Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Sehnsucht des Blutes

Das Lachen des Haginghofers klang der Mena noch ein paar Tage in den Ohren. – Wenn er so lachen kann, da werd ich vielleicht bei ihm mit meinem Ansuchen mehr Glück haben. Sie lauerte, bald im Stall, bald in der Tenne, und wie sie ihn am Vorhaustisch sitzen sah und nach dem Lanzenreiter fragen hörte, trat sie vor ihn hin: »Ich hätt eine Bitt«, sagte sie.

»Ja, und?« Bei dieser Frage zog er die Augenbrauen hoch, und der große Mund bekam energische Linien. Aber er war sehr freundlich und sagte: »Freilich! Geschwister müssen fest zusammenhalten.«

Es war ein wunderherrlicher Tag. Zahllose Lerchen stiegen singend auf und nieder, die Grillen zirpten, und über den Wiesen schwebten Hunderte von braunen, weißen und zitronengelben Faltern. Die Mena trug ihr bestes Kleid, das freilich schon anfing, überall zu kurz zu werden, besonders an den Ärmeln, obgleich sie den Saum ein paarmal herausgelassen hatte. Es tat ihr wohl, die viele Arbeit und die strengen Augen der Bauersleute einmal vergessen zu dürfen und einen ganzen Tag für sich zu haben. Sie sog alles ringsum wie einen gewohnten und ganz unentbehrlichen Wundertrank in sich ein: den Sonnenschein, der auf den Wiesen lag, den Morgentau, der an den Gräsern funkelte, die braunen Äcker, deren Dampf wie ein Opferrauch zum Himmel stieg. Sie riß die blauen Ellenhuberaugen weit auf und staunte. Sooft sich ein Nebelschleier hob, kamen Bilder zum Vorschein, ganz in Farben getaucht, Pflüger mit sattbraunen Pferden, glänzendschwarze Raben, die krächzend aufflogen, und weißärmelige Mäher, die ihre Wetzsteine an den blinkenden Sensen hin und wider führten. Auch das kleine und allerkleinste Leben trat in diesem scharfen Morgenlicht mit höchster Deutlichkeit hervor, jedes Blättchen, jeder Halm und jeder Stengel, jede Blüte, Biene und Wespe, die darin saugte, und die feinen Spinngewebe mit den grasgrünen Spinnerinnen, die geschäftig auf und nieder liefen. Was sie empfand, war etwa dies: Wie glücklich bin ich, daß ich lebe, atme, wandere! 121

Aber in diesem Augenblick legte sich ein Eisenreifen um ihr Herz: Wie werde ich meine Geschwister antreffen? – Sie hatte jedes einzelne immer noch so vor Augen, wie es damals, in der bitteren Woche, von ihr Abschied genommen. Sie stellte ihren Handkorb auf den Boden und deckte ihn rasch auf, um zu sehen, was die Bäuerin ihr wohl mitgegeben haben mochte. Es war überaus viel, zum Essen und zum Schlecken, und sie dachte gerührt: im Grunde ist sie doch gut!

Gar befremdlich schien ihr der fremde Ort und das hüttenartige Haus, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift hing: Ruppert Langer, Rechenmacher. Auf dem Platz davor war ein Berg Blöcher aufgeschichtet, und wie sie eintrat, hörte sie rückwärts klopfen und hämmern. Sie ging einen finsteren Gang zurück, wo es beklemmend nach altem Hausrat und Moder roch, und hielt vor einer Tür, die ein verglastes Guckloch hatte. Sie blickte durch die verstaubte Scheibe ins Innere und stand wie gebannt: Jörgei, der beim großen Abschied so tapfer gewesen, saß rittlings auf einer Schnitzbank, die dünnen Beine in viel zu kurzen Hosen, die Füße in Holzschuhen, die traurig komisch herabhingen, die Hemdärmel aufgekrempelt, so daß man die übermageren Arme sah, während die Hände krampfhaft ein großes Reifmesser hielten und mit Eifer einem Rechenjoch entlangführten. Er neigte den Kopf nach rechts und nach links, zog hier einen blattdünnen Span, dort einen herab, und beaugapfelte unermüdlich sein Werk. Das Gesicht, von einem strohblonden Haarschopf umrahmt, war gegen ein winziges Fenster gerichtet, das einzige, das der Raum hatte und das eher einer Schießscharte glich; ein blendender Sonnenstreifen fiel eben herein und beleuchtete das Antlitz des Bruders. Die Mischung von Kindheit und Ältlichkeit darin, als ob es einmal durch einen Schreck jäh aus dem Glück der Kindheit in den Gram des Alters hineingestoßen worden wäre, ergriff sie so, daß ihr augenblicklich die Tränen in die Augen traten. Aber sie nahm sich sofort wieder zusammen, hüstelte, klinkte endlich die Tür auf und sagte in einem lustigfrohen Ton, worüber sie sich nachher selber wunderte: »Guten Morgen in aller Früh!«

