhnende Scheinbuße. War ein Spielmann mit dem Schwert oder Messer getroffen, so durfte er nur auf den Schatten, welchen sein Beschädiger an die Wand warf, denselben Schlag oder Stoß tun.

Mit dieser »Unehrlichkeit« aber kontrastierte sehr die Beliebtheit, deren sich die Fahrenden in der Regel erfreuten. Einzeln oder in Banden zogen sie durch das Land, bei großen Hof- und Kirchenfesten strömten sie zu Tausenden zusammen. Dann war ihnen Trank, Speise, Kleider, Geld zu spenden allgemeiner Brauch, und wohl war es geraten, sie gut zu behandeln, denn sie waren als böse Zungen allbekannt und verkündeten in Spottliedern durch alle Länder die Schande des kargen Mannes mit einer Rachsucht, welche durch das Gefühl geschärft werden mochte, daß ihnen solche Rache das beste Mittel sei, sich gefürchtet zu erhalten. Nur selten wagte ein Fürst, wie Kaiser Heinrich II., oder ein frommer Bischof, ihre Banden ohne Lohn von seinen Festen fortzuweisen. Fast überall sind sie bis ins 15. Jahrhundert zu finden, wo eine größere Anzahl von Menschen gesammelt wird. Sie marschieren mit Dudelsack und Fiedel vor den bewaffneten Haufen, sie ziehen im Gefolge der Heere gegen die Slawen, nach Italien, nach Jerusalem, sie blasen und rufen bei jedem Turnier und singen auf der Stelle das Lob der Sieger, sie gaukeln und tanzen mit und ohne Kostüm bei großen Mahlzeiten oder schweben auf dem Seil an jeder Messe und machen den Totensprung in voller Rüstung zwischen zwei Schwertern so fürchterlich, daß schreckhafte Leute in Ohnmacht fallen. Sie singen Wanderlieder, Spottlieder, Liebeslieder und erzählen alte Heldensagen und Märchen aus fremden Ländern auf der Ofenbank des Bauern und in der Hausflur des Bürgers wie in der Halle der Burg. Dort ist vielleicht der Herr auf einem Kreuzzug abwesend, und die Frau und das Gesinde hören ängstlich auf die Märchen und Lügen des gewandten Spielmanns. Heute ist er Erzähler fremder Wundergeschichten, morgen verstohlener Bote zwischen zwei Liebenden; dann wieder tritt er eine Zeitlang in den Dienst eines ritterlichen Minnesängers, dessen Minnelieder er mit seinem Spiel begleitet und im Land zu verbreiten unternimmt, ungefähr wie jetzt eine Zeitschrift tut. Oder er kleidet sich noch auffallender, als er sonst pflegt, nimmt einen Kolben in die Hand, setzt die Narrenkappe auf und wird als Narr Gefährte eines Adligen oder Begleiter eines vornehmen Geistlichen. [...]

