Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Die Versammlung

An dem Tag, wo Silvester im Großen Hochzeitssaal beim Bräu sprach, kamen die Bauern von den entferntesten Lehen und Keuschen. Die meisten hatten auch ihre Weiber mitgenommen; wenn diese sich auch aus der Versammlung nichts machten, so war es doch eine schöne Gelegenheit, ins Dorf und unter die Leute zu kommen. Überall sah man sie in Gruppen talab wandern, sah die Rennwagerln rumpeln, die schweren Gäule stolpern und die Kutschen hopsen; da die Straßen nur selten benutzt wurden, war es ihnen nicht der Mühe wert, die Löcher auszufüllen.

Diese Versammlung war etwas zu Ungewöhnliches: Ein Ellenhuber-Bub, der, statt ein Geistlicher oder meinetwegen ein Advokat, den man bei Gelegenheit auch brauchen konnte, zu werden – ein Sterngucker, ein Bücherschreiber, ein Volksredner wurde!

Die Mena saß in der Bräustube, mit Lambert und anderen Dorfleuten. Sie war durch den Bruder, und was drum und dran hing, aus dem stillen Geleise gebracht, in dem sie bisher gelebt hatte. Es wurde über diese Dinge so viel geredet, und sie wollte sich selbst überzeugen, was eigentlich dran war. Und endlich: Lambert hatte nicht nachgegeben. Für ihn war es eine feine Gelegenheit, ihr nahe zu sein und vor ihren Augen zu paradieren. Er führte auch das große Wort, und sie konnte nicht umhin, ihn heimlich zu bewundern. Wie er so redete und gestikulierte, dachte sie unwillkürlich: Wenn er nicht verheiratet wär, in den Lambert könnt ich mich noch verlieben.

Die Männer fragten: »Also, Lambert, was hältst du von der neumodischen Politik?«

»Ja«, lachte er, »es ist wirklich ganz aus der Weis, wie's jetzt in der Welt zugeht. Die Lage in Wien ist äußerst gespannt. Alle Tage gibt's eine andere Neuigkeit: der Kaiser ist abgesetzt, der Kaiser ist gefangen. Es ist, als ob der Teufel selber in die Menschen gefahren wär. Ich sag nur soviel: Handel und Wandel müssen im Gang bleiben, sonst ist's weit gefehlt!« 331

Die zwei Ernsthaften ruderten zwischen den besetzten Tischen auf die Mena zu, und sie erschrak leicht. Der Alt-Oberhauser, auch der »Schriftgelehrte« genannt, war da, sie hatten nämlich herausgebracht, daß er zwei Zeitungen las und allwöchentlich den weiten Weg in den Markt machte, wo ihm ein Gerichtsadjunkt Bücher lieh.

Der Bräu schritt gelassen zwischen den disputierenden Gästen hin, begrüßte den und jenen, und nahm sogar ein paarmal den Willkommentrunk. An seiner rotgetupften Weste hing eine schwere Uhrkette mit einem Uhrschlüssel, an dem grüne Edelsteine funkelten. Hie und da begrüßte er jemand separat, so auch die Mena. »Das ist ja unsere Sängerin!« rief er. »Die Mena von Ellenhub. Wann singen wir denn wieder?« Freilich, zu einer Antwort kam sie nicht, und der Bräu wartete auch auf keine. Aber es machte sie doch für den Augenblick stolz, obgleich die Ursache seiner Freundlichkeit eine andere war, als sie vermutete. Die Leute gingen an ihrem Tisch vorüber und riefen halb im Spaß, halb im Ernst: »Ja, Mena, ist's denn wirklich wahr, daß dein Bruder ein Demokrat geworden ist?« Womit sie fraglos etwas Fürchterliches, ja Verabscheuungswürdiges zu verbinden schienen.

Auf den Gesichtern der Männer lag ein Zug von Streitlust, und es ging an den Tischen viel lauter her, als sonst.

Drei große Strömungen flossen durch die getäfelte Wirtsstube. Die erste hielt sich ans Herkommen und wollte keine Haaresbreite davon abweichen; sie lobte das Alte, Langerprobte, von Vätern und Großvätern Überkommene. Die zweite hielt sich zwar auch noch ans Alte, an die eisenfesten Sprüche, die noch keinen im Stich gelassen, waren aber für Reformen. Und endlich die dritte Strömung wollte das Alte zum Gerümpel werfen, glaubte an ein Neues, noch nie Dagewesenes, und verlangte die Einführung dieses Neuen mit Geschrei und Unduldsamkeit. Außer diesen drei extremen Gruppen gab es noch eine vierte, die hatte teils ruhige, teils pfiffig verschlossene Gesichter und war hartnäckig darin, sich in keine Politik einzulassen. Tadelte man sie darob, lächelten sie überlegen und fragten: Warum heißt es denn von einem hinterhältigen Kerl: das ist ein »politischer Mensch«?

