Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Das Wiedersehensfest

Von einem Volk im Hochgebirg ist ein Wort im Schwang, daß es bei ihm, so um das vierzigste Jahr herum, einen Ruck im Kopf tue, nicht gerade einen großen, aber einen kleinen; überhören sie jedoch diesen Ruck, werden sie ihr ganzes Leben nicht mehr gescheit.

Bei der Mena tat es um diese Zeit einen allerstärksten Ruck; es war, als ob dies mit dem Abscheiden des Ähnls zusammenhinge. Etwas Hartes, man könnte sagen Stählernes machte sich bei ihr bemerkbar, und sie sah mit doppeltem Scharfsinn auf die Dinge und Menschen der Welt. Wenn sie mit den Knechten und Mägden aufs Feld ging, der Himmel blau war und die Schwalben ihre Kreise drin zogen, fühlte sie es wohl, daß mit der Grablegung des alten Ähnls die Ordnung der Natur nicht verletzt worden war. Mit großer Geschicklichkeit fügte sie sich in die neuen Verhältnisse, stand mit den Dienstleuten auf gutem Fuß und noch besser mit dem Herrn und der Frau. »Das ist eine Tüchtige!« sagte das Gesinde, daß sie es mit eigenen Ohren hören konnte. Was den Bräu und die Bräuin anbelangte, spürte sie, daß der Dank auf ihren Morgen- und Gutenachtgruß freundlicher klang, als bei den andern.

An einem Sonntag holte sie die Spieldose aus dem Kasten hervor, das einzige Erbstück, das sie für sich behalten hatte. Sie zog mit einem großen Messingschlüssel das Werk auf, langsam und bedächtig, genau nach des Ähnls Angaben. Und als aus dem rotbraunen Kästchen eine Melodie nach der andern herausklang, wurden Kindheitserinnerungen in ihr wach. Eine Sehnsucht hub an, sie zu quälen, etwas von jener Seligkeit wieder zurückzurufen, die jedes Erlebnis, jeden Tag, jedes Bild aus jener Zeit ganz und gar erfüllt hatte. Aber plötzlich blieb das Werkel stehen. Sie drehte, zog die grüne Schnur straff; jedoch vergebens. Sie war außer sich, klopfte an die Seitenwände, zog wiederum an der Schnur: es gab keinen Ton mehr von sich.

Die Mena glaubte an Lostage, an Gesundbeten, an Klopfen in den Wänden, an stehenbleibende Uhren und noch an viele andere 374 Dinge. Aber in diesem Fall handelte es sich nicht um gewöhnlichen Aberglauben; das Spielwerk, vom Ähnl vererbt, sollte die Geschwister zusammenhalten. Vielleicht hatte er sich »angemeldet«, war ungehalten darüber, daß die Mena sich in der letzten Zeit so wenig um die Geschwister gekümmert. Koste es, was es wolle: das Spielwerk mußte gleich mit dem Boten in die Stadt.

Der Instrumentenmacher ließ sagen, vor der Dult könnte er's nicht fertigbringen. Das paßte der Mena gerade; so konnte sie mit doppelter Freude an die Dult denken. Sie fiel in den Monat, wo man die zwanzig Wochen harter Arbeit hinter sich hatte und wieder frei aufatmen konnte. Diese Dult wollte sie benützen, um die Geschwister wieder einmal zu vereinigen. Das gab keine kleine Arbeit im Briefschreiben und Botschaftsenden, und sie konnte kaum den Tag erwarten.