Seit dem 13. Jahrhundert wird die rechtliche Lage der Fahrenden besser, das Leben aller Klassen ist frivoler, kecker, rücksichtsloser, das Begehren nach burleskem Scherz, nach Saitenspiel und Tanz, Gesang und mimischen Darstellungen so allgemein, daß die Kunstfertigen ein ständiges Bedürfnis der Städte und Höfe werden. Deshalb glückt es vielen, ihren Frieden mit der bürgerlichen Gesellschaft zu machen, sie gesellen sich zu dem Rittertum als Rufer. Herolde, Lobsänger und Spruchsprecher, sie werden Hausnarren an den Fürstenhöfen, Pritschmeister in den Städten, Gesellen der Stadtpfeifer, Spielleute der Landsknechtbanden; die fahrenden Frauen gehen in die Frauenhäuser an die Stadtmauer und verfallen so der wohlwollenden Aufsicht einer städtischen Polizei. Seitdem teilen sie sich in Angenommene und Fahrende; der Narr, der Spielmann, der Klopffechter eines Herrn oder einer Stadt trägt als Zeichen der Dienstbarkeit Schild, Wappen, Kette oder Ring am Arm, und dieses Symbol der Unfreiheit ist für ihn ein wertes Privilegium, welches Schutz gewährt gegen das Mißtrauen der beginnenden Polizei. Aber die Lage derer, welche noch heimatlos umherschweifen, wird schlechter; in der Mitte des 15. Jahrhunderts werden sie auf dem Reichstag zu Frankfurt bereits durch kaiserliche Verordnung als Vagabunden bedräut, zumal die Sänger und Spruchsprecher, weil sie geistlichen und weltlichen Stand verächtlich antasten; denn sind sie bei den Geistlichen, so singen sie von den Weltlichen und bei den Weltlichen von den Geistlichen, »welches zu Zwiespalt und Ungehorsam gereicht«. Endlich kommt den Angesessenen der Ehrgeiz, sich in einer Innung oder nach italienischem Muster in einer Schola zu vereinigen und durch Privilegien bevorzugen zu lassen, so den Pfeifern und Paukern, den Fechtern und anderen.

Einige Tätigkeiten dieses fahrenden Volkes verdienen besondere Erwähnung. Die Banden der Gladiatoren und Tierkämpfer zogen von den Höfen der Merowinger auch nach Deutschland. Ihre Kämpfe, bei denen sie um Geld ihr Blut vergossen, müssen nicht selten eine Unterhaltung der Kaiser gewesen sein; denn als Kaiser Heinrich II. um das Jahr 1017 eine Schar Straßenräuber gefangen hatte, richtete er zu Merseburg und Magdeburg Kämpfe ein, stellte den Gefangenen eine Anzahl seiner unehrlichen Kämpen gegenüber und ließ sie von diesen niedermachen. Auch die Städte hielten zuweilen solche Kämpfer, so Aachen durch das ganze 14. Jahrhundert gegen festen Monatssold und Kleidung für Zweikämpfe mit Feinden der Stadt; einmal sollte dieser Kampf mit Streitkolben an Riemen geführt, dazu die Kämpfer mit Hosen und Gürteln versehen werden; sie wurden von einem Meister unterrichtet, der die ansehnliche Summe von fünfundzwanzig Goldgulden, Kleider und freie Zeche erhielt.

In dem nächsten Jahrhundert gesellten sich die Fechter, welche städtische Unterkunft gefunden hatten, als Marxbrüder und Federfechter in zwei Verbindungen, welche starken Groll gegeneinander hegten. Die Fechter mit der Feder führten einen geflügelten Greif im Wappen, sie rühmten sich von einem Herzog von Mecklenburg privilegiert zu sein und fanden später in den Kurfürsten von Sachsen milde Gönner; sie riefen im Kampfplatz, wenn sie das Schwert erhoben: »Schwing« dich, Feder, sieh, wie man tut, schreib' gern mit Tinte, die aussieht wie Blut«. Die Sankt Markusbrüderschaft dagegen hatte in ihrem Wappen einen Löwen und stärkte sich durch den trotzigen Reim: »Du edler Löw, schwing' dein kraus Haar, nimm dir des Greifen eben wahr, den sollst du vor dir hauen nieder und ihm zerreißen sein Gefieder.« Sie war von König Maximilian 1487 mit einem Privilegium beschenkt worden, ihre »Meister vom langen Schwert« standen unter einem Hauptmann und hielten seitdem auf der Herbstmesse von Frankfurt am Main ihre Zusammenkunft. Dorthin zog, wer von ihnen gefreit sein wollte; er mußte gegen vier Meister fechten, dann in öffentlicher Versammlung jeden annehmen, der ihn bekämpfen wollte. Bestand er die Proben, so wurde er mit dem Paradeschwert kreuzweis über die Lenden geschlagen, mußte den Genosseneid leisten und zwei Goldgulden auf das Schwert legen; dafür erhielt er das geheime Erkennungszeichen der Brüderschaft und das Recht, andere in seiner Kunst zu unterrichten und Fechtschule zu halten, das heißt öffentliche Schaugefechte zu veranstalten. Lange Zeit waren diese Schaukämpfe eine Freude der Fürsten und Bürger, sie erheiterten nach der Schlacht bei Mühlberg den gefangenen Kurfürsten von Sachsen während des großen Reichstags zu Augsburg. Daß Frankfurt die einzige Stadt war, wo man Meister vom Schwert werden konnte, galt ihr beim Volk für einen besonderen Vorzug.