Und so wie diese Strömungen die Menschen sonderten, saßen sie auch gesondert an den Tischen, Großbauern und Bauern; Ganz-, 332 Halb- und Viertellehner, die hundertundvier Tag im Jahr roboten mußten; die Batzenhäusler, die je nach Besitz die Hälfte oder ein Viertel des Jahres sich für andere schindeten; die Innmänner und Tagwerker; endlich die Tische mit den Jägern, Holzknechten und Kienspanschlagern, mit den Korbflechtern, Schnapsbrennern, Sauschneidern und Brotträgern.

Durch die offene Tür sah man ins Extrazimmer, das mit Studenten besetzt war. Die Bauern fragten sich, welche Art von Bauernschinder wohl aus ihnen hervorgehen würde. Eine Ausnahme machten sie mit dem Herrn Archivar. Besonders die Mena nahm ihn in Schutz und tat sozusagen groß mit ihm: »Das ist ein Herr«, sagte sie, »den man nicht genug loben kann. So fein ist er und so gut anstehen tut ihm alles; wie er redet, ißt, trinkt und seine Gesten macht; es ist eine Freud, ihm zuzuschauen.« – Lambert und ein Haufen junger Burschen am Nachbartisch riefen: »Hoh, hoh! Die Mena ist verliebt in den Geißbart. Soll bei den Stadtschofen bleiben! Wir brauchen unsere Menscher selber!« Etwas Wahres mußte an diesen Dingen sein; daß er eine große Vorliebe für alte Altertümer, und eine ebenso große für junge Bauerndirnen hatte, die er in Ställen, Heuböden und auf den Feldern ausdauernd hofierte, war bekannt. Im allgemeinen war er gern gesehen, mit einer Mischung aus Höflichkeit und Verwunderung, dahinter sich ein kleines Lachen versteckte: ernst, restlos ernst waren sie nur, wenn sie sagten: der Haginghofer, der Ellenhuber, der Wahrlander! Es gab nur eine Arbeit auf Erden: die Bauernarbeit, darüber konnte niemand im Zweifel sein.

So wie die rauchige Gaststube das Extrazimmer, kritisierte das Extrazimmer die Bauernschaft, und zwar besorgte dies der Herr Archivar einigen Neulingen gegenüber, die sich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal herabließen, das »Volk« zu studieren.

»Der lange Tisch neben der Tür«, erklärte er, »das sind lauter ledige Bauernbuben, mit dem ersten Flaum unter der Nase. Die sind bloß aus Neugier gekommen, ob's nicht etwas zum Stänkern und zum Raufen gäb. Ihre ganze Politik richtet sich nämlich gegen den ›harten‹ Vater, die ›neidigen‹ Geschwister und gegen ›denselbigen, gottverdammten Hundsknochen‹, nämlich den nächtlichen Konkurrenten am Kammerfenster. Jeder von ihnen lebt Tag und Nacht in der komischen Furcht, er könnte bei dieser Sache zu kurz 333 kommen. In den Fensternischen sitzen die Jungbauern; sie haben ihre Tracht schon mehr modisch ausgestaltet; tragen Hüte aus gelöchertem Samt und zierliche Pfeifen aus gelbem Holz. Die Raufereien und Liebesgeschichten sind vorüber, ebenso Heirat und Kind; schon drückt der Alltag auf sie; angehaucht wie sie sind, von Aufklärung und Rebellengeist, haben sie Sehnsucht nach etwas, das die abgestumpften Sinne erfrischen könnte. Sie möchten sich vom Herzen gern an einem kleinen Aufruhr beteiligen; aber es klingen ihnen die wohlfundierten Worte der Väter in den Ohren. Dann ist dort der Tisch mit Leuten, die hochrückig sitzen und eifrig reden. Sie haben geschrammte Gesichter und Hände; Holzknechte, Keuschler und Häusler. Und dort drüben sitzen allerlei Taugenichtse und Tagediebe. Und der überlange Kerl, der mit der Adlernase und dem Schnurrbart, das ist der berüchtigte Schindertoni. Um den Ofentisch sitzen die ältesten Bauern; die passen mit ihrem Gebaren und ihrer Kleidung nicht mehr recht in unsere Zeit. Das Charakteristische an ihnen sind die hohen, grünen Hüte, einem Zuckerhut nicht unähnlich, mit schmaler steifer Krempe und einer glitzernden Goldschnur; daher man sie auch spottweise die ›Zuckerhütler‹ nennt. Der seltsamste Tisch aber ist jener dort, in der halbfinsteren Nische, wo man ein Dutzend Mannsbilder und ebenso viele Weibsbilder gemischt sieht, jedes eine kleine, weiße oder rote Hahnenfeder auf dem Hut. Diese vertrackten Hahnenfederchen üben in der Gemeinde eine unheimliche Wirkung aus. Es ist nicht der kühne Schildhahnhaken, der Raufermut ankündigt, auch Schneidfeder heißt; nicht der graziöse Reiher, der Frohsinn aussagt; es ist auch nicht der Gemsbart, der den Jäger und Wildschützen anzeigt; nein, es ist ein winziges, unaufhörlich baumelndes Hahnenfederchen, das, im Kontrast mit allem Herkommen und aller bäuerlichen Mode, die Bevölkerung in Aufruhr versetzt. Seine Träger umspinnt etwas Gefährliches; obgleich über der ganzen Sache tiefes Dunkel herrscht.«