Der junge Rechenmacher starrte auf sie wie auf eine Fremde; dann fing sein Gesicht zu zittern an, und er griff nach einem Sessel, um ihn mit seinem Schurz von den Hobelspänen rein zu fegen. »Nein, so was, die Mena!« wiederholte er mehrmals. 122

Diese sah gleich, daß er im Grund in einer gedrückten Stimmung war, aber nicht als Folge einer Laune oder eines Ärgers, sondern gleichmäßig belastet von dem Geschick, das alle Ellenhuber Geschwister getroffen hatte. Ein Glück, daß der Alte nicht hier war, so konnte er in der schönsten Manier über die Verlegenheit hinwegkommen, indem er der Schwester mit sichtlicher Freude alle Einzelheiten darlegte, wie das bäuerliche Werkzeug stufenmäßig vom rohen Block bis zum glattpolierten Rechen sich vollendete. Da lehnten im Winkel stablange Fichtenpfosten, wie man sie in unregelmäßiger Dreikantform vom Baumstamm gespalten, nebenbei Hölzer im Ausmaß der Joche; endlich lag da ein Haufe lärchener Klötze in Zahnlänge, sah man einen Zwieselstock mit messerscharfem Rundeisen, so daß unten der fertige Rechenzahn herausfiel.

Die Mena freute sich, wie der Bruder vor ihr so das vertraute und geliebte Instrument zusammensetzte. Nebenbei gingen ihre Augen forschend durch den Raum, dessen Wände aus nackten Steinen bestanden, ohne Mörtel. In einer Ecke, verborgen hinter Gerümpel, entdeckte sie ein Bildchen unter Glas und Rahmen: Josef, der Zimmermann, einen Balken messend, und zu seinen Füßen der spielende Jesusknabe. Mit raschem Instinkt erkannte sie, daß es zwischen Jörgei und diesem Bild irgendeine Bewandtnis hatte. Dann kramte sie ihren Korb aus, und da des Bruders Armseligkeit sie überaus stark gepackt, gab es einen gegupften Haufen von Klötzen, Apfelsinen, Krapfen und überdies einen blauseidenen Schlips. Die Schönheit dieses Halstuches schien den Beschenkten dermaßen zu berauschen, daß er auf seiner Schneidbank wie elektrisiert hin und her rutschte und ausrief: »Zu diesem Schlips kauf ich mir einen Plüschhut und einen Sonntagsanzug, und wenn ich zehn Jahre sparen müßt!« Die Mena mußte zu diesem gewaltigen Vorsatz hellauf lachen; unterbrach sich aber sofort, als wieder jener eigentümliche Leidenszug auf dem brüderlichen Gesicht erschien. »Wenn du den Anzug einmal hast«, sagte sie ernst. »Den Hut kauf ich dir, damit es schneller geht.«

»Aber aus Plüsch?« fragte er mit leichtem Mißtrauen.

»Aus Plüsch!« bestätigte sie.

»Mit einem Adlerflaum?«

»Mit dem schönsten und teuersten Adlerflaum, der zu haben sein wird.« 123

Dieser Adlerflaum taute den Jörgei restlos auf. Er redete über alles mögliche, als ob ein Rad in ihm losgegangen wäre, führte die Übel an, die ihn hier plagten, wollte gern alles ertragen, nur eins nicht. Die Frau verwende ihn zum Kühmelken, auch darüber wollte er nichts sagen, aber ein Nachbardirndl hätte ihn dabei gesehen, und wenn sie ihn jetzt nur erblickte, schrie sie schon im Takt: »Kühmelker! Kühmelker!« Kaum war er mit dieser Geschichte zu Ende, als er zu weinen anfing.