Am Festmorgen sprang sie mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett; ein Zeichen, daß sie ihren Tag mit besonderer Fröhlichkeit anhob. Auch das Firmament war wie ausgekehrt, nicht allzu heiß, Wege und Straßen vom Nachttau feucht, aber sonst brosentrocken. Das Frohgetümmel, die Leiterwagen, die man mittels Querbrettern notdürftig ausgestattet, die schwerfälligen Landauer, Kutschen und Rennwagerln, die mit ganzen Familien bepackt waren, die Fahnen, Zurufe, dies alles erregte sie. Und noch dazu fuhr sie der Schindertoni! Obgleich schon etliche Jahre seit dem Beginn ihrer Liebschaft hinabgerollt waren, hatte er noch immer etwas Jünglingshaftes an sich, und sie mußte ihn von Zeit zu Zeit, während er hingegeben kutschierte, heimlich beobachten. Dabei fiel ihr ein, was die Leute wohl denken mochten: die Ellenhuber-Mena und der Schindertoni! – Es war unglaublich und beinah unheimlich, wie einen das so packen konnte. – Ist denn das so wichtig, fragte sie sich, was die Leute meinen? – Dieser Tage wurde viel vom Haginghofer-Lix, vom großen Hof und vom Übergeben geredet, aber von jenem Vorkommnis mit keinem Wort. – Ja, das Geld vergoldet alles, auch Unrat und Schmutz.

Der Toni merkte, daß bei ihr etwas los war. »Wie hat es dir denn bei uns gefallen?« fragte er.

»Recht gut«, sagte sie.

Und er: »Willst du nicht auf meinen Grafensitz heiraten?«

»Mit dem Heiraten ist's in der jetzigen Zeit eine schwierige Sach.« 375

Er lachte. »Ich spür es wohl, du bist alleweil noch nicht ganz mein. Etwas trennt uns. Wenn ich nur wüßt, was?«

»Aber nein!« sagte sie. Doch es klang nicht überzeugend. Und zögernd fuhr sie nach einer Weile fort: »Schau, Toni, es ist so mancherlei an dir, was mich nachdenklich macht. Die Leut sagen, du glaubst nicht an Gott.«

»Die«, sagte er, »die mit dem Gebetbüchl in der Hand in die Kirch gehen, die glauben an ihren Gott, und ich glaub an den meinen.«

Dies Gespräch hörten noch zwei Paar andere Ohren an; das eine eignete dem Staatsschuldenmann, der von Toni als Hofnarr mitgenommen worden war, und das andere einem kaum der Schule entwachsenen Dirndl, das neben der Mena saß. Es war beim Bräu Kleinmensch, und hielt überall, im Stall, auf dem Feld, wie auch bei den Tratschereien, die in einer so großen Wirtschaft keine Seltenheit sind, wie ein Teufel zur Mena. Und diese übte an der Fünfzehnjährigen, was sie gewünscht, daß jemand es an ihr geübt hätte. Sie war keine eigentliche Wohltäterin, hatte dazu keine rechte Eignung; sie fand ihren Lohn an der Freude und am Staunen des Mädchens, an seinen kindlichen Ausrufen und seinem Übermut.

Der Toni zügelte indessen vergnügt seine leichten Pferde, die ungestüm im Geschirr gingen und deren Herkunft dunkel war. Einige behaupteten, er hätte sie im Bayrischen erhandelt, andere, es seien ärarische Pferde; aber wie immer, er fuhr schneidig den Kutschen und Rennwagerln vor, die mit ihren schweren Pferden nicht so schnell vorwärtskamen, und machte kritisch spaßhafte Bemerkungen, wozu der Staatsschuldenmann seinen Senf gab. Sie hechelten die Insassen eines jeden Gespanns durch, daß die Mena, ob sie wollte oder nicht, nicht mehr aus dem Lachen kam. Einmal überholten sie ein elendes Gefährt, mit einem hinkenden Gaul, das schadhafte Riemenzeug mit Stricken gebunden; ein dicker, verschmierter Kerl saß drin, während rückwärts im Stroh ein gebundenes Kalb lag, das lechzend die Zunge heraushängen ließ. »Der Kalbl-Stumpf!« sagte der Toni. »Dem Bräu sein Schandmal. Mehrmals hat er ihm schon ein paar Tausender vorgestreckt, damit er nach Amerika auswandert; aber jedesmal ist er wieder heimgekommen.«

Die Mena war höchst verwundert: dieser Kerl, vor dem sie sich 376 gefürchtet hätte, wäre sie ihm im Wald begegnet, sollte der Bruder des Stumpfbräu sein?