Der Archivar mußte seine Erklärung unterbrechen, denn von einem erhöhten Tisch aus, wo die Einberufer der Versammlung saßen, schwang der Lehrer Zauner eine Glocke. Er war sehr gealtert, Haar und Bart schneeweiß, und da die Mena ihn lange Zeit nicht gesehen, dachte sie: das Leben vergeht!

Zauners Stimme erklärte die Versammlung im Namen des 334 demokratischen Vereins für eröffnet und bat um Besonnenheit und Sachlichkeit, damit man ihnen nicht wieder nachsagte, die Bauernmenschen könnten nur mit Dreschflegeln und Schlageisen ihre Streitigkeiten ausmachen. Schon fiel ein Zwischenruf: »Du bist ja kein Bauer!« Aber dann wurde es rasch still.

Der Ellenhuber-Vestl war für alle ein Ereignis, wie er so oben stand und redete, und nicht am wenigsten für seine eigene Schwester. Von den Ellenhuber-Geschwistern der Schmächtigste, hörte sie noch des Vaters Klage, daß er von Gliedmaß zu fein geraten und für die Bauernarbeit nicht zu gebrauchen sein würde. Und nun redete er vor so vielen Menschen; und wie er redete, ganz wie ein Buch. Sie verstand zwar das meiste nicht, aber bei gewissen Stellen überlief es sie heiß und kalt; und ebenso schien die Wirkung auf die Versammlung zu sein. Dieser Redner war der geborene Mann des Volkes, insonderheit des Bauernvolks; man sah gleich, er kannte dessen Arbeit, Leiden, Sorgen und Hoffnungen. Und wie er das Ding formte! Und was er alles aufs Tapet brachte! Gegen die Reichen und Mächtigen, gegen die Beamten und Bauernschinder, gegen die Kirche und die Habsucht der Pfaffen. Nachdem er sie alle tüchtig durchgehechelt, fuhr er fort: »Die Zeit der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist da; sie klopft an die Tore der Schlösser und Herrensitze; sie klopft an die Türen jedes Hofes, einer jeden Keusche und einer jeden Hütte, mit bittender, und wenn's nicht anders geht, auch mit starker Hand. Sie fordert Einlaß, und es gibt keine Macht der Erde, die ihr auf die Dauer den Zutritt verwehren könnte. Die Großen und Mächtigen halten zu eigennützigen Zwecken das Volk in Knechtschaft und Untertänigkeit, und besonders der Bauer ist von ihnen seit jeher bis zum Weißbluten ausgebeutet worden. Sie haben ihn gepreßt, auf der einen Seite durch die Steuern, auf der andern, daß sie ihm seine Naturerzeugnisse für einen Pappenstiel abnahmen; und endlich, indem sie seine Söhne ins bunte Tuch steckten, ihnen einen Schießprügel in die Hand gaben, und sagten: Gehe hin und erobere für uns neue Provinzen! – Und die Söhne des Alpenlands vergossen ihr Bauernblut eimerweise, damit jene ihre Paläste bauen, mit Gärten, Statuen und Springbrunnen, damit sie ihre Kokotten behängen konnten, mit Samt und Seide, mit Ringen und Edelsteinen. Der Bauernstand war seit undenklichen Zeiten in der Gewalt von Bösewichten, von Dieben 335 und Räubern, wenngleich sie Pfleger, Statthalter, Erzherzoge und Minister hießen. Menschen ohne Herz, voll Eitelkeit und Dünkel, voll Bosheit und Grausamkeit. Der Städter verspottet den Bauer wegen seiner Einfalt, seiner Sitten, seiner simplen Genüsse, seiner Treue, und diese Verachtung und diesen Spott immer wach zu halten, immer zu nähren, ist sein Hauptplan. Denn daraus erfließt ihm seine beste Nährmilch: nämlich, den Verachteten auszubeuten. Ohne Arbeit und Beschwer, auf Kosten des so Erniedrigten möglichst bequem zu leben, das ist sein Ziel! – Du Bauer! Ein Schimpfwort, ein Schmähwort, wahrscheinlich als Dank, daß er seinen Schweiß und sein Blut durch ein Jahrtausend für die Städter hingegeben hat. Was aber, könnte man fragen, hat den Bauer, den Herrn der Erde, so geduldig gemacht? – Es war nicht, wie man glauben könnte, die Geduld des Lamms, die ihm seit zweitausend Jahren gepredigt worden ist, es war vielmehr der brutale Zwang einerseits und die große Geduld des alten Naturheiden anderseits, der seinen Tag abwarten konnte. Und dieser Tag, der große Welttag der Bauernfreiheit, ist gekommen. Diese Bauernfreiheit fordert, Punkt I: Soll die Untertänigkeit samt aller dieselbe betreffenden Gesetze aufgehoben werden. Sollen alle Robot und Zehent, wie auch alle aus dem Untertänigkeitsverbande, dem Obereigentum, der Dorf- und Schutzobrigkeit, dem bäuerlichen Lehensverbande entspringenden oder ihm ähnlichen Natural-, Geld- und Arbeitsleistungen abgeschafft werden! Diese Bauernfreiheit fordert Bildung, Aufklärung, Spitäler; sie fordert, daß alles und jedes dem öffentlichen Wohle untertan werde; sie fordert als Anerkennung, daß der Bauer seit Jahrhunderten auf der einsamen Scholle ausgehalten hat, im Gegensatz zu den vielen faulenzenden Schichten der Städte, eine grundlegende Neuordnung des Staates. Sie fordert, daß der alte Spruch voll und ganz zur Wahrheit werde:

Der Bauer ist der erste Mann,
Weil er die Welt ernähren kann.

Der Bauer tritt auf, in der linken Hand eine grüne Fahne, auf der zu lesen steht: Freiheit, Ordnung und Recht! In der rechten Hand den Dreschflegel, womit er auf den Tisch klopft und fordert. Ihm folgen Millionen geplagter und mißhandelter Sklaven, die alle, 336 mögen sie heißen wie immer, seine Brüder sind. Und die Spötter und Zyniker seien gewarnt: sie mögen an die Bauernkriege denken! Die Bauernfaust, von den großen Herren stets so gut gebraucht, dieselbe Bauernfaust kann auch einmal vernichtend niederfallen; kann auch einmal die Herren niederwerfen, ihre Schlösser, ihre Paläste, kann ihren Stolz brechen und die wahre Volksfreiheit begründen.«

Der Beifall war groß: das ist einer, der uns aus dem Herzen spricht, der weiß, wo uns der Schuh drückt. Aber vielen unter ihnen waren Bedenken aufgestiegen, und sie wünschten, daß ihm jemand geantwortet hätte; aber es schien sich kein solcher Kopf zu finden. Bis endlich bei der Gruppe der Zuckerhütler eine Bewegung entstand. Hier saß der Alt-Oberhauser, und seine Tischnachbarn redeten ihm zu, aber er meinte: »Die Ehr, einem solchen Redner zu antworten, muß einem andern zukommen. Ich könnt höchstens reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«

An den Tischen raunten sie: »Traut er sich nicht, der Alt-Oberhauser?«

Nach einigem Zögern entschloß er sich doch. »In Gottes Namen!« sagte er. »Wenn's sonst keiner übernimmt, muß es ich übernehmen.« Er stieg auf den Antritt und nahm seinen Zuckerhut vom Kopf. Er redete in einer altertümlichen Weise, und wenn er sagte: »Item, wasmaßen, der wohllöbliche Herr Vorredner«, hörte man unterdrücktes Lachen. Aber bald zeigte es sich, daß er zwar eine besondere, aber durchaus feste Stellung einnahm und nicht ohne Geschick die Schlachtrufe des demokratischen Redners zerpflückte.