Die Mena war einen Augenblick sprachlos. In dieser Bosheit also, gegen die er sich wehrlos fühlte, lag sein tiefster Lebenskummer. Und es war auch eine bitterliche Bosheit und wohl auch eine zielbewußte; denn schon die kleinen Menscherln, und noch viel mehr die großen, verfolgen und schmähen bekanntlich alles, was nicht in den Rahmen ihres Bildes vom Manne, in ihr »Mannsbild«, paßt.

Plötzlich fuhr der Jörgei ans Fenster. »Da ist sie!« Und die Mena war auch schon zur Tür hinaus und riß die Peinigerin an der Kittelfalte herein. Aber nicht etwa mit einer sanften Gewalt, sondern in einer Art Raserei; sie schwang ein Rechenjoch und schrie: »Ich schlag dich mausetot, wenn du meinen Bruder noch ein einziges Mal ausspottest.« Sie puffte ihre Gefangene hin und her. »Warum beschimpfst du ihn denn? – Ich reiß dir die Haare strähnenweise aus, wenn du dich noch einmal unterstehst! Gleich bittest du ihn um Verzeihung!«

Die Spötterin war sehr willig. Aber ihr Jammergeschrei hatte bereits das ganze Haus durchhallt; schlurfende Schritte ließen sich hören, und im Eingang erschien eine Gestalt, die zum Lachen gereizt hätte, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Das Knochengerippe, mit einem zehnmal geflickten Kittel bekleidet, schien sich in dem Bilde, das sich ihr bot, gleich zurechtzufinden. »Ein rechtes Muster!« sagte sie. »Immer zahnen und zahnen! Ist gut, wenn das Laster einmal ordentlich gerüffelt wird. Bist wohl die Schwester vom Jörgei? – Ja, im Anfang hat er den Kopf ein bißchen hängenlassen, aber jetzt hör ich ihn schon öfter singen oder pfeifen!«

In der Stube sah und hörte sie endlich die so gelobten Zeisige und Finken, das lebende Theater, das aber, da der Ofen nicht geheizt war, einen toten und verstaubten Eindruck machte. Die Kaffeeschale mit dem abgeschlagenen Henkel, der verbogene Löffel, die 124 große Ärmlichkeit im Gegensatz zum Haginghof machte sie betroffen. Und wie sie eine der Rohrnudeln mit Weinbeeren auseinanderbrach, lag in der blühweißen Bruchstelle tatsächlich eine selten große Weinbeere, die sich aber bei näherer Betrachtung als etwas anderes, ziemlich Schreckhaftes entpuppte: diese Beere hatte Füße, winzige Füße, und war zweifellos noch gestern fröhlich und munter in den Ritzen des theatergekrönten Kachelofens herumspaziert. Die Mena wünschte, daß sie allein diese Beere gesehen hätte, aber der Jörgei, der in einemfort beglückt zu ihr aufsah, hatte feine Augen: er brach unvermutet in ein starkes Gelächter aus. Wohl erklärte sie glaubhaft, daß er über die Aburteilung seiner Verfolgerin ganz übermütig geworden wäre, aber wie sie die gefährliche Rohrnudelhälfte geschickt in ihren Korb praktizierte und vernehmlich aufatmete, brach er neuerlich in Lachen aus, und er konnte sich gar nicht zurückhalten, als die gute Meisterin ihr den Teller mit den Wuchteln unter die Nase schob und bat zuzugreifen. Sie redete dabei unaufhörlich, und bei der Schilderung der wunderbaren Eigenschaft ihrer beiden Milchkühe kam sie vom Hundertsten ins Tausendste. Eine davon war eine Abnormität, hatte nur zwei Zitzen, war um den billigsten Kaufpreis erstanden worden und gab vierzehn Liter Milch, wie sie behauptete.