Der Aufzug der Fechter und mancher Brauch erinnert noch lebhaft an die römischen Spiele, wenn auch die Kämpfe selten ein so blutiges Ende nahmen. Denn die Fürsten und Städte warben ganze Fechterbanden, welche bei Freischießen und anderen großen Festen aufgeführt wurden. Sie rekrutierten sich in dieser Zeit aus Trabanten, Handwerkern – oft Kürschnern – und gaben durch das ganze 16. Jahrhundert auch aus eigenem Antrieb öffentliche, nicht gefahrlose Vorstellungen, wobei Haufe gegen Haufe und einzelne gegeneinander kämpften.

Diese Genossenschaften der Fechter überlebten den Dreißigjährigen Krieg, sie verloren die alten Ausdrücke für ihre Kunsthiebe, sie legten sich nicht mehr aus nach dem Ochs, Eber, Pflug und Dach, sondern nach französischen Kunstwörtern, aber sie erhielten sich trotz der fremden Fechtlehrer in den größeren Städten. In Nürnberg wurden ihre öffentlichen Gefechte kurz vor 1700 verboten, aber das Volk nahm noch lange leidenschaftlich Partei für die beiden Fraktionen, es war kein Knabe in der Stadt, der nicht für die Marxbrüder oder Federfechter stritt, und häufig gaben sie ihre Vorstellungen in Privathäusern. Eines der letzten großen Fechterspiele wurde 1741 zu Breslau auf dem Kirchhof von Magdalena angestellt. An dem Tage, wo der junge König von Preußen mit seinem kleinen Paradedegen von dem Thronsessel des Kaiser Matthias die Huldigung des eroberten Schlesiens entgegennahm, gerade als die Morgenröte einer neuen Zeit anbrach, da gaukelten die alten Fechter wie Schattenbilder aus ferner Zeit noch einmal über den Gräbern vergangener Geschlechter, dann vergingen auch sie.

Der Einfluß, welchen die Spielleute auf Verbreitung und Fortbildung der epischen und lyrischen Volksdichtung gehabt haben, ist im früheren Band erwähnt. Er ist deutlich aus den Heldengedichten in Volksweise zu erkennen. Oft suchen die Spielleute ihre Standesgenossen selbst in die alte Dichtung hineinzudrängen und sorgen dafür, daß ihre poetischen Ideale keine schlechte Rolle spielen. So ist schon in den »Nibelungen« die helle Gestalt des Helden Volker, des Geigers, eine Spielmannsfigur; derber und roher renommieren ähnliche Figuren mit groteskem Anstrich in den späteren Gedichten der populären Sagenkreise, z. B. der Mönch Ilsan im »Rosengarten«.