»Die drei Ding«, sagte er mit einer etwas singenden Stimme, »die da heißen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, reimen sich ja recht schön; aber das Ohr tut den Menschen genauso betrügen, wie das Aug. Der Mensch hat leicht Freiheit genug, seine Arbeit zu tun, vorwärts zu trachten und sich einen Hausstand zu bauen, niemand zu Leid und Gott zu Ehren. Die Freiheit ist eine schöne Sach, das Wort richtig verstanden, aber es wird auf der Welt mit allem was heilig ist, viel Schindluder getrieben. Und dann möcht ich gern wissen: woher hat der Herr Vorredner die neumodische Freiheit? – Hat er sie vielleicht bei seiner Sternguckerei am Himmel entdeckt? – Ich beobacht das Firmament seit einem halben Jahrhundert: die Sonn, der Mond und die vielen tausend Stern gehn alleweil die 337 gleichen Bahnen; da ist alles nach Gesetzen geordnet, sicher, unverrückbar, fester als die Zehn Gebote Gottes, fester als alle und jede Menschensatzung, und wäre sie tausend Jahre alt. Am Himmel ist nichts von einer Freiheit zu entdecken. Die neumodische Freiheit ist eine falsche Freiheit; eine Erfindung von Schlauköpfen, den großen Haufen zu ködern. Die neumodische Freiheit ist ein Schein, und der Schein trügt. Er hat schon ganze Völker betrogen, hat sie in Not und Drangsal, in einen Sumpf von Blut und Leichen geführt. Ja, dieselbige Freiheit, die sie uns jetzt auftischen, ist ein Blendwerk. Es gibt keine solche Freiheit, und es braucht auch keine solche zu geben. Was aber die Welt braucht, wie der Hungrige ein Stücklein Brot und der Durstige einen Trunk Wasser, das ist Ordnung und Gesetz! – Item, wie steht es mit der Gleichheit? – Wieder muß ich fragen – ein dummer Bauer muß alleweil fragen! – ob der Herr Vorredner bei seiner Sternguckerei etwas von dieser Gleichheit am ewigen Firmament entdeckt hat? – Von einer solchen Gleichheit ist aber auch nicht das kleinste Argument zu entdecken. Die einen Stern sind klein wie ein Feuerfunken; die andern groß, wie das Licht von einem messingenen Ölstock; und wieder andere strahlen so herrlich, wie eine große Wachskerze; bis hinauf zum Mond, der die ganze Welt erhellt; bis zur Sonn, die so stark leuchtet und wärmt, daß alles wächst, blüht und gedeiht auf Erden. Wo ist da, frag ich, eine Gleichheit? – Und der Himmel und die Sonn und die Stern, die sind doch wohl alle von Gott? – Er hat also keine Gleichheit geschaffen. Ei, da schau! Und da gehen jetzt überall Leute herum, so kleine Herrgötter, die reißen weitmächtig das Maul auf und sagen: Alle Menschen sind gleich! – Die Menschen sind nicht gleich! Und noch schlimmer wär's, wenn man sie gleichmachen tät. Das ist ja das Schöne und Lustige an der Welt, daß sie so verschieden und buntscheckig ist. – Item, was die Brüderlichkeit anbelangt, ist es gewiß gut, brüderlich zueinander zu sein. Der Mensch soll letzten Endes denken, daß auch der andere, gleich ihm, ein Mensch sei. Aber willst du mein Bruder sein, mußt du dich aufführen, wie sich ein Bruder aufführen soll. Fluchst du nicht mir, fluch ich nicht dir. Gehst du mit Spieß und Speer gegen mich, wehr ich mich auch mit Spieß und Speer. – Und endlich kommen wir zum heikelsten Punkt: Alles wollen wir abschaffen, Robot, Frondienst und Kirchenzehent! Ah, da schau! Es steht also unserem 338 Stand das reine Paradies bevor. Aber keiner fragt, was tritt denn an die Stell des Abgeschafften? – Und weil wir schon einmal beim Abschaffen sind, warum wird denn kein Wörtl vom Kaiser gesagt? Wenn ihr alles abschaffen wollt, warum nicht auch den Kaiser?«

An dieser Stelle der Rede entstand im Saal eine totenstille Pause. Es war ein Wort gefallen, das mächtig auf die Gemüter wirkte. Besonders die Zuckerhütler wackelten unruhig hin und her; aber auch an den Herrentischen war man durch die unerwartete Frage aus dem Konzept gekommen.

Der Alt-Oberhauser fuhr fort: »Gelt, Männer, da tut ihr fein schweigen? – Ihr denkt euch: Haben wir alles, was um die kaiserliche Majestät ist, in den Dreck gezogen, muß der Kaiser selber nach! Ja, so ist's: die Stadtleut wollen jetzt gegen den Kaiser und gegen den Herrgott Sturm laufen . . . Aber ich sag ihnen nur eins: Vorsichtig sein! Recht vorsichtig! Der Teufel spinnt ein feines Garn, so fein, wie's noch kein Vogelsteller und kein Fischer aufgestellt hat. Keine Menschenhand kann's tasten, kein Menschenaug kann's sehen, aber wenn der Mensch sich einmal drin gefangen hat, muß er sich zu Tod zappeln. Ich sag euch: den Herrgott und den Kaiser kann niemand abschaffen! Wegleugnen kann man sie . . . Der Kaiser und der Herrgott, die zwei sind nicht von gestern und vorgestern, die sind von ehedem! Die sind aus einem Stoff, wie der Marmelstein, die sind von Ewigkeit.«

Gelächter und Zurufe ertönten. Nur die alte Bauernschaft saß schweigend. Sie sah mit den inwendigen Augen genau, wie der Satan das furchtbare Garn spann, bis ein neuer Redner sie aufhorchen ließ.

Der Schindertoni erreichte eine ziemliche Wirkung; aber nur bei gewissen Tischen. Es waren nicht die Tische der Bauern. Bei ihnen wurde er verachtet, wenn sie ihm auch bei seinem Handwerk soviel als möglich Vorschub leisteten. Aber welchen Wert kann das haben, was ein Verachteter vorbringt? Er schrie auch zuviel, fuchtelte zu stark in der Luft, und auf vielen Gesichtern erschien ein spöttischer Zug. – Das hätte et unterlassen sollen, der Meister auf dem Tanzboden, beim Raufen und beim Wildschießen. Er nannte die Rede des Alt-Oberhausers einen Stuß und schloß: »Alles muß abgeschafft werden, das Veränderungspfundgeld, das Moratorium und Laudemium, der Kirchenzehent und der Schulzehent, Robot, 339 Vorspanngeld, die Lehensherrschaft, die Vogteiherrschaft, die Zehentherrschaft; alle diese blutsaugerischen Herrschaften müssen verjagt werden. Es soll keine Herren und keine Sklaven mehr geben.« In diesem Ton ging es weiter, und der Refrain seiner Rede war: Nicht lang reden, dreinschlagen!