Aber sie hatte zum Nachsinnen keine Zeit mehr. Der Wagen fuhr beim Hofwirt vor, und hier trennte man sich fürs erste. Jeder hatte seine eigenen Wege. Die Mena mußte vor allem zum Instrumentenmacher und war glücklich, als sie, das Spielwerk im Korb, durch die Straßen hinsegelte. Sie besah mit wägender Aufmerksamkeit die Kutschen, die Auslagen, die Häuser. Am längsten stand sie vor den Stoffläden und den Schaufenstern der Goldarbeiter.

Die ersten Züge der Bauern marschierten herein, Gruppen von Gebirglern mit fliegenden Fahnen. Sie waren aus anderen Tälern, hatten andere Trachten, redeten schon eine schwer verständliche Sprache, aber man grüßte sie doch, als ob man zusammengehörte.

Die Mena sah sich indessen eifrig nach den Geschwistern um, aber sie konnte keins erspähen. Vielleicht hatten sie ihre Mitteilung unbeachtet gelassen und die geschwisterlichen Gefühle vergessen. Eine große Trauer erfaßte sie; wenn der Ähnl sie gerufen, wären sie wohl alle ohne Verzug gekommen. Sie geriet, in Gedanken versunken, in fremde Gassen, verirrte sich und begrüßte den Staatsschuldenmann, den sie traf, wie einen rettenden Engel. Während sie ihn daheim mit Verachtung behandelte, überhäufte sie ihn hier mit Liebenswürdigkeiten. Der Staatsschuldenmann behauptete, die Stadt wie seinen Hosensack zu kennen. Er lief so hastig, daß er bald da, bald dort an Leute stieß, was die Mena in Heiterkeit versetzte.

Beim Hofwirt, meinte sie, da werde wohl im Vorhaus eine Glocke am Draht sein, da würde sie läuten und die Kellnerin fragen: Sind die Ellenhuber schon da? Aber sie bekam einen schönen Schreck. In diesen Gaststuben und Sälen konnte man sich unmöglich zurechtfinden, und sogar ihr großmäuliger Führer verlor seine Sicherheit. Er fragte wohl ein halbes Dutzend Kellner, wurde aber entweder keiner Antwort gewürdigt oder direkt ausgelacht. Bis sich endlich ein kleiner Knirps, der aber schon einen Frack trug, leutselig in ein Gespräch einließ. Er sah mit einer aus Spott und Interesse gemischten Miene auf den bäuerlichen Tagdieb und die stattliche Magd, und es stellte sich heraus, daß in einem rückwärtigen Saal Bauern waren, worunter die Gesuchten vielleicht sein konnten.

Und so war es auch. Wie die Geschwister sich die Hände drückten, wie alle zugleich redeten und aufgeregt lachten, sich so ganz 377 anders verhielten, wie sie es gewohnt waren: das war das brüderliche und schwesterliche Blut, das in dieser Minute doppelt fröhlich durch die Adern schoß. Leider fehlten die Soldaten Gang und Naz. Hatten eben doch keinen Urlaub bekommen. Die Mena stellte zu ihrer heimlichen Genugtuung fest, daß alle gut gekleidet waren; Jörgei zwar etwas ärmlich, doch gerade er war der Allervergnügteste. Er forderte die Geschwister ungestüm auf, sich gemeinsam in den Strudel der Dult zu stürzen.

Silvester und Paul voran, zwei stattliche Männer, der eine ein ganzer Herr, der andere ein ganzer Bauer, so rückte der Trupp der Ellenhuber in den wimmelnden Menschenhaufen hinein. Sie drängten und stießen, riefen und lachten; denn alle hatten es sich in den Kopf gesetzt, heute über die Stränge zu hauen. Immer wieder erschollen aus dem Getümmel ihre Zurufe: »Jörgei, da her! – Wo bist du denn? – Paul, mach deinen Geldbeutel auf! – Mena, sei nicht so geizig! – Vestl, kauf mir etwas!«