Aber nicht nur unter die Helden des deutschen Epos schwärzten die fahrenden Leute verschönerte Abbilder ihres eigenen Lebens ein, sie, die Verachteten, vom Heiligsten der Kirche fast ausgeschlossenen, wußten sich sogar im Schiff und Chor der Kirche mit allem Übermut ihres Handwerks auszubreiten. Denn sie krochen in die ersten streng kirchlichen Anfänge des deutschen Dramas, in die heiligen Spiele des Osterfestes ein. Schon im ersten Mittelalter war der Geschichte von der Kreuzigung und Auferstehung in dem Kirchenritual ein dramatischer Anstrich geworden: Wechselgesänge zwischen Christus und den Jüngern, Pilatus und den Juden von Geistlichen im Kirchenchor gesungen, die feierliche Niederlegung eines großen Kruzifixes in einem künstlichen Grab oder der Krypte, und darauf am Ostermorgen feierliche Verkündigung der Wiederauferstehung, Lobgesänge der ganzen Gemeinde und Palmenweihe. Früh fing man an, die einzelnen Rollen im dramatischen Gesang stärker hervorzuheben, ihnen außer dem Gesang auch Reden in den Mund zu legen, die Hauptrollen durch angemessene Tracht und einzelne Attribute zu unterscheiden. An anderen Kirchenfesten geschah ähnliches mit den Legenden der Heiligen, und schon im 12. Jahrhundert werden in den deutschen Kirchen ganze Stücke dramatisch aufgeführt, zunächst noch lateinisch von Geistlichen im Chor. – Aber im 13. Jahrhundert dringt die deutsche Sprache in den Dialog der Personen, sogleich werden die Stücke länger, die Zahl der Rollen vermehrt sich. Laien fangen an mitzuspielen, die Rede wird behaglich, zuweilen ausgelassen und sticht wunderlich ab gegen einzelne dazwischen bewahrte lateinische Chorgesänge und Responsorien, welche nach und nach ebenfalls deutsch werden. Jetzt zeigen sich unter den biblischen Personen der Spiele dieselben komischen Figuren, die derben Scherze und der Straßenwitz, welche die fahrenden Leute bis dahin draußen auf den Kirchhöfen vertreten hatten. Am häufigsten tritt der Narr als Knecht eines Quacksalbers auf. Seit ältester Zeit hatten die fahrenden Leute Geheimmittel, besonders solche, welche der Kirche verdächtig waren, uralten römischen Aberglauben, altdeutsche Beschwörungsformeln und wohl noch anderes, was unsauberer und gefährlicher war, durch das Land getragen. Bei großen Kirchenfesten und Märkten fehlten auch die Buden der Ärzte nicht, dieselben Buden wandernder Doktoren, welche sich schon auf griechischen Vasenbildern finden; sie waren über Italien mit den grotesken Masken des Arztes selbst und des possenhaften Servus als ein gewinnbringendes Gewerbe des fahrenden Volkes nach Deutschland gekommen. Die Ärzte und Knechte traten in den geistlichen Spielen als Intermezzi und weit ausgesponnene Episoden der heiligen Handlung auf. Zoten und Prügeleien durften ihnen nicht fehlen.

Aber noch eine andere populäre Person führte das fahrende Volk in die heiligen Spiele ein, wahrscheinlich ihr erstes Debüt in der Kirche, den Teufel. Lange schon hatte dieser höllische Geist draußen auf dem Kirchhof unter den Zelten Feuer gespien und mit dem Schwanz gewedelt, und wahrscheinlich war er schon oft von einem klugen Spielmann zum Entzücken der Zuschauer geprellt und durchgeprügelt worden, ehe es ihm um das 13. Jahrhundert gelang, als viel duldender Mitspieler beim heiligen Osterdrama zur Erbauung der frommen Gemeinde beizutragen.

Zu den Fahrenden gesellten sich leichtsinnige Kinder der Kirche, vagierende Mönche – leider auch Nonnen und Beginen. Vor andern die fahrenden Schüler, welche als Schatzgräber und Teufelsbanner erfolgreiche Angriffe auf die ersparten Goldgulden der Bauern und den Vorrat ihres Rauchfangs machten. Sie »wollten Priester werden«, dann kamen sie aus Rom, sogar mit geschorener Krone, und sammelten zu einem Chorhemd; oder sie waren Schwarzkünstler, dann trugen sie einen gelben Behang am Rock und kamen aus Frau-Venusberg; traten sie in ein Haus, so riefen sie: hier kommt ein fahrender Schüler, ein Meister der sieben freien Künste, ein Beschwörer der Teufel, für Hagel, für Wetter, für Feuer und Ungeheuer, darauf machten sie »Experimente«.