Die Mena hielt indessen die zweite Rohrnudel in der Hand, zögerte aber mit einer Miene, gemischt aus Spannung und Angst, und der Bruder hielt seine Augen auf sie gerichtet. Als aber wiederum eine »Weinbeere« drinlag, und die Mena, in einem Anfall verzweifelten Humors, schaudernd ausrief: »Habt ihr aber große Weinbeeren!« brach er abermals in ein närrisches Gelächter aus. Die Mena lachte mit, fuhr ihm durch seinen Wuschelkopf und behauptete, die Szene mit der Spötterin lasse ihn nicht mehr los.

Die Rechenmacherin wackelte fröhlich mit dem Kopf über so viel lustige Jugend, und meinte, der Jörgei hätte die ganze Zeit über nicht so viel gelacht, als in dieser einen Stunde. Das Lob ihrer Kochkunst schien sie ungemein zu freuen, so daß sie beim Abschied versicherte: »Wenn du mir vor dem nächsten Besuch eine Botschaft sendest, back ich eine Pfann mit Rohrnudeln und such die allergrößten Weinbeeren aus.«

Die Mena war froh, als sie endlich außer Hörweite mit dem Bruder zwischen den Wiesen hinmarschierte. Jetzt brach die Lachlust 125 ganz hemmungslos hervor, sie bogen sich vor Lachen, und diese Heiterkeit begleitete sie noch eine ziemliche Strecke, bis sie zu einem Bachtümpel kamen, mit einer Schar Enten. Hier verfütterte die Mena die Nudelbrocken und gab dem Bruder die Hand. »Jörgei!« sagte sie. »Tapfer aushalten! Wenn du einmal ein tüchtiger Rechenmacher geworden bist und ich eine Bäuerin, dann bestell ich gleich ein Dutzend Rechen bei dir!«

Befriedigt schritt sie aus. Ihr war, als ob das Lerchengetriller, das Gezwitscher der Rotkehlchen, das tiefe Brummen und Summen der Insekten eine besondere Lust ausströmten. Ab und zu tauchten Gehöfte auf, weiße Häuschen, einem Spielzeug nicht unähnlich, blinkende Wasserläufe, dunkle Gehölzinseln, eine Postkutsche, von einer weißen Staubwolke getragen.

Aber als sie sich dem Anwesen näherte, wo das Brigei untergebracht worden war, fing ihr Herz wiederum ängstlich zu schlagen an. Sie war immer die Schwächste gewesen, die Soph ausgenommen, und der Ähnl hatte sie nie anders als »der kleine Zweck« genannt. Ihre Befürchtungen schienen nicht unbegründet: es war eine erbarmungswürdige Frette. Zerzauste Hühner liefen aufgeregt hin und her, und auf dem Anger weideten rippendürre Ziegen. Durch die offene Stalltür sah sie ein paar magere Kühe, und bei einer derselben hockte eine kleine Melkerin, ein weißes Tuch um den Kopf gebunden: das Brigei . . . Die Mena war über das arme Häuflein Mensch gerührt. Und auch der Melkerin fiel fast der Eimer aus den Händen, als sie sich umwandte: »Nein, aber nein! Bist du's wirklich?«

Die Schwestern sahen sich mit einem festen Blick an; das Brigei tat, als ob es sich unversehens mit dem Schürzenzipf übers Gesicht wischte, aber in Wirklichkeit rollten ihr die Tränen über die Backen. Und dann kam Leben in sie: der Bauer und die Bäuerin wären auf dem Viehmarkt und sie allein zu Hause. Sie zeigte der Mena die Räumlichkeiten und zuletzt ihre Schlafstätte, in einer Kammer, mit altem Ochsengeschirr und Werkzeug: ein wackeliges Holzbett, ein Kleiesack und ein Pferdekotzen. Die Mena packte ihre Gaben aus, aber die Schwester versteckte alles schnellstens. »Wenn die Bäuerin sieht, daß ich etwas Eßbares bekommen hab, krieg ich überhaupt nichts mehr in die Schüssel.« Sie suchte ein paar gröppische Schuhe hervor und zwang sie an die nackten Füße; einer davon hatte ein 126 talergroßes Loch in der Sohle. Dann ließ sie es sich nicht nehmen, die Mena eine Strecke zu begleiten. Sie gingen einen Fußweg hin, der einen Bach entlangführte. Die Mena war bedrückt; sie fühlte die ganze Armut und Verlassenheit der Schwester und daß gerade sie einen solchen Hungerplatz hatte erwischen müssen. Wie sie sich ihr elendes Bett vorstellte, brach sie unvermittelt in Schluchzen aus. »Gott, was wir unglücklich sind!« sagte sie.