Die Bauern schüttelten die Köpfe; der Bräu, der Haginghofer, der Krämer und viele andere machten bedenkliche Gesichter: so einfach konnte die Sache nicht sein! Wer ohne Plan und Hirn einreißt, muß damit rechnen, daß er eines Tags kein Dach über seinem Kopf hat.

Jetzt kam ein Redner, bei dem sich einige schon am Hinterkopf kratzten, bevor er noch den Mund aufgetan: der Lichtmeßberger, der Ältere. – »Wie heißt's denn«, hob er an, »in der Bibel? – ›Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen.‹ Die Stadtleut wollen aber nur eins: sich vor jeder wirklichen Arbeit drücken und mittels einer Scheinarbeit auf Kosten der Bauern leben. Die Tausende, die Hunderttausende der Nichtsarbeiter und Tagdiebe in den Städten, die sind das Verderben. Dort reden sie in den Zeitungen, in Büchern und Versammlungen Tag und Nacht von der Arbeit, daß sie zu keiner wirklichen Arbeit mehr kommen. Da frag ich einen: Wozu brauchen wir die vielen Tausenden von Beamten?«

Ein Tumult entstand. Rufe schollen: »Beleidigen Sie nicht ganze Stände! Reden Sie keinen Unsinn! Das ist eine Gemeinheit!«

Aber die Tische der Bauern, der älteren und ganz alten, hatten die stärkeren Stimmen. Sie riefen: »Bravo, Lichtmeßberger! Reden lassen!«

»Wir Bauern«, fuhr er fort, »können uns selber regieren. Das ist die Lösung, und die einzig richtige! Ich sag: Bauer, steh auf! Schaff dir deinen Staat, den Bauernstaat!«

Das war kurz und bündig gesprochen und gab viel Beifall. So dachten sie alle.

Der Pfarrer Gries hatte es eilig, auf das Podium zu gelangen. Er trug Röhrenstiefel, eine baumelnde Uhrkette und unterschied sich von einem Bauern nur durch seinen Glanzkragen und den schwarzen Rock. Er hielt ein rotes Taschentuch in der Hand und trocknete sich die Stirn. Es war heiß im Saal, und überdies hatten die eben gehaltenen Reden ihn bang gemacht, welche Besorgnis ihm sogleich bestätigt wurde. 340

Die Bauernburschen versuchten, ihn durch Grimassen, Klappern mit den Zinndeckeln und höhnischem Getuschel in Verwirrung zu bringen, bis der Haginghofer jäh in die Höhe ging. »Wird bald Ruh werden?« fragte er. »Ihr verdammten Grünschnäbel!« Es burrte an den Tischen zwar noch eine Weile, als ob jemand mit einem Stecken in ein Wespenloch gestochen hätte, aber sie fügten sich doch.

Gries hob an: »Die Frage, wenn ich die neumodische Lehr richtig versteh, geht vor allem dahin, ob eine Gesellschaftsordnung möglich sei, in der alle Menschen, ohne Zwang und Gewalt, allein durch das zum obersten Gesetz erhobene Gemeingefühl und Gemeinwohl, ohne Bedrängnis, Not und Elend, zusammenleben könnten? – Diese Frage, dünkt mich, sucht die neumodische Lehre zu beantworten. Nehmen wir an, daß sie dies Ziel ehrlich und aufrichtig anstrebt, und fragen wir weiter, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln sie es zu erreichen sucht, so finden wir vor allem drei: Neid, Haß und Ungerechtigkeit!«

»Unsinn! Alter Kohl! Schluß!« riefen Stimmen.

Gries erschrak, fuhr aber trotzdem fort: »Es muß gesagt werden, daß unsere Welterneuerer den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen, daß sie durch eine nimmermüde Aufstachelung von Neid, Haß und Ungerechtigkeit – Neid, Haß und Ungerechtigkeit in der Welt überwinden wollen. Und nun sehen wir uns einmal diesen dreimal geschwänzten Teufel näher an. Da ist vor allem der Neid. Der Neid, heißt ein Bauernspruch, frißt Vieh und Leut. Hat also eine höchst schauderliche Wirkung, und wer ihn, statt zu bekämpfen, hegt und pflegt, kann ein ganzes Volk dermaßen in Jammer und Elend stürzen, daß die Teufel in der Hölle selber mit ihm Erbarmen haben. Dieser Neid vergiftet die Volksseele, ruiniert ihren Organismus und tötet letzten Endes die Mitfreude, das höchste Lebenselement; jenen Traum, der die Welt erhält und sie auf unsichtbaren Flügeln trägt. Der Neid tötet jeden Fortschritt und jedes Glück. Was muß mit einem Volk geschehen, wenn dieses Neidgift alles öffentliche und geheime Leben durchdringt, wenn es zur täglichen Speise und zum täglichen Trank wird? – Es muß sein Mark zerfressen, muß es jedweden Glückes berauben und am Ende in Elend und Sklaverei versenken.«