Aber mit den fahrenden Spielleuten und ihrem Anhang kreuzten sich auf den Heerstraßen noch andere Kinder des Elends, weniger harmlos, dem Volk unheimlicher. Unter ihnen die Zigeuner.

Die Zigeuner sind nach ihrer Sprache und nach dürftigen historischen Nachrichten ein Stamm des nördlichen Vorderindiens, welcher Heimat und Zusammenhang mit seinen indischen Verwandten erst zu einer Zeit verloren hat, wo die Umbildung des alten Sanskrits in die jüngeren Völkersprachen schon vor sich gegangen war. Auf ihrer Wanderung nach Westen, die Jahrhunderte dauerte, müssen sie mit Arabern, Persern und Griechen in dauerndem Verkehr gelebt haben, denn die Sprachen dieser Völker haben deutlich auf ihre eigene eingewirkt. Sie sind möglicherweise um 430, wahrscheinlich um 940 in Persien. Sie zeigen sich um 1100 als »Ismaeliten« und »Kaltschmiede« in Oberdeutschland, sie sind im 14. Jahrhundert auf Zypern, im Jahre 1370 in der Walachei (als Unfreie) angesiedelt. Der Name Zigeuner ist aus ihrer Sprache verderbt, sie nennen sich noch heute Sinte, Indusbewohner; auch ihre alte Angabe, daß sie aus Kleinägypten kämen, mag richtig sein, da Kleinägypten damals nicht das Niltal, sondern die asiatischen Grenzländer bezeichnet zu haben scheint.

Im Jahre 1417 endlich erscheinen sie in großen Haufen mit lächerlichen Ansprachen und fratzenhaftem Aufzug von Ungarn her zunächst in Deutschland, bald in der Schweiz, Frankreich, Italien und erregen überall das äußerste Befremden. Eine Bande von dreihundert Erwachsenen, ohne die Kinder, zieht bis zur Nordsee herauf, unter dem Befehl eines Herzogs und eines Grafen, zu Pferd und zu Fuß, die Frauen und Kinder sitzen auf dem Gepäck auf Karren. Sie sind komödiantenhaft aufgeputzt, sie führen Jagdhunde als Zeichen adliger Geburt; wenn sie aber in der Tat jagen, tun sie es ohne Hunde und ohne Geräusch. Sie weisen Empfehlungen und Geleitsbriefe von Fürsten und Herren vor, auch vom Kaiser Sigismund. Sie behaupten, ihre Bischöfe hätten ihnen befohlen, sieben Jahr in der Welt herumzuwandern. Sie sind aber große Gauner und übernachten im Freien, um besser stehlen zu können. – Im Jahre 1418 zeigen sie sich an vielen Orten in Deutschland und in demselben Jahr unter dem Oberbefehl eines Herzogs Michel von Kleinägypten vor Zürich, wo ein Rendezvous mehrerer Horden gewesen sein muß. Dort zählen sie nach der niedrigsten Angabe tausend Köpfe, haben zwei Herzöge und zwei Ritter, wollen von den Türken aus Ägypten verjagt sein, tragen viel Geld in den Taschen, das sie von den Ihrigen daheim erhalten haben wollen, essen gut und trinken gut und bezahlen auch gut; sie haben sich nirgend wieder so gehalten.

Seitdem zogen sie in verschiedenen Haufen von Rumänien über ganz Europa. Es gelang ihnen aber trotz dem eitlen Aufputz und ihren schlauen Lügen nur an sehr wenig Orten, die Menschen zu täuschen. Sie erwiesen sich fast überall als arge Heiden, Zauberer, Wahrsager und höchst unverschämte Diebe. Sie selbst zersplitterten auf der weiten Fahrt in kleinere Banden; ihre Führer, welche sie mit allen Feudaltiteln schmückten, gingen ihnen verloren, sie selbst wurden durch das Wanderleben und die Verfolgungen der angesessenen Leute vielfach dezimiert.