Die Schwestern brachen beim Anblick einer ungewohnten städtischen Modetracht in lautes Gelächter aus; die Männer, davon angesteckt, hielten die Herren Budenbesitzer und Bandelkramer zum besten, ja, sie wagten es sogar, das städtische Leben und die städtische Sprache zu verspotten, freilich nur von ihresgleichen verstanden und belacht. Vor den Kamelen und Affen hatten sie eine Empfindung, gemischt aus Staunen und Widerwillen; ganz abscheulich empfanden sie kleine Bulldogghunde, von einer widernatürlichen Häßlichkeit, und der Gipfel der Unbegreiflichkeit dünkte ihnen, daß ein solches Scheusal von einer vornehmen Dame gekauft wurde. Wenn die Stände mit den Sensen, Wetzsteinen, Halftern und Riemenzeug auftauchten, mit den Hacken, Gabeln und Rechen, kam bei den Mannsbildern der Ackermensch hervor; und wenn die Zinnkrüge und Holzwaren, die großen, in der Sonne glänzenden Geschirrhaufen sich zeigten, meldete sich bei den Weibsleuten die Hausfrau und Bäuerin, und der Bewunderung war kein Ende.

Vor der Bude eines Schnellphotographen rief die Mena: »Alles auf ein Bild! Das wird ein Andenken fürs ganze Leben.« Sie drängten so ungestüm hinein, daß die Hütte ins Wackeln geriet und der Besitzer die Hände überm Kopf zusammenschlug. Dann schob er sie vor eine papierene Wand, die eine Alpenlandschaft darstellte. Sie 378 hielten es in der brütenden Sonnenhitze kaum die paar Minuten aus, die nötig waren; dann stürzten sie alle wieder fröhlich lachend ins Freie.

Damit sie sich nicht verlieren konnten, hängten sie sich ein, und so, Arm in Arm, einträchtig, wie selbst in ihren Kindertagen nie, wand die geschwisterliche Kette sich durch die Menge.

Von der Hitze, dem Geschrei und dem Lärm der Drehorgeln dumm gemacht, strebten sie zum Hofwirt zurück. Sie suchten sich einen Winkel im Garten; und als nun hier eigens für sie gedeckt wurde, ganz wie für die Herrischen, und Bier und Bratwurst, Kuchen und gesüßter Wein aufmarschierten, zeigte sich auf ihren Mienen ein festlicher Glanz. Schon der Umstand, daß sie alle, nach so langer Trennung, an einem Tisch saßen, gesund waren, ihre geraden Glieder hatten, gute Kleider und Schuhe am Leib, etwas Kleingeld im Beutel, erschien ihnen großartig. Und wenn Jörgei sein treuherziges »Gelt, Mutter Mena?« über den Tisch rief, fühlten sie, daß ihre Ecke eine abgetrennte Insel darstellte, der gesamten fremden Welt gegenüber; und wenn zuweilen ein Gast den Versuch machte, sich niederzulassen, mußten sie lachen, wie er mit jähem Verstehen zurückprallte.

Mitten im lustigsten Tafeln machte sich im Mittelgang eine Bewegung bemerkbar; auch die Ellenhuber reckten die Köpfe. Plötzlich riefen sie wie aus einem Mund: »Naz! Gang! Vestl!« Sie schrien so laut, daß der ganze Saal aufmerksam wurde. Etwas Bildhübscheres, als die zwei kaiserlichen Grenadiere war nicht zu denken. Die beiden Soldatenbrüder merkten den Eindruck, den sie machten; ein prachtvoller Stolz lag auf ihren gebräunten Bauerngesichtern.

Die Geschwister konnten sich an den beiden nicht satt sehen. Es wurde getrunken, erzählt und gelacht. Die Mena sang dem jüngsten Bruder zu: »Hast Augn himmelblau . . .«, aber sie mußte es voll anstimmen, und alle sangen gedämpft mit . . .

»Hast Augn himmelblau,
Hast ein Grüberl im Koi,
Und mir ist alleweil,
Daß ich zu dir hingehn soll. 379

Hast Wangerl rotweiße,
Wie Apfelbaumblüah;
Was gab ich nit her
Für ein Bußl von dir!

Was gab ich nit her
Für ein einzige Nacht!
Die Welt und ihr'n Reichtum,
Ihr'n Glanz und ihr Pracht.