Das Brigei stand in höchster Verwunderung. Sie betrachtete stumm ihre weinende Schwester und rief dann: »Was röhrst du denn, Mena-Dirndl?« Sie holte einen steinharten Zelten aus ihrem Kittelsack, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf und biß mit ihren jungen Zähnen kräftig hinein. »Wegen meinem schlechten Bett? – Oh, mein Gott und Herr, das wird oft eine ganze Woch nicht aufgebettet. Aber ich mach mir nichts draus. Jeden Abend hops ich lustig hinein und sing:

Hinein in die alt Gruben,
Kein neue ist nicht baut wurden . . .«

Sie sprang die Böschung hinab, suchte etwas, kam zurück, riß den Schuh vom Fuß und drückte einen flachen Stein, den das Wasser in jahrhundertelanger Arbeit glatt poliert, so ins Leder, daß er das böse Loch in einwandfreier Weise ausfüllte. »Juhu!« rief sie, probierte aufzutreten und machte einen Luftsprung. Die Mena mußte unter Tränen lachen. Die Schwester geriet ob dieser Wirkung immer mehr in Übermut. »Warum denn röhren?« rief sie. »Mir geht's doch nicht schlecht. Erstens will ich hier bleiben, um mein Jahr voll zu haben, und dann, wenn ich das ausgehalten hab, kann's mir in der Zukunft nur besser gehn, weil's schlechter gar nicht mehr möglich ist. Und heimlich lach ich im Bett über die beiden Pfennigfuchser, die sich ein richtiges Bauerngut erhungern wollen, so viel, daß ich mir den Tuchentzipf in den Mund stecken muß.« Sie erzählte unglaubliche Beispiele hartnäckigen Sparens und Geizens, worüber beide immer wieder in ein fröhliches Gelächter ausbrachen. Man sollte im Winter die Kastentür nicht aufmachen, da ging es kalt heraus, sollte nicht herumlaufen, das kühle die Stube aus, man sollte Kaffeeabsud, alte Tüten, Zeitungspapier und Gottweißwas den Ziegen verfüttern. Abends, beim Licht eines Ölstocks, ermunterten die 127 Eheleute sich gegenseitig, um Gottes willen ja jeden Groschen zehnmal umzudrehen, bevor man ihn ausgäbe. Sie wurden von den Leuten der »Geiz-Medard« und die »Geiz-Medardin« genannt, während sie selbst das »Geiz-Medard-Brigei« hieß.

Daran knüpfte die Mena ihr eigenes Erlebnis vom Haginghof, und daß die Leute sie das »Haginger-Ruschl« hießen. Sie lachten, wurden dann aber wieder ernst. »Betest du auch manchmal für Vater und Mutter?« fragte die Mena. Die Schwester sah der anderen mit einem ernsten Blick in die Augen. »Freilich«, sagte sie »manchmal packt mich schon auch der Kummer, wenn ich so zurückdenk! Aber wenn er ganz in die Höh will und mich drangsaliert, druck ich ihn ein für allemal fest hinab.«

Darüber mußte die Mena lachen und sagte: »Behüt dich Gott, Geiz-Medard-Brigei!«

»Behüt dich auch Gott, Haginghofer-Ruschl!« gab diese lachend zurück.

Solange die beiden Schwestern sich sehen konnten, winkten sie sich zu, und als sie sich außer Sicht bekommen und die Mena sich nochmals umblickte, bemerkte sie auf dem Dache eines Heustadels ein hüpfendes Ding und ein wehendes rotes Fähnchen: das war das Brigei und sein Kittel.