Die besten Aufschlüsse über ihre Vergangenheit gibt die Sprache. Die ursprüngliche Einheit der Zigeunerdialekte ist noch jetzt deutlich zu erkennen. Die Sprache erscheint als die Mundart eines einzigen und besonderen indischen Stammes, eine verkommene Tochter des vornehmen Sanskrit; sie hat fast in jedem Land, wo das Volk auf seiner Irrfahrt verweilte, einzelnes Fremde für sich gestohlen, und ihr Kleid ist mit den Lappen aller Völker überdeckt, so daß nur noch hier und da die echten Goldfäden sichtbar sind. Der Stamm hat einen großen Teil seiner eigenen Wörter aufgegeben, zunächst solche, welche auf Anschauungen beruhten, die sich in fremden Ländern, in dem kleinen armseligen Leben nicht erhalten konnten. Er hat den indischen Ausdruck verloren für den Papagei, den Elefanten und Löwen, für den Tiger und die Königsschlange, aber den Zucker gulo, die Seide pahr, die Weintraube drakh nennt er noch mit ihren indischen Namen und den Wein mohl nach dem Persischen. Ja, ihm ist auch zu vielen immer geläufigen Bezeichnungen das indische Wort geschwunden, er weiß den Sperling nicht mehr indisch zu nennen, keinen Fisch und fast keine Pflanze, allerdings aber viele große und kleine Tiere, unter anderen auch dschu, die Laus. Dazu kam, daß die Zigeuner selbst in Banden unter die verschiedensten Völker zersplitterten, so daß auch ihr erhaltenes Eigentum nicht allen gemeinsam blieb und in jedem Lande ein eigentümliches Zigeuneridiom entstand. Endlich eignete sich der Rom, wie er sich selbst nennt, außer seiner romany tschib und der Landessprache auch die Sprache der Wissenden, den Diebesdialekt an, dem er auch in freundlichem Austausch Wörter seines Sprachschatzes mitteilte. In Deutschland verstand er Rotwelsch oder Jenisch, in Böhmen die Hantyrka, in Frankreich das Argot, in England den Slang, in Spanien die Germania. –

Diesen Fremden war in Deutschland kein behagliches Leben vergönnt. Wie ihre Hand gegen jedermanns Gut, so arbeitete der allgemeine Haß gegen ihren Hals. Karl V. gebot sie auszuweisen, die neuen Polizeiverordnungen der Fürsten gewährten ihnen keine Duldung. Und doch wußten sie durch Wahrsagen und geheime Künste, als Ärzte an Menschen und Tieren, als Roßtäuscher und Hausierer vom Landvolk zu gewinnen. Wallenstein brauchte sie als Spione, später auch die Schweden; ihre Dirnen wußten sich Offizieren und Gemeinen wert zu machen, die Weisen der Bande verkauften Amulette und beschlugen den Huf der Pferde.

Nach dem Kriege zogen sie frech durch das Land, der Schrecken des Landmanns. In Thüringen fiel 1663 eine Bande von mehr als zweihundert Köpfen ein, die sich dort teilte und die sehr feindselig betrachtet wurde, weil man ihr nachsagte, daß sie das Land irgendeinem Feind auskundschafte. In der Tat waren sie eine große Landplage geworden, gegen welche die Gesetzgebung mit charakteristischer Rücksichtslosigkeit donnerte. Überall kamen Befehle sie zu vertreiben, sie galten für Spione der Türken, sie galten für Zauberer, sie waren rechtlos; noch nach dem Jahre 1700 ward in einem kleinen rheinischen Fürstentum unter anderem erlegten Wild eine Zigeunerin mit ihrem Säugling aufgeführt. Bis zum Jahre 1750 wird in Österreich, in dem Reich, in Preußen durch Edikte immer wieder befohlen, alle Erwachsenen zu henken, oder auch die Männer, den Weibern aber ein Ohr abzuschneiden. Und doch wurden die Fremden nicht ganz ausgerottet. Einen wohltuenden Gegensatz bildet das Verhalten des 19. Jahrhunderts; 1830 wird zu Friedrichslohra in Thüringen ein menschenfreundlicher – vergeblicher – Versuch gemacht, durch Unterstützung der Erwachsenen und Erziehung der Kinder eine Bande von ungefähr hundert Mann zu bessern. –