»Unsinn! Salbaderei!« und ähnliche Rufe wurden von den Tischen der Freisinnigen her laut. 341

»Jedes Laster trägt seine eigene Strafe in sich; und Kinder und Kindeskinder müssen auslöffeln, was die Väter ihnen eingebrockt haben. Was uns fehlt, ist nicht, wie man dreist behauptet, daß die Menschen von jeher zu wenig Neid gehabt hätten, sondern daß sie jegliche Mitfreude verloren haben. Und nun kommen wir zum zweiten Mittel, womit sie das neue Paradies herbeiführen wollen: zum Haß. Man predigt ihn auf allen Gassen und Straßen, gegen die Reichen, gegen den Hof, gegen den Adel, gegen den Kaiser und nicht am wenigsten gegen Gott! Insonderheit predigt man den Klassenhaß mit allen Regeln der Kunst, den Priesterhaß, und zwar mit einem solchen Eifer und Fanatismus, als ob von der Austilgung dieses Standes das Glück der Welt abhinge. Sie hassen im Priester die göttliche Idee, die er versinnlicht. Er erinnert sie, im Taumel ihres weltlichen Lebens, an das Überweltliche, Ewige. Darum, und nicht aus Scheingründen, hassen sie diesen Rock, der nur allzuoft eine Brust voller Schmerzen und Kümmernisse bedeckt; hassen diesen Stand, den besonders zu schonen das erste Gebot aller Menschlichkeit sein müßte. Denn auch er hat seinen Stand nicht selber erwählt; das Schicksal bestimmte ihn dazu, wie es diesen zum Handwerker, jenen zum Beamten und den dritten zum Künstler bestimmte. Daher sei es offen ausgesprochen: die heutigentags in Wirtsstuben und Versammlungen, in Zeitungen und Büchern so beliebte Haßpredigt gegen den Priesterstand ist pöbelhaft und gemein; würdig einer Welt von Teufeln, aber unwürdig der Menschen, der Geschöpfe Gottes. – Was die Ungerechtigkeit anbelangt, so schreien die Aufklärer: es gibt keine Gerechtigkeit in der Welt! Und die Menschen glauben es, weil hier, im Hadern und Reißen des Lebens, unter der Glühgeißel der Begierden und Laster, die Guten zuweilen schlecht, die Schlechten zuweilen im Glück leben. Man versteht unter Gerechtigkeit heute, daß es allen gleich schlecht gehen sollte. Sie schreien: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Aber niemand will selber gerecht sein, und die am lautesten nach der Gerechtigkeit schreien, sind die Ungerechtesten.«

Unruhe entstand. Auch Lachen hörte man. Rufe wurden laut: »Das ist ja eine Predigt! Pfaffengeschwätz! Zurück ins Mittelalter! Es lebe die Finsternis!«

Gries fuhr fort: »Darum resümiere ich: Statt des Neides setze ich die Mitfreude. Von dem Zeitpunkt an, wo man auf allen 342 Lehrkanzeln und Predigtstühlen, auf allen Gassen und Straßen wiederum die Mitfreude am Ganzen verkündigt, beginnt die Neugeburt unseres Volkes. Und wahrlich, der wäre dreimal arm, der nicht mehr daran glauben könnte oder darüber lachte. Statt des Klassenhasses setze ich die Liebe und das gegenseitige Verständnis. Alle Stände sind von Gott. Wer den Klassenhaß predigt, ist aber gewißlich vom Teufel. Das Glück eines Volkes besteht in der unantastbaren Verbundenheit seiner Stände. Diese Verbundenheit schafft den glücklichen Staat.«

Getrampel und Schlußrufe wurden immer stärker. Über die runzeligen Wangen des alten Pfarrers rollten Tränen. Diese Feststellung ließ die Bauernburschen vor Vergnügen laut heulen.

»Es wird viel gespöttelt«, tief er mit der letzten Kraft seiner Greisenstimme, »über uns Geistliche heutigentags, auch in unserer Pfarre, auch über mich. Ich weiß es, sag aber nur soviel: der Mensch kann seines Mitmenschen spotten, und läßt er sich spotten, ist er reif für den Untergang. Er kann der Obrigkeit spotten, und läßt sie sich spotten, ist sie wiederum reif für den Untergang. Der Mensch kann des Kaisers spotten, und läßt er sich spotten, ist auch er reif für den Untergang. Der Mensch kann alles auf Erden bespötteln, aber er kann den Herrgott nicht bespötteln; geschieht's aber doch, dann ist ein ganzes Volk reif für den Untergang.« Die Tränen hüpften und sprangen über die geröteten Wangen, über die Schnupftabaknase mit ihren vielen Verzweigungen.