Aber die Mena durfte nicht säumen; die Lena wollte sie unbedingt noch besuchen und auch den Ähnl. Für den Naz und den Gang reichte es nicht mehr, und auch die Soph war zu weit auswärts. Als sie vor einem besonders schönen Anwesen, halb Bauernhof, halb Försterhaus, stand, mußte sie lächeln: Wie hätte da hinein das Geiz-Medard-Brigei gepaßt? – Sie begriff, warum die kinderlosen Hofbauersleute sich gerade die »schöne Lena« ausgewählt hatten. In der Stube war es so fein, und im ersten Augenblick erkannte sie die Schwester nicht, so schön war sie geworden und so reich war sie ausstaffiert. Sie hatte einen hellblauen Rührkübel zwischen den Knien und butterte drauflos. Und auch die Lena ihrerseits betrachtete die sie besuchende Schwester mit einem Blick, der etwas Kaltes an sich hatte. Die Augen der Bäuerin folgten ihrer Ziehtochter mit Wohlgefallen, und als diese auf eine Minute hinausging, sagte sie: »Es ist schon vorgekommen, daß eine solche, die sonst ihr Leben als eine Stallmagd hätte beschließen müssen, eine feine Dame geworden ist. Das gibt's! Schönheit ist rar und wird gesucht.« Tatsächlich 128 war ihr Gesicht von einer seltenen Regelmäßigkeit, der Mund prächtig gemodelt, die braunen Augen voll Seligkeit, die Wangen von einer Rundung und Frische wie die Pfirsiche in der Reifezeit. Begreiflich, daß am Sonntag, wie die Bäuerin versicherte, öfter die Kirchenbesucher stehenblieben, ganz außer sich über dies leibhaftige Menschenwunder.

Die Mena dachte bei ihrem Weitermarsch: Ich wünsch ihr alles Glück. Meiner Hilfe wird sie jedenfalls nicht bedürfen. Aber was ist das nur, was mich an ihr so erschreckt hat? – Ist das Stolz oder Hochmut oder was?

Es ging schon gegen Abend, als sie auf das kleine Haus zusteuerte, das, unweit von Ellenhub, auf einer Kuppe lag. Es paradierte fein in der Landschaft, flankiert von vier pyramidenförmigen Zederbäumen, während links und rechts vom Haustor die zunderroten Blüten zweier Oleanderbäume in der sinkenden Sonne leuchteten. Menas Herz schlug laut, als sie sich auf dem Wiesenweg näherte. Der Ähnl saß auf der Hausbank und rauchte seine Pfeife. »Grüß Euch Gott, Ähnl«, sagte sie.

Er lachte und führte seine Enkelin fuchsmunter in die Stube. Hier schlappte er in seinen Pantoffeln vom Schüsselkorb zum Ofen und wieder zurück, und tischte Kaffee auf, während die Mena ihre Erlebnisse und Bitternisse, unter den fremden Leuten, und die ihrer Geschwister erzählte. Er fuhr ihr streichelnd über die Hand. »Bist ein armes Waisenkindel!« sagte er. »Aber der Herrgott wird dir und den Geschwistern schon durchhelfen. Habt ja einen guten Kern in euch: von Ellenhub! Und du bist schon eine ganz echte. Und ein schönes Dirndl bist du auch geworden! Sapperlot, fast so hübsch wie deine Ähnl! Könnt leicht sein, daß ich mich in dich verlieben tät, wenn ich jung wär!« Er wies auf zwei kleine Ölbilder an der Wand, in einem Rahmen aus winzigen Muscheln und Schneckenhäuschen: in dem einen Feld der Ähnl, als junger Mann, in einer altertümlichen Fuhrmannstracht, in dem andern ein Mädchenporträt von südländischer Schönheit.

»Aber«, rief die Mena aus, »das ist ja eine blutjunge Dirn, und die Ähnl muß doch alt sein.«

Darüber brach der Ähnl in ein herzliches Gelächter aus.