Und schenkast an Himmel mir
Samt seine Stern,
Mei Glück sind vier Wort von dir:
Ich hab dich gern.«

Jetzt rückte die Mena mit ihrem größten Triumph heraus. Wie oft hatten die Geschwister sie brieflich gefragt: Spielt die Spieldose noch? Und jetzt stellte sie das rotbraune Kästchen auf den Tisch und rief: »Zwei Gulden hab ich für die Reparatur bezahlen müssen; aber sie sollen mich nicht reuen. Wenn's nicht ganz wie früher spielt, trag ich's gleich wieder zurück.«

Aber es spielte nicht nur wie früher, sondern sogar noch voller und reiner. Die Geschwister horchten, ab und zu mit einem Seitenblick auf die benachbarten Tische, wo Bekannte aus dem Dorf saßen, sogar der Haginghofer und der Bräu, auch Stadtherren; aber im Tumult des Trinkens und Politisierens wurde die leise Musik gar nicht gehört.

In den Ellenhubern aber weckte sie alles, was in ihnen an Kraft und Lieblichkeit, Stärke und Wehmut, Wildheit und Sanftmut liegen mochte.

Das Spielwerk brachte sie auf den Ähnl und seinen Hingang. Die Mena erzählte, wie er seine Milchsuppe ausgelöffelt, wie er nach dem Wasser vom Guggenbrunnen verlangt und wie er seinen letzten Marsch rund um den Tisch erzwungen hatte. Was er an diesen Tagen und Stunden gesprochen, davon hatte sie kein Wort vergessen. Dann tauschten sie Erinnerungen aus; und es gab unaufhörlich zu fragen. Ehrfürchtig und scheu blickten die Geschwister zu Silvester auf, der, nein, mein heiliger Gott! – ein kaiserlicher 380 Sterngucker, Reimdichter und Volksredner geworden war, und nicht viel weniger bewunderten sie die Mena selber: Zweitdirn beim Bräu! Die Lena war noch immer so schön, aber noch blasser; es schien, als ob ein geheimer Kummer an ihr zehrte. Ihre und Pauls Lustigkeit kamen nicht vom Herzen; das konnte jede leicht wahrnehmen. Das Brigei war noch immer ledig und lustig wie einst; sie hatte irgendwo ein Kind, für das sie gut sorgte. Sie war eine Virtuosin auf der Mundharmonika. So mitten im Gespräch fing sie das glänzende Instrument aus ihrem Kittelsack und blies mit vollen Backen einen steirischen Tanz. Diese ihre Leidenschaft hatte sie zum »Harmonika-Brigei« gemacht, als welche sie in die Unsterblichkeit einziehen sollte. Der Bruder Jörgei, der Rechenmacher, dessen Augen von Schalkhaftigkeit und Humor blitzten, erzählte von seiner Familie, als ob es keinen größeren Spaß auf Erden geben könne, als eine Stube voll frischer, kerngesunder Kinder.

Wie sie sich nun so untereinander ausfragten, kam es an den Tag, daß die gewohnte und gekonnte Arbeit das Gute, wenn nicht das Allerbeste an der Welt war. Aber zum Gedankenausbrüten waren sie nicht hiehergekommen, und die Stimmung schlug gleich wieder ins Lustige um. Von seiten der Brüder setzten derbe Fragen ein über Liebschaften und Heiraten, und die Schwestern ließen es an Antworten nicht fehlen.

Um diese Zeit ging eine weißköpfige Gestalt vom Garteneingang nach rückwärts; es war der Pfarrer Gries. Er trug in der einen Hand seinen Hut und in der andern ein großes blaues Taschentuch, womit er sich die Stirn trocknete. Es sah aus, als ob er irgend jemand suchte. Endlich gewahrte er die farbig leuchtenden Tücher am Ellenhuberischen Tisch, strebte darauf zu und sagte: »Mit Verlaub! Ich möcht mir ein Plätzchen bei den Ellenhubern ausbitten.«

Es entstand eine Verlegenheit. Gewiß, der Pfarrer aß, trank herzhaft das frische Bier, spaßte über die Dult, aber der Umstand, daß ein Mensch Kleidet trug, die niemand trug, das nicht tat, was sonst jeder tat und tun mußte, ein Weib nehmen und Kinder zeugen, diese und ein weiteres Dutzend Extrigkeiten brachten es zuwege, daß sie eine gehörige Scheu vor ihm empfanden.