Um das Jahr 1500 verlor sich der Name »fahrende Leute«, und viele fröhliche Tätigkeit der besitzlosen Umherschweifenden wurde von dem alten Makel frei; aber die große Genossenschaft der Gauner erhielt sich in einer gewissen Organisation. Auch ihre Sprache blieb. Das Rotwelsch zeigt am letzten Ende des Mittelalters in mehreren Proben die volle Ausbildung eines alten Gauneridioms.

Es besteht zum größten Teil aus hebräischen Wörtern, wie diese von Leuten gebraucht werden, die nicht selbst Juden sind; daneben steht auch ehrliches deutsches Sprachgut, alte Stämme, und wieder zwecklose Erfindung von bildlichen Ausdrücken, zunächst in dem Bestreben, den wahren Sinn der Rede durch ein täuschendes Bild zu verhüllen: Windfang, der Mantel, Breitfuß, die Gans. Wenige Wörter lassen eine gehobene Stimmung ahnen, aus mehreren spricht die rohe Laune verzweifelter Menschen. Und wie die Sprache, waren auch die Praktiken der Gauner schon zu großer Virtuosität ausgebildet.

Die gewöhnliche Form, in welcher der Seßhafte geplündert wurde, war die des Bettelns. Die Werkheiligkeit der alten Kirche, ein unvernünftiges Almosenverteilen, hatte überall in der Christenheit massenhaftes Bettlerwesen großgezogen, schon in den ersten Jahrhunderten des deutschen Christentums ist es Klage frommer Geistlichen. Auf Kirchhöfen und öffentlichen Plätzen lagen die Armen, greuliche Wunden entblößend, welche oft künstlich gemacht waren; sie zogen nackt mit einer Keule, später in Kleidern mit mancherlei Waffen durch das Land und sammelten vor jedem Hof für ihre Kinder, ihrem Heiligen zu Ehren, als gerettete Galeerensklaven der Türken, für ein Gelübde, nur bis sie ein Pfund Wachs, ein silbernes Kreuz und ein Meßgewand zusammen haben. Sie betteln zum Aufbau einer Kirche, weisen Brief und Siegel vor, ihnen liegen besonders Handtücher für ihren Priester, Garn zum Altartuch und Bruchsilber zu einem Kelch am Herzen; sie schweifen als Epileptische umher und halten Seifenschaum im Mund oder nehmen als Priester in eine fromme Bruderschaft auf, wieder gegen Bruchsilber; ebenso wandern die Weiber: falsche Kindbetterinnen, solche, die ein Ungeheuer geboren haben, z. B. eine Kröte, die in Einsiedeln als Wundergeschöpf lebe und täglich ein Pfund Fleisch haben müsse. Wo ein großes Fest gefeiert wurde, strömten auch sie in Scharen zusammen. Es war eine gefährliche Genossenschaft, nicht immer vermochte die eiserne Härte der alten Zeit sie zu bändigen. Basel scheint einer ihrer geheimen Sammelplätze gewesen zu sein, sie hatten dort eine Gerichtsstätte, auch das berühmte »Liber vagantorum« mag in der Nähe entstanden sein. Dies Buch, von einem Unbekannten um 1500 geschrieben, enthält in Gaunersprache eine sorgfältige Aufzählung der Gaunerklassen und ihrer Kunstgriffe, am Schluß ein kleines Wörterbuch des Jargons. Oft gedruckt, von dem Basler Pamphilus Gengenbach in Reime gebracht, gefiel es Luther so wohl, daß auch er das kluge Büchlein nach einem der ältesten Drucke von neuem herausgab. [...]


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