Die Mena konnte die beiden Bilder nicht genug betrachten; sie hatte eine Empfindung, als ob sie in einen Abgrund von 129 Geheimnissen blickte. Es war ihr wie eine Offenbarung, daß auch der Ähnl und die Ähnl jung gewesen, wie sie, schön und jung und glücklich, und daß beide alles Glück und auch alle Leiden und Kümmernisse des Lebens durchgemacht hatten. Der Ähnl wurde inzwischen immer ausgelassener. »Ja«, rief er, »die Ähnl, die hat es nun auch schon lange hinter sich, das Leben, und bald hab's auch ich hinter mir: drum pfeif und sing ich auch den ganzen Tag.« Dann gab er ihr einen neuen Silbergulden. »Nach Jahr und Tag«, sagte er, »werd ich dich fragen, ob du ihn noch hast, und wenn du ihn noch hast, leg ich dir drei funkelnagelneue dazu.«

Beim Abschied meinte sie: »Du hast's still da heroben.«

»Die heilige Ruh«, sagte er, »ist das beste in der Welt. ›Du sollst keinen Lärm machen‹, das tät ich als das elfte Gebot ansetzen.«

Die Mena wanderte heimwärts. Bald sah sie jenseits des Tales den Wald, wo der Haginghof lag. Bei einem Bildstock, mit einem schattigen Baum, machte sie halt, zog die neuen Schuhe aus, die sie etwas drückten, und verweilte bei den Erlebnissen des Tages. Am meisten wunderte sie sich über des Ähnls Heiterkeit. Ihre stärkste Liebe blieb beim Brigei und Jörgei. Sie bereute, so oft mit ihrem Dienstplatz unzufrieden gewesen zu sein. Auf dem Haginghof umgab freilich Menschen und Dinge eine merkwürdig kühle Luft, und die Haginghoferin hatte die ganze Zeit über nicht so viel geredet, als die Rechenmacherin in der einen Stunde. Aber bei armen Leuten dienen war noch schwerer als bei den Reichen. Wer selber nichts hat, muß den andern besonders drücken, damit er sich einigermaßen oben hält, und der Geizhals gibt immer noch mehr als der Bettler.

Plötzlich erschrak sie: Ich bin ja ganz unversehens bei Paul vorbeimarschiert! Nein, so gedankenlos! Die ganze Zeit über hatte sie in der entgegengesetzten Richtung etwas zu schauen und zu gaffen gehabt. Aber zum Umkehren war keine Zeit mehr. Sie hing sich die Schuhe über den Arm und schritt rasch aus, um noch vor Einbruch der Dunkelheit heimzukommen. Das Barfußgehen erinnerte sie an ihre Kinderzeit, wo regelmäßig, gegen Ende April, an einem der ersten sonnigen Tage, der Ruf: barfuß gehen! erschollen war. Wie alle im Nu auf der Bank, auf dem Fußboden gesessen, gierig Schuhe und Strümpfe von den Füßen gerissen, und wie der einen von ihnen dieser Jubel stets vergällt worden war: der Soph, die noch vierzehn 130 Tag hatte warten müssen. – Es ist wahr, dachte sie, gut geht es ihnen nicht, aber leben tun sie! Sonne, Licht, Nahrung, ein Trunk, wenn es sie dürstet, ein Schatten, wenn sie Hitze leiden, das alles mangelt ihnen nicht. Und sie sind ebenso traurig und ebenso fröhlich, wie es dem Herrgott beliebt, sie traurig und fröhlich zu machen. Die Tage zogen vorüber, wo eins nach dem andern fortgemußt, wo ein bitterer Schmerz insgeheim jedes durchzuckt, dann aber das Leben das Gleichgewicht hergestellt und die Wunde rasch verheilt hatte. Ein Kraft- und Wohlgefühl durchströmte sie bei diesem Gedanken. Es war ihr, als sähe sie rosenrote Brünnlein über Gestein und Mooswiesen laufen, als hörte sie diese Brünnlein geheimnisvolle Worte raunen, die sie zwar nicht begriff, die aber ihr Herz erschauern ließen: Du wanderst heut in ein neues Leben hinein, in ein neues Land, das du ganz unbewußt entdeckt hast und das nichts anderes ist als dein Eigenland, dein Selbst, das höchste Gut jedes Menschen. 131

 


 << zurück weiter >>