Der Pfarrer, der diese Verlegenheit spürte und selbst verlegen wurde, fand eine Anhabe an der Mena, indem er ein Klagelied über die verschwundene Glocke anstimmte. Dann wandte er sich den 381 andern Geschwistern zu und hatte für jeden ein freundliches Wort, und bald hielten sie mit ihrer Lustigkeit nicht mehr zurück. Nur der Paul war spießig, und auch die Lena tat seltsam. Sie konnten wohl nicht anders; sie mußten überall einen fühlbaren Hochmut hervorkehren, als ob beständig alles an ihnen sagen wollte: Ihr seht doch, wer wir sind und was wir haben.

Während Gespräch und Gelächter hin und wider gingen, schienen die Augen des Priestergreises jedes der Geschwister durchdringen zu wollen, und er war in diesem Augenblick nicht mehr der alte, müde Kirchenbeamte. »Ich hab euren Vater und eure Mutter gut gekannt«, sagte er. »Das waren rare Menschen! Wie überhaupt alle Ellenhuber. Es ist merkwürdig, daß sie ehrenhaft sind, und doch wieder nicht ganz; daß sie fromm sind, und doch wieder nicht ganz; daß sie arbeitsam sind und hausen können, und doch wieder nicht ganz. Man kann sie nach Menschenmaß nicht messen; sie haben ihre eigenen Gesetze.«

Der Pfarrer wiegte seinen Weißkopf hin und her und schwieg. Plötzlich dünkte ihn, als ob sich ihm beim Anblick der geschwisterlichen Runde das Rätsel alles Menschendaseins lösen wollte. Zugleich sah er das Bild seines Studierzimmers vor sich, mit dem Teppich querüber, den er schon zweimal neu angeschafft, so stark hatten ihn dreißig Jahre täglichen Hin- und Widerwandeln abgenützt. Er hatte eine Vision, die sein Inneres bis zu einem solchen Grade erhellte, daß er, für eine Weile wie geblendet, die Augen schloß. Es war eine Wahrheit aus Urgottnähe; er hatte dabei die gleiche Empfindung, die er schon einmal in seinem Leben als junger Mensch gehabt, bei den Worten des Dichters:

»Nachts, wenn gute Geister schweifen,
Schlaf dir von der Stirne streifen,
Mondenlicht und Sternenflimmern
Dich mit ewigem All umschimmern,
Scheinst du dir entkörpert schon,
Wagest dich an Gottes Thron . . .«

Am Nebentisch beobachteten die Städtischen schon eine Weile den alten Geistlichen, stießen sich an und flüsterten: »Der Pfarrer ist eingeschlummert; er ist das schwere Bier nicht gewöhnt.« 382

Es entstand ein Gelächter, so daß Gries seinen Weißkopf hob. Um etwas zu sagen, fragte er: »Ja, wo habt ihr denn euren Herrn Bruder, den Silvester?«

Sie waren verlegen. Aber bevor sie noch etwas erwidern konnten, stand der Bruder selbst da, streckte dem Pfarrer lachend seine Rechte hin und sagte: »Hier ist er, der ehemalige Schüler und Ministrant; jetzt Aufklärer, Revolutionär und Kirchenfeind comme il faut

Der Pfarrer fühlte, daß ihm in diesem einstigen Pfarrkind eine Sicherheit gegenüberstand, die denjenigen befällt, der seinen Hauptgegner noch friedlich vor sich hat, seines zukünftigen Siegs aber schon gewiß ist. Und Silvester konnte es sich auch nicht versagen, den Vertreter der alleinseligmachenden Kirche ein wenig in die Klemme zu treiben. Gries kannte das; kaum hatte er sich irgendwo seßhaft gemacht, um auch einmal Mensch sein zu dürfen, benützte man die Gelegenheit, um versteckt oder offener den Übermut und nicht selten die Bosheit an ihm auszulassen.