Es wurde offenbar, daß Gries heute von allen im Stich gelassen wurde: die jungen, die mittleren, ja selbst ältere Menschen lächelten geringschätzig. Nur zwei Gruppen standen fest: die Frauen und die Zuckerhütler. Was die Frauen anbelangte, klatschten sie heftig Beifall und riefen: »Bravo, Herr Pfarrer!« Die Zuckerhütler machten lange Gesichter und wiederholten bedächtig: »Der Kaiser . . . läßt er sich aber spotten, ist er reif für den Untergang! – So ist's! – Der Herrgott . . . läßt er sich aber spotten, ist ein ganzes Volk reif für den Untergang! – So ist's!«

Die Rede des Archivars schuf wieder Ruhe. Doch wurde sie mit wenig Interesse angehört.

»Es sind«, sagte er, »in dieser Versammlung vorzügliche Worte gefallen, ja, ich bin sogar meinesteils überzeugt, daß jeder dieser Männer das Herz auf dem rechten Fleck hat und nur das Beste will. 343 Aber ganz und vom Herzen einstimmen muß ich, wenn angedeutet worden ist, daß seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten ein verfälschter Sinn ins Volk getragen und in ihm genährt worden ist; ein Sinn, wo immer ein Satz eine tiefe Wahrheit, das ganze Gebilde aber, aus solchen Sätzen, eine abgrundtiefe Lüge ist. Es ist mit Berechtigung gesagt worden: Hütet euch vor den Irrlehren! Nur meine ich, daß man die Städter nicht so einseitig beurteilen darf, wie wir es eben gehört haben. Städter und Landbewohner haben einander nötig und können gegeneinander nicht leben. Freilich, der Städter soll dem Bauer sein Bestes geben, und der Bauer hat recht, wenn er sich gegen das Schlechte stemmt, das ihm von dieser Seite nicht selten zugebracht wird. Ob das, was man ihm jetzt bringen will, die Revolution, der ›Völkerfrühling‹, etwas durchaus Gutes ist, bleibt fraglich. Auch wird man damit bei den Bauern wenig Glück haben. Was tut denn der Bauer auf seinem Hof? – Er macht kleine Verbesserungen; sein Sohn, sein Enkel setzen sie fort, und so und nicht anders wird aus einem Geringen, Unvollkommenen ein Schönes und Achtunggebietendes. Auf jedem dieser Höfe ist einer der ›Herr!‹ Kein Bauer kann sich einen Hof mit zwei Herren denken. Einer muß anschaffen! Das ist ein Spruch, und dieser Spruch ist die Wahrheit. Ich meinerseits lasse den Menschen die Freude und den Taumel am Neuen. Aber man täusche sich nicht: Wenn sich ein Volk in dauernden Kriegszustand versetzt fühlt, bricht die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Schutz und Schirm, nach einem Dach, wohin sich alle flüchten können, die Großen wie die Kleinen, nach einem Hut, der alle behütet, mit einer solchen Naturgewalt hervor, daß sie alle Hindernisse hinwegräumt wie Splitter und Spreu. Und dieser Schirm und Schutz, und dieses Dach und dieser Hut, was ist es? – Die Allmacht und Majestät des Kaisers.«

An dieser Stelle erhob sich Zischen, Pfeifen und Getöse. Rufe wurden laut: »Reaktionär! Pfaffenknecht!«

Das Geschrei wurde immer ärger; von Tisch zu Tisch fielen Schimpfworte. Die Rede Silvesters, worin er die Vorredner widerlegen wollte, ging in dem allgemeinen Tumult unter, und schließlich mußte die Versammlung wegen der vorgerückten Stunde ohne Ergebnis geschlossen werden.

In der Bräustube ging es noch eine Weile sehr laut her. Erst jetzt konnte man aus sich herausgehen. 344

Die Mena war eine aufmerksame Zuhörerin, nicht nur beim Bruder, sondern bei jedem Redner gewesen; sie hatte auch fleißig in sich hineingehorcht, was wohl ihr Inneres dazu sagen mochte, aber siehe da: es sagte ihr nichts! Sie lächelte zu dem ganzen Wortstreit, lächelte, als sie sah, welch eine cholerische Stimmung an den Tischen herrschte. Tratzende Reden flogen hin und wider, und zuweilen fiel eine Faust so stark auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. Ein völlig unbekanntes Element, das des Mann-Menschen, trat ihr vor Augen; ein Element, von dem sie eigentlich nicht das geringste begriff. Es schien ihr unverständlich, wie die Mannsbilder sich über etwas anderes erregen konnten, als über die – Weibsbilder. In ihrem Lächeln war etwas Fröhliches, heimlich Triumphierendes, das besagte, daß sie für nichts wirkliches Interesse hatte als für Liebe, Muttertum und Lebenssicherheit. 345

 


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