»Hochwürden«, sagte er, »haben Sie nicht meine letzte Rede, die auch als Flugschrift verbreitet wurde, gelesen? – Es war die schönste Rede, die ich jemals für Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit gehalten hab. Ich hab darin behauptet, meines Erachtens müßte jeder wahre Volkspriester mit Leib und Seele für die neue Bewegung sein. Denn: wie die Lehre der Kirche das erste, so ist die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das zweite Evangelium, das der Welt verkündet wird.«

Der Pfarrer lächelte. »Ich kenne die Flugschrift nicht«, sagte er. »Gewiß wär das Anhören oder das Lesen ein Vergnügen gewesen; die Ellenhuber bringen immer etwas Tüchtiges zustand. Aber, wär die Rede auch noch zehnmal schöner gewesen, mich hätt sie doch nicht überzeugt.«

»Oho!« rief Silvester und der ganze städtische Nachbartisch. Dann warteten alle, was der Pfarrer über das »zweite Evangelium« zu sagen hätte, aber er sagte nichts, und es entstand wiederum eine Pause. Der Archivar, der nirgends fehlte, wo das Bauernvolk sich zusammenfand, machte ihr ein Ende. »Ich glaube«, sagte er, »daß eine Verständigung möglich ist.« Er stellte einige Sessel zur Seite, der Städtertisch wurde gehoben und an den der Ellenhuber angerückt. »Hier ist«, rief er, auf Jörgei deutend, »der Handwerkerstand; 383 hier der Bauer, der Nährstand; hier die Soldaten, der Wehrstand; in der Mitte die Kirche, der Herr Pfarrer; hier die Beamtenschaft, die Einnahmen und Ausgaben registriert; hier ist der Herr Ellenhub, der uns über den Sternenhimmel aufklärt und gern in den Köpfen der Menschen ein Licht anzünden möchte; und dieser Sessel endlich ist für mich, der ich mich wohl einen Gelehrten nennen darf, und der seine Hauptaufgabe darin sieht, der Ewigkeit ein wenig in die Karten zu gucken.«

Man lachte beifällig. Der Pfarrer saß vorgebeugt, rot im Gesicht, bedrückt von dem Gefühl, trotz scheinbaren Spaßes, von Feinden umgeben zu sein. Da hüstelte Jörgei, der Rechenmacher; der Pfarrer sah, daß er etwas sagen wollte, und rief: »Es scheint, daß mir da einer zu Hilf kommen will.«

Nun richteten alle ihre Blicke auf den armen Rechenmacher und lachten, was ihnen nicht zu verargen war: sein Anblick wirkte komisch. Er trug eine alte Militärbluse, wohl von einem abgedankten Soldaten erworben, hatte Hungergruben in den Wangen, abstehende Ohren, aber auf seinem Gesicht lag etwas so Duldendes und wiederum so Heiteres, daß sein Wesen einen erquickenden, ja heroischen Zug ausströmte. Er sah mit seinen wasserblauen Augen auf den Pfarrer, auf die städtischen Herren und sagte schlicht: »Mir kommt immer vor, wenn ich so bei meiner Schneidbank sitz, Reden, Debattieren und Rebellieren ist leicht; aber Schweigen und Regieren – schwer!«

»Bravo!« rief der Pfarrer, und einige stimmten laut bei.

Jörgei fuhr fort: »Und wenn, wie etliche Herren wünschen, die Rebellion siegt und der Kaiser geht, wer soll uns dann regieren?«

Ein Gelächter entstand. »Der Schulmeister!« riefen einige Stimmen. »Der Haginghofer! – Der Bräu! – Der Rechenmacher Jörg!«

Dem Archivar wurde die Wendung zur politischen Seite unangenehm; doch kam ihm unerwartet eine Hilfe, und zwar in der Gestalt eines Blinden, den ein schwarzer Pudel begleitete. Der Mann trug eine Ledertasche an der Seite, einen Schlapphut auf dem Kopf und eine Harfe auf dem Rücken. Er setzte sich aufs Podium, der Pudel daneben. Der Alte griff in die Saiten und fing zu singen an:

»Das menschliche Leben,
Wenn man's richtig betracht't, 384
Schwind't wie Nebel am Morgen,
Wie Traum in der Nacht.
Ob Kaiser, ob König,
Ob arm, ob gelehrt:
Am End liegen alle
Tief unter der Erd.

Der Kaiser Napoleon,
Der gewaltige Held,
Der wollte bezwingen
Europa, die Welt.
Da griff unser Deutschland
Ans gute Gewehr,
Marschierte nach Frankreich
Das alliierte Heer.

Der Mensch soll nicht hassen,
Weil kurz ist das Leben;
Er soll, wer ihn kränket,
Vom Herzen vergeben.
Viel haben hienieden
Den Krieg sich erklärt;
Dann schlossen sie Frieden
Tief unter der Erd.

Napoleon der Große
Nahm Abschied von der Welt
Und hat sich im Himmel
Ein Plätzchen bestellt.
Kaum war er gekommen
Ans himmlische Tor,
Da stand der Herr Petrus
Als Wächter davor.

Der Mensch soll nicht denken,
Ein andrer wär schlecht;
Vorm Himmel hat jeder
Das nämliche Recht. 385
Der Himmel läßt wandern,
Ob arm, ob gelehrt,
Und führt zuletzt alle
Tief unter die Erd.

Da fragte der Kaiser:
›Darf man wohl hinein?‹
Gab Petrus zur Antwort:
›Nein, Sire, leider nein!
Da sitzen seit langem
Ganz friedlich ihrer zween:
Der heilige König Ludwig
Und der Herzog von Enghien.‹

Der Mensch soll nicht stolz sein
Auf Glück und auf Geld,
Macht ihn das Volk auch
Zum Helden der Welt.
Das Schicksal dem einen
Die Krone beschert,
Den andern bringt's Fallbeil
Schnell unter die Erd.

Das menschliche Leben,
Wenn man's richtig betracht't,
Schwind't wie Nebel am Morgen,
Wie Traum in der Nacht.
Ob Kaiser, ob König,
Ob arm, ob gelehrt:
Am End liegen alle
Tief unter der Erd.«

Der Beifall war mäßig, als ob an dem Geleier niemand viel gelegen wäre; und es gab sogar welche, denen machte der absammelnde Hund, mit dem Hut im Maul, mehr Spaß, als der ganze Gesang.

Im nächsten Augenblick wandten sich alle Köpfe dem Garteneingang zu, wo ein untersetzter Mensch, halb zivil, halb militärisch gekleidet, eintrat. An einem Riemen querüber hing ihm ein Säbel, 386 ein paar Doppelpistolen, und auf dem Kopf hatte er einen Kalabreser, wie die Studenten ihn trugen. Die Bauern rissen Augen und Maul auf. »Ja, heiliger Eustachius«, sagte einer, »das ist ja unser Kalbl-Stumpf! – Tust du denn Theater spielen?«

Der Kalbl-Stumpf spuckte verächtlich aus. »Halt 's Maul, du Rindvieh!« sagte er. »Sonst spiel ich dir ein Theater, wobei dir Hören und Sehen vergeht.«

»Oho!« riefen die Bauern. »So ein Haderlump! Werft den Hundling hinaus!«

Der Kalbl-Stumpf steckte ein Pfeifchen in den Mund und pfiff durchdringend. Sogleich stürzte ein Halbdutzend Kerle in den Saal, und der Kalbl-Stumpf lächelte höhnisch: »Wird euch nichts übrigbleiben, müßt mich schon ein wenig respektieren. Jetzt bin ich jemand!« Er ging, von seinen Mannen begleitet, durch den Garten und warf mit großer Geschicklichkeit, fast wie ein Offizier, seinen Schleppsäbel zurück. Beim Saaleingang wandte er sich nochmals zurück und rief mit einer leisen, aber durchdringenden Stimme: »Damit ihr's wißt: in Wien ist die Revolution ausgebrochen.« 387

